Schleierhaft oder sonnenklar?

Wenn meinen Mann etwas ärgert, kann er (fast immer) trotzdem gelassen agieren und reagieren – als wäre er unbeteiligt. Für ihn haben Ursache und Wirkung zwar miteinander zu tun, liegen aber nicht nahe beieinander. Wie er das schafft, ist mir schleierhaft!

Wenn mich etwas ärgert, agiere und reagiere ich selten gelassen, sondern meist verärgert – ich bin mitten drin. Ursache und Wirkung liegen nahe beieinander. Ich kann beide erst nach einer Weile voneinander trennen. Was ich dafür tun kann, ist mir sonnenklar: Ich laufe eine Runde.

Verdrängen oder abgeben

„In der Angst rief ich den Herrn an; und der Herr erhörte mich und tröstete mich.“
Psalm 118, 5

„Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen verdrängen und abgeben?“, fragt mich meine Freundin: „In beiden Fällen ist etwas weg.“ Spontan denke ich: Beim Verdrängen sind meine Augen geschlossen, beim Abgeben geöffnet. Aber ist das alles?

Dieselbe Freundin hat Brustkrebs; seit März ist sie in Behandlung – Chemo, Nebenwirkungen, Bestrahlung. Wir treffen uns fast wöchentlich zum Reden und Beten. Wir könnten den Gedanken daran verdrängen, dass sie sterben kann. Die damit verbundenen Gefühle wie Angst und Unsicherheit wären aber weiterhin da: Auch wenn wir sie ignorieren, bleiben sie machtvoll. Unterschwellig würden sie bestimmen, wie es meiner Freundin innerlich geht, wie sie denkt und handelt.

Tatsächlich sprechen wir über den Gedanken, dass sie sterben kann. Die damit verbundenen Gefühle wie Angst und Unsicherheit ignorieren wir nicht, sondern geben sie an Gott ab. Auf wundersame Weise verlieren sie an Kraft: Stattdessen schenkt Gott Frieden und Vertrauen. Diese bestimmen, wie es meiner Freundin innerlich geht, wie sie denkt und handelt.

Linientreu oder Voltaire?

Die Tochter meiner Freundin geht zur Berufsschule. Ein Lehrer fragte dort kürzlich (während des Unterrichts) den Impfstatus ab. Er sprach von einem `sensiblen´ Thema – und forderte dennoch nur die (vier) Ungeimpften auf, ihre Entscheidung zu begründen.

Eine Lehrerin meines Sohnes bezeichnet (während des Unterrichts) die nicht geimpften Schüler als `verantwortungslos´.

Die empfohlenen Maskenpausen (während des Unterrichts) werden an der Schule meiner Kinder nur von wenigen Lehrern erlaubt.

Mitschüler fordern sich (während des Unterrichts) gegenseitig dazu auf, ihre Maske `ordentlich´ über die Nase zu ziehen – es heiße schließlich Mund-Nasen-Schutz.

Meinungsäußerungen sind nicht verboten, ich weiß. Ist es aber momentan ebenso möglich, als Lehrer oder Schüler (während des Unterrichts) andere Ansichten zu äußern? Interessante Diskussionsansätze könnten sein:

`Geimpfte sollten sich ebenso testen wie Ungeimpfte, weil sie ebenfalls infiziert und Überträger sein können.´
`Offiziell haben wir keine Impfpflicht. Aber der inoffiziell gefühlte Impfzwang – ausgelöst durch die Berichterstattung, die Maßnahmen und den Rechtfertigungsdruck – passt nicht zu einer demokratischen Gesellschaft.´
`Ich halte es für bedenklich/angebracht, die weitergehenden Einschränkungen der Grundrechte mit einer zu geringen Impfquote zu rechtfertigen.´

Ich habe den Eindruck, mittlerweile gilt: Wenn man linientreu ist, darf man alles (sagen). Unangepasst wäre es, wir hielten es mit Voltaire: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“
Voltaire (1694-1778)

Unser Auftrag

„Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“
1. Korinther 4, 7

Ich habe einen Schreibauftrag, der umfangreich ist und zu Beginn unübersichtlich; ich fühle mich überfordert und beschäftige mich gedanklich viel damit – vor allem nachts. Allerdings sind meine Tage voll mit Haushalt, Einkaufen, Vorlesen, Hausaufgaben. Dadurch kann ich mit dem Schreiben nicht sofort anfangen. Zwar ärgert und vor allem stresst mich das innerlich; aber ich kann schlecht aus meiner Haut: Wenn viel praktisch zu tun ist, kann ich leider nicht kreativ arbeiten. 

So vergehen zwei Tage, an denen ich hinsichtlich des Auftrages nur meine Gedanken sammle, aufschreibe und Material ordne: Ich gehe `schwanger´ mit meinem Projekt, mehr passiert nicht. Trotzdem lässt der innere Stress nach – wieso? Mir wird bewusst, dass ich nicht allein zuständig bin; es hängt wenig von mir und viel von Gott ab. Er sorgt für alles, was ich brauche – meine Gaben und die äußeren Umstände: Ich liebe es zu schreiben, habe ein Gefühl für Sprache, lege Wert auf verständlich gesetzte Worte und feile gern an Formulierungen. Bei vergangenen Aufträgen war ich bisher immer rechtzeitig inspiriert, hatte genug Zeit und konnte konzentriert arbeiten. Ich vertraue darauf, dass Gott auch diesmal alles Nötige zur Verfügung stellt.

Springkraut

Ich kenne mich mit Pflanzen nicht sehr gut aus, nur wenige kann ich benennen. Das Springkraut gehört dazu; es ist mir nicht nur ein Begriff, uns verbindet gemeinsame Geschichte: Ich verbrachte Teile vieler Sommerferien bei meinen Omas. Sie wohnten nur 300 Meter voneinander entfernt und direkt an einem Friedhof. Dahinter lag (und liegt noch immer) ein Park. Dort wuchs (und wächst sicher noch immer) eine Menge Springkraut. Die reifen Früchte dieser Pflanze platzen bei Berührung auf – so verteilen sich die Samen. Ist die Frucht sehr reif, genügt ein Windhauch; bei den weniger reifen half ich gern nach. Die Samen flogen dann weit durch die Gegend. 

Das Springkraut ist nicht besonders schön und bei Freunden der einheimischen Flora nicht beliebt; manche bekämpfen es auch. Für mich spielt das alles keine Rolle: Mich lässt der Anblick von Springkraut an meine Omas und an diese zweckfreien Spaziergänge in meiner alten Heimat denken. Noch heute helfe ich gern nach, die Früchte zum Aufplatzen zu bringen.

„Heimat ist nicht da oder dort. Heimat ist in dir drinnen oder nirgends“, soll Hermann Hesse gesagt haben. „Da ist etwas dran“, sage ich.

Ich weiß – fast nichts

„So viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“
Jesaja 55, 9

Dieses Jahr ist ein gutes Pilzjahr, habe ich mir sagen lassen und sehe es auch selbst auf meiner Runde durch die Feldmark. Aus einem Fach-Artikel weiß ich, dass wir den Begriff `Pilz´ eher falsch verwenden: Was ich (und die meisten) damit meine, ist `nur´ der Fruchtkörper. Darunter/dahinter verbirgt sich viel mehr. In dem Artikel steht auch, dass Pilze weder Pflanzen noch Tiere sind und noch viel mehr – wovon ich fast nichts weiß.

In unserer Siedlung kenne ich mich aus: Der Straßenverlauf und die Häuser sind mir vertraut; oft kenne ich die Bewohner vom Sehen. Allerdings betrifft das nur die Fassade sowohl der Häuser als auch der Menschen. Hinter den Haustüren verbergen sich Lebenskonzepte, hinter den Gesichtern der Leute Erfahrungen, Gedanken und Gefühle – von denen ich fast nichts weiß.

Vor einigen Wochen war ich im Bodensee schwimmen. Das Wasser war kühl, die Luft warm. Nur ein paar Meter vom Ufer entfernt konnte ich unter mir nichts mehr erkennen. Der Bodensee ist teilweise sehr tief und bewohnt von Pflanzen und Tieren. Ich erinnere mich an das erfrischende Gefühl und die leichten Wellen; aber von dem, was sich im See befindet und abspielt, weiß ich fast nichts.

Ich gehe mit offenen Augen und Ohren durch mein Leben und denke über viele Dinge nach. In der Mitte meines Lebens habe ich eine gewisse Lebenserfahrung, mühe mich, andere zu verstehen, und hinterfrage häufig meine eigene Motivation. Dennoch reagiere ich für mich selbst befremdlich, wenn ich (vielleicht vermeintlich) starken Personen begegne: Von dem, was mich im Innersten herausfordert (und warum), weiß ich (leider noch immer) fast nichts. 

„Haltet euch nicht selbst für klug.“
Römer 12, 16b

Schild(bürg)er-Streich

Durch unsere Felder und Wiesen verläuft eine schmale asphaltierte Straße. Sie wird vor allem von Fahrradfahrern und Fußgängern genutzt – manchmal auch von einem Bauern auf seinem Trecker. Autos fahren nur selten, denn hier wohnen nur wenige Menschen; und eine echte `Durchfahrt´ ist aufgrund einer Sperre nicht möglich. Einige Feldwege kreuzen, aber es ist weder unübersichtlich noch gefährlich: Der sehr überschaubare Verkehr regelt sich bisher durch gegenseitige Rücksichtnahme aller Beteiligten.

Vor einigen Tagen wurden mehrere Straßenschilder installiert; in Zukunft regeln sie den Verkehr. Wie gesagt: Es geht um Wege, die abseits `normaler´ Straßen liegen und weder unübersichtlich noch gefährlich sind. Ich nehme diese Aktion beim Spazierengehen mit ratlosem Kopfschütteln zur Kenntnis – und halte sie für völlig Sinn-frei, wenn nicht sogar für unglücklich: Wo sonst können Bürger im öffentlichen Raum noch üben, frei von starren Vorgaben miteinander zurechtzukommen – flexibel, freundlich und rücksichtsvoll?

Eine Seite und eine andere

Lieferdienste sind modern und beliebt oder neumodisch und verhasst – je nachdem, wie man sie betrachtet. Einerseits garantieren sie einen bestimmten Standard: hohes Liefertempo, breites Sortiment, günstige Preise, 24/7-Bestellmöglichkeit. Dadurch erleichtern sie die Selbstversorgung für Leute, die nicht mehr so gut zu Fuß sind. Auch Menschen, die es permanent eilig haben oder zu faul sind, selbst einkaufen zu gehen, nutzen diesen Service und finden ihn praktisch. Auf dieser (einen) Seite sind Lieferdienste also eine super Sache.

Andererseits sorgen Lieferdienste für: unvorteilhafte Arbeitsbedingungen für die Angestellten (ständiger Zeitdruck, anspruchsvolle Kunden, mittelprächtige Bezahlung), sterbende Tante Emma-Läden und angemietete Ladenzeilen, die als innenstadtnahe Lager dienen und das Stadtbild verschandeln. Auf dieser (anderen) Seite sind Lieferdienste also nicht so eine super Sache.

Von außen und von innen

Am Wegesrand steht ein Pilz; sein Stiel ist lang, der Schirm schmal: wie zugeklappt. Zwei Tage später ist derselbe Pilz noch immer da, aber anders; sein Schirm ist ausgebreitet: wie aufgeklappt. Wasser und Nährstoffe bewirken dieses Wachstum – von innen heraus. Es ist zwecklos (wenn nicht unmöglich), diesen Vorgang von außen beschleunigen zu wollen. Am Schirm geht etwas kaputt, wenn man ihn mit den Händen `entfalten´ möchte.

Ich denke an (ungefragte, oft wiederholte, aber grundsätzlich gut gemeinte) elterliche Ratschläge: `Esst weniger Zucker, treibt mehr Sport, trefft euch lieber analog oder lest ein Buch…´ Ich kann von außen auf sie einreden und es wird nicht viel passieren. Mittlerweile erlebe ich, dass die Kinder früher oder später selbst auf manch schlaue Idee kommen – aber erst, wenn sie selbst soweit sind. Vorher bewirkt zu viel Einmischung genervtes Augenverdrehen, Ohren `auf Durchzug´ und inneren Rückzug. Am Respekt der Kinder für die Eltern geht etwas kaputt, wenn letztere ein bestimmtes Verhalten erreichen wollen.

Mit zunehmendem Alter stecken in Kindern genug Ressourcen, um mündig zu entscheiden. Manche davon haben sie von uns: Wasser und Nährstoffe in Form von Erziehung und gelebtem Vorbild. Was sie daraus machen und wann, ist ihre Sache, aber oft wunderbar anzuschauen. Früher oder später entfalten sie (scheinbar) ganz allein ihr eigenes Lebenskonzept – von innen heraus. Alles hat seine Zeit.

Frage und Antwort (2)

In der Begegnung mit Prominenten, Politikern oder anderen Berühmtheiten meines Alters zischt mir die Frage durch den Kopf: „Warum ist der (oder die) Bundestagsabgeordneter, Vorstandsvorsitzende, berühmter Schauspieler oder Koryphäe auf seinem Wissensgebiet – und ich nicht?“

Ich finde keine Antwort – weder spontan noch nach längerer Überlegung; es hätte ebensogut mich `treffen´ können, eine ganz andere (beziehungsweise überhaupt eine bemerkenswerte) Laufbahn einzuschlagen. Stattdessen überlege ich: „Bin ich glücklich mit dem, was ich habe und bin?“ Solange ich diese Frage mit einem `Ja´ beantworte – wie zaghaft auch immer –, ist die andere Antwort nicht so wichtig.