Statistisch

Ich erhalte einen Anruf von einem freundlichen jungen Mann: Meine Telefonnummer wurde von einem Computer generiert, sagt er und fragt, ob ich an einer Befragung teilnehmen würde. Ich stimme zu.

Elf Minuten später sind wir fertig. Es ging um Gesundheit, mein Wahlverhalten und in einem großen Teil um meinen Konsum von Koffein beziehungsweise Tabak. Ich war abwechselnd amüsiert und irritiert; mein Gesprächspartner blieb ernsthaft bei der Sache – sachlich und zielgerichtet.

Ob er das hauptberuflich mache, frage ich ihn. „Ja.“ Fast wäre mir „Sie Armer!“ rausgerutscht. Ich rede manchmal davon, dass irgendetwas statistisch so und so ist; ich denke nie darüber nach, wie statistische Daten zustandekommen. Jetzt weiß ich es. Dafür braucht es Menschen, die klar kommunizieren, innerlich unbeteiligt die merkwürdigsten Fragen stellen, zielgerichtet und nicht gelangweilt klingen – und emotionslos auf das Gelächter ihrer Probanden reagieren. Für mich wäre das nichts. Ich frage mich, wie viele Menschen – statistisch gesehen – für so einen Job in Frage kommen. DAS hat wahrscheinlich noch nie jemand untersucht …

Wie praktisch!

Gerade heute habe ich mich neu in unser Auto verliebt – Hals über Kopf und völlig unerwartet. In den knapp sechs Jahren, seit wir dieses Auto fahren, hatte ich einiges auszusetzen: eingeschränkte Sicht im Rückspiegel, ab 140 Stundenkilometer ziemlich laut, in der Regel teure Reparaturen, eine Klima-Anlage, von der eigentlich nur die beiden vorn Sitzenden etwas haben … Jetzt will unser Sohn mit zwei Freunden zusammen ziehen und braucht einen Transporter: Vom Volumen her ist unser Wagen genau richtig – nur die Rückbänke sind im Weg. Ein Blick ins Handbuch, ein Anruf bei meinem Lieblings-Monteur und vier Handgriffe später ist es passiert: Unser Acht-Sitzer ist ein Zwei-Sitzer – und im Innenraum reichlich Platz für alles, was die drei jungen Männer transportieren müssen. Unschlagbar praktisch – ich liebe es! 

Was hilft?!

Ab und zu sehe ich eine Werbung, in der einer Frau am Tag alles mögliche misslingt: Sie sperrt sich aus, sie kommt zu spät zur Arbeit. Sie schreddert fälschlicherweise etwas, was sie noch gebraucht hätte, und findet ein Parkticket unter ihrer Windschutzscheibe, dann springt das Auto nicht an … Schließlich kommt sie nach Hause und geht ins Bett – und alles ist in Ordnung. Ihr Ärger, ihre Schwierigkeiten, alles, was nicht gelungen ist, fällt von ihr ab. Sie sieht zufrieden aus, verkriecht sich unter ihrer Bettdecke und schläft offensichtlich zufrieden ein.

Schön, wenn´s immer so leicht wär! Bei mir funktioniert das nicht auf Knopfdruck; manche meiner Missgeschicke und Schwierigkeiten nehme ich gedanklich mit ins Bett – auch wenn ich das nicht möchte. Abschalten ist kein Automatismus; manchmal bleibt vom Tag eine innere Unruhe in mir.

Es hilft, wenn ich meine Tage ruhiger takte – aber das geht nicht immer. Es hilft auch, wenn ich bete, dass Gott sich kümmert – aber das reicht nicht immer. Mein Verstand weiß, dass alles in Ordnung ist, nur mein Herz spürt es nicht. Manchmal nutzt alles nichts: Ich stehe wieder auf und mache irgendetwas: Texte korrigieren, Briefe schreiben, einen Film schauen, lesen … Das ändert natürlich nichts an der Ursache meiner Unruhe, hilft aber gegen das Symptom: Am nächsten Tag bin ich dann viel zu müde, mir sorgenvolle Gedanken zu machen.

Sieben Gedanken zur Wahrheit

1) Meine Wahrnehmung unterscheidet sich bisweilen von der eines anderen – in sich sind beide schlüssig. Existieren also mehrere Wahrheiten? 

2) Inwiefern ich mich traue, wahrhaftig zu sein, hängt davon ab, wie viel Wahrheit der andere aushält. Ob das gut ist oder nicht, sei dahingestellt.

3) Wenn ich – aus welchen Gründen auch immer – nicht die Wahrheit sage, nähere ich mich dann der Lüge?

4) `Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er die Wahrheit spricht´: wie wahr – und wie schade! Einmal zerstörtes Vertrauen ist nur sehr schwer wieder herzustellen, wenn überhaupt. Der Preis, den man für eine Lüge zahlen muss (Vertrauensverlust), ist meist höher, als der Nutzen, den man von derselben Lüge erwartet hatte.

5) Ein Experte ist jemand mit überdurchschnittlich umfangreichem Wissen auf einem Gebiet. Weiß ein Experte also immer, was wahr ist? Wenn ja: Wie wird man ein Experte?

6) `Lügen haben kurze Beine´ – stimmt wahrscheinlich, aber manchmal dauert es sehr, sehr lange, bis die Wahrheit rauskommt.

7) Ich möchte mich immer über die Wahrheit freuen – selbst wenn sie mir nicht gefällt.

Anteilnehmend

„Also ganz ehrlich: Beschissen!“ Mit solcher Offenheit hatte ich nicht gerechnet. Wir kennen uns kaum, diese ältere Frau, die ein paar Häuser weiter wohnt, und ich. Normalerweise begegnen wir uns – sie zu Fuß, ich mit dem Rad – und winken einander grüßend zu. Heute blieb ich stehen und fragte (verbal anteilnehmend): „Wie geht es Ihnen?“ Nach ihrer drastischen Antwort plätschert das Gespräch nicht so oberflächlich dahin, wie ich es vielleicht erwartet hatte. `Warum denn?´, schiebe ich hinterher, aber eigentlich ahne ich es: Sie lebt allein in einem großen Haus und hat – was ich so mitbekomme – nur wenige Kontakte. „Die Einsamkeit macht mir zu schaffen; ich werde damit nicht gut fertig. Meine Freunde sind älter als ich oder tot, die Kinder weit weg – und alle haben ihr Tun.“

Diese Einsamkeit hat mit den letzten zwei Jahren nichts zu tun, sie war vorher schon da. Wie gehe ich damit um, dass ich jetzt nicht ahne, sondern WEISS, wie es dieser älteren Frau aus der Nachbarschaft geht? Ich habe nachgefragt und eine ehrliche Antwort erhalten. Meinem Interesse werden Taten folgen: Entweder ich mache weiter wie bisher – und winke ihr grüßend zu – oder ich bemühe mich um mehr (in der Tat anteilnehmend).

Nichts dagegen?

In der DDR fuhren in meiner Kindheit und Jugend etwa fünf bis sechs verschiedene Autotypen über die Straßen: Trabant, Wartburg, Skoda, Dacia und Lada, vereinzelt auch einige Wolga. Wie ginge es uns heute mit einer derart begrenzten Auswahl – fünf verschiedene Typen und jeweils nur ein aktuelles Modell? Es gäbe nicht für jeden Geschmack etwas; die Auswahl fiele leichter.

Ich hätte nichts dagegen – vorausgesetzt, ein VW-Bulli wäre dabei.

Beides stimmt!

Gleich und gleich gesellt sich gern:

Mütter können sich gut in Mütter hineinversetzen. Hundebesitzer verstehen andere Hundebesitzer; Fußballfans treffen sich zum Public Viewing. Auf unseren Wandertouren lernen wir Menschen kennen, die auch gern wandern. Und Kulturinteressierte schätzen den Austausch mit anderen Kulturinteressierten.

Gegensätze ziehen sich an:

Kommunikative Menschen brauchen jemanden, der ihnen zuhört. Betriebsnudeln lösen Schnarchnasen aus ihrer Lethargie; und strukturierte Typen `erden´ denjenigen, der sich wie Hans Dampf gern in allen Gassen verrennt. Ein bisschen `verrückt´ tut vor allem dem gut, der unflexibel (und vorhersehbar) durchs Leben geht – und andersherum. 

Wie auch immer: Hauptsache, die `Chemie´ stimmt!

Eine Stimme haben

Ein Redner auf einer Demonstration spricht klare und kluge Worte. Ich bewundere das; ich hätte auch gern eine Stimme, die Gewicht hat und gehört wird. Aber ich kann nicht auf Demonstrationen vor vielen Menschen reden, stattdessen gehe ich regelmäßig allein durch unsere Innenstadt. Dabei bete ich für Versöhnung der verschiedenen Gruppierungen, die durch die Corona-Pandemie in unserem Land sichtbar geworden sind. Während ich das tue, komme ich mir rat- und machtlos vor: Ob mein Gebet überhaupt etwas bewirkt? 

Corona ist vielschichtig, das ganze Thema ist sehr komplex; es existiert nicht nur EINE richtige Sichtweise: Ein Arzt in einer Lungenklinik hat eine andere Meinung dazu als der Lehrer einer Grundschulklasse; wieder anders sieht es eine alleinerziehende Mutter (mit oder ohne Home Office-Möglichkeit) mit Kindern im Schul-Lockdown. Ich glaube an einen Gott, der alle Menschen mit ihren Perspektiven sieht und verstehen kann. Er weiß eine Lösung. Außerdem hat Gottes Stimme Kraft und Macht: Er spricht nur ein Wort – `und es geschah so´, steht da mehrmals in der Schöpfungsgeschichte und ich glaube, dass das heute noch stimmt. Vielleicht ist es also doch das Beste, was ich machen kann: durch die Stadt laufen und um Gottes Eingreifen beten.

Begleitet oder allein

Eine ältere Frau, die ich kenne, lebt allein und hat wenige Kontakte. Regelmäßig geht sie mit Hund und Rollator spazieren. Manchmal treffe ich sie, ab und zu gehen wir ein Stück gemeinsam. Letztens sah ich sie mit einer Frau, die sich als eine offiziell engagierte Begleiterin entpuppte. Ich sprach beide an und erkundigte mich bei meiner Bekannten, wie es ihr geht. Die Antwort war gewohnt langsam und kurz; sofort klinkte sich ihre Begleiterin engagiert ein. Sie redete schnell, fast ohne Punkt und Komma und übernahm dominant die Gesprächsführung. Leider war es mir dadurch fast unmöglich, ein paar Worte direkt mit meiner Bekannten zu wechseln.

Solch ein Begleitservice ist eine gute Sache: Menschen unterstützen ältere (und vielleicht einsame) Mitmenschen im Alltag und verbringen Zeit mit ihnen. Für diesen Dienst ist es gut, wenn man leicht ein Gespräch initiieren kann – und sich dabei auf denjenigen einlässt, dem man seine Zeit schenkt. `Reden ist Silber, Schweigen ist Gold´ enthält mindestens ein Körnchen Wahrheit. Ich wünsche meiner Bekannten jedenfalls, dass ihre Begleiterin sowohl redet als auch zuhört. Sonst würde ich mich schon während des begleiteten Spaziergangs darauf freuen, danach wieder allein zu sein – und meine Ruhe zu haben.

Fraktionszwang – nichts für mich?

Fraktionsdisziplin (oder: Fraktionszwang) nennt man es, wenn Mitglieder einer Partei einheitlich abstimmen. Das dient einer berechenbaren Beschlussfassung und soll stabilisierend wirken. Ich weiß nicht, ob es auch ohne ginge. In letzter Zeit habe ich mir die eine oder andere Bundestagsdebatte angesehen. Der jeweilige Redner wird mindestens von der eigenen Fraktion gefeiert – und beklatscht. Es scheint auch hierbei ein gewisser Fraktionszwang zu existieren. Das ist wahrscheinlich parteipolitisch klug und auf jeden Fall ermutigend für denjenigen, der vorn steht. Soweit kann ich das nachvollziehen.

Dabei ist es völlig egal, ob der Redner höfliche und respektvolle Worte wählt oder sich im Ton vergreift; geklatscht wird trotzdem. Soweit geht mein Verständnis nicht: Im persönlichen Miteinander und mehr noch auf Regierungsebene sollte es verbal weder polemisch noch verletzend zugehen. Wer andere beschimpft, disqualifiziert sich meiner Meinung für den konstruktiven Austausch – und ebenso für Zwischenapplaus. Ich würde mich bei manch verbalem Ausrutscher (auch eines Parteikollegen) eher fremd-schämen als Beifall zu zollen. Daran würde auch ein existierender Fraktionszwang nichts ändern. (Wahrscheinlich disqualifiziert mich das – unter anderem – für eine Karriere im Bundestag.)