Ein Mensch – zwei Rollen

Bei der Arbeit zählen vor allem meine Fähigkeiten. Ich bin emotional nicht für andere verantwortlich und entsprechend unabhängig. Am Ende gehe ich nach Hause und weiß: Im Notfall kann ein anderer meinen Job übernehmen.

Zu Hause ist vor allem meine Beziehungsfähigkeit gefragt, und die kennt keinen Feierabend. Was ungeklärt ist, kann manchmal auch bis morgen warten – aber irgendwann muss ich mich darum kümmern.

Wahrscheinlich bin ich überall ersetzbar. Aber privat ist es ungleich schwieriger als beruflich.

Ich komme auch ohne Auto klar!

Weil ich Freunde zum Flieger gebracht habe und auch wieder abholen werde, steht deren Auto in der Zwischenzeit bei uns vor der Tür. Wir dürfen es benutzen, aber ich komme auch ohne Auto klar. Heute Morgen kam der Herbst mit Macht – und Regen. Die beiden Schul`kinder´ konnten mit einem Freund zur Schule HINfahren; ZURÜCK braucht zumindest der Jüngere einen anderen Chauffeur. „Wie gut, dass wir das Auto hier haben“, hatte meine Tochter gesagt. Jaja.

Bis zur Schule komme ich ohne besondere Vorkommnisse. Mich wundert nur das leuchtende runde Zeichen im Armaturen-Display und die Tatsache, dass sich der Kleinwagen schwer lenken lässt. Mittags ist nicht viel los in der Kleinstadt, auf dem Parkplatz vor der Schule aber tanzt der Bär: täglich, vor allem bei Regen (also heute)? Ich weiß es nicht, ich bin hier normalerweise NIE. Es kostet mich zwei Anläufe und mühevolle Armbewegungen, in eine der wenigen schmalen Parkbuchten zu gelangen.

Leider kommt mein Sohn fast sofort; um mich herum hat sich die Auto-Enge noch überhaupt nicht gelichtet. Diesmal in einer Lenkbewegung, aber wieder mühevoll, setze ich zurück und fahre nach Hause. In den nächsten beiden Tagen mag es regnen oder schneien – völlig egal. Vor der Tür steht das Auto (sehr gut). Wir dürfen es benutzen, aber ich komme auch ohne Auto klar. Und für den Transfer vom Flieger nehme ich unseres: Bei dem funktioniert die Servolenkung einwandfrei!

Es war einmal … 

In einem kurzen Text erinnert sich jemand, wie es war, während der Corona-Pandemie einkaufen zu gehen: eine Einkaufswagenlänge Abstand zum Vordermann, Plexiglas-Scheiben vor dem Kassierer, Menschen, die mich super höflich vorlassen – um mir nicht zu nah zu kommen etc. Die Autorin denkt außerdem noch heute daran, dass man sich so lange die Hände waschen sollte, wie es dauert, Happy Birthday zu singen. Was in dem Artikel durchschimmert ist einerseits die Angst, die damals herrschte, und andererseits das Gefühl, dass Isolation zwar unangenehm, aber notwendig war.

Ich habe dasselbe erlebt, aber meine Erinnerung ist anders: Zum einen hatte ich keine reale Angst – weder, jemanden zu infizieren, noch, ihn anzustecken. Deshalb wehrte ich mich (wo und wie ich konnte) gegen die übervorsichtige Zurückhaltung, die von ganz oben verordnet und mit kollektiver Angst begründet wurde – fast so als wäre jede soziale Interaktion vor allem eins: nämlich gefährlich. Außerdem empfand ich das auf Abstand ausgerichtete Miteinander als eine große Verarmung, fast wie einen Angriff auf unser Mensch-Sein. 

Es war mir fremd, wie selbstverständlich gesunde, junge Menschen Plastikhandschuhe benutzten und sich ständig die Hände desinfizierten. Und Happy Birthday sang ich auch damals (wenn überhaupt) nur als ein Geburtstagsständchen. Am negativsten in Erinnerung sind mir kleine Kinder mit Maske. In Ausnahmefällen gab es sicherlich besondere Gründe dafür, beispielsweise eine sterbenskranke Uroma oder ein immungeschwächtes Geschwisterkind zu Hause. Dennoch versetzte der Anblick maskierter Kleinkinder  mir jedes Mal einen Stich: auch weil unser Kinderarzt mir erzählt hatte, Babys würden weniger fremdeln – und keine Gesichter mehr lesen können.

Ebenso wie die Autorin freue ich mich, dass die Zeit vorbei ist. Aber anders als sie erinnere ich mich nicht vorrangig an ein gemeinschaftliches Wir-müssen-da-durch-Gefühl. Für mich ist da mindestens ein schaler Beigeschmack nach alternativloser Panikmache und dem von vielen Medien und Politikern befeuerten Motto: Wer sich nicht kritiklos an die Regeln hält, gehört ausgeschlossen.

Jenseits und diesseits 

Ich habe eine Karte in meinen Vorräten, die ich gern verschicken würde. Darauf `redet´ ein (offenbar) älteres Huhn, über eine bestimmte Übung aus `Yoga für Senioren´. Diese verhindere nicht nur frühe Verkalkung, sagt es, sondern auch: „ein paar andere Sachen, die ich aber schon wieder vergessen habe.“ Natürlich bezieht sich der Spruch (sehr humorvoll) auf die Vergesslichkeit im Alter. Ich finde das witzig – schon jenseits der 50 erkenne ich mich wieder.

Während ich die Karte lese, fallen mir einige Leute ein, die älter sind als ich. Und sofort sehe ich das Dilemma: Gerade sie könnten die Karte durchaus als persönliche Anspielung und also miss-verstehen. Nicht jeder kann über etwas lachen, wovon er selbst betroffen ist. Was aber tun mit der Karte, die ich nicht böse meine, sondern einfach nur treffend und witzig finde? Die Rettung ist meine Nichte, die bald Geburtstag hat. Selbst wenn sie vergesslicher wäre als ich – diesseits der 30 ist sie ein sicherer Empfänger!

Wie der Autor – so die Figur

In einem Buch, das ich gerade gelesen habe, fährt die Protagonistin nach 15 Jahren wieder zurück in ihre alte Heimat. Die Stadt, die sie damals verlassen hatte, sieht anders aus: Aber sie findet sich grundsätzlich zurecht und vermisst `abblätternde Farbe´ und `verwahrloste Vorgärten´. Ich wundere mich und bewundere sie ob ihrer besonderen Erinnerungsgabe.

Bezüglich des Orientierungssinns spielt mein Mann in einer anderen Liga als ich, aber auch ich bin unterwegs nicht völlig verloren. Dennoch frage ich mich bisweilen: Hier soll ich schon einmal gewesen sein? Und bei Straßennamen bin ich sowieso raus.

Vor einigen Jahren besuchten wir alte Freunde von mir in Freising. 20 Jahre zuvor hatte ich dort vier Jahre lang studiert, gewohnt und mich gut ausgekannt. Jetzt war mir alles fremd:
der Markt, auf dem ich verkauft hatte – mindestens verkehrt herum positioniert;
der Weg zu meiner Studentenbude außerhalb – von Umgehungsstraßen durchkreuzt und ohne Navi oder Karte nicht zu finden;
die Stadt an sich – irgendwie ganz anders und fremd.

Vielleicht gehöre ich zu den fünf Prozent der Bevölkerung, die sich nur vage und lückenhaft an Orte erinnern. Vielleicht geht es aber auch mehr Menschen so wie mir, zumal gerade Städte sich heutzutage schnell verändern. Eins ist sicher: Eine Heimkehrerin aus meiner Feder würde sich nach 15 Jahren nie und nimmer zurechtfinden – von abblätternder Farbe oder verwahrlosten Vorgärten ganz zu schweigen.

Ein Fest

Nehmen wir an, jemand feiert ein Fest. Hinterher fragt man, wie es war – und bekommt drei völlig unterschiedlich Antworten:

Ein Gast fand es richtig gut,
für einen anderen waren es `nicht so ganz meine Leute´
und die Eltern der Gastgeberin sind / der Gastgeber ist froh, dass es vorbei ist.

Wir nahmen unsere 50sten Geburtstage zum Anlass, kein Fest zu feiern, sondern zu zweit auf Wanderreise zu gehen.

Hinterher waren wir beide richtig begeistert – und würden vier Jahre später am liebsten nochmal losziehen.

Berühmte Menschen

Als ich ein Kind war, spielte ich einige Sommer lang mit zwei Schwestern, die ihre Sommerferien in der Nähe meiner Oma bei einer alten Großtante verbrachten. Eine von ihnen war etwas jünger als ich, eine etwas älter. Danach trennten sich unsere Wege. Die beiden Frauen machten anders Karriere und sind Jahrzehnte später berühmter als ich. Wahrscheinlich haben sie unsere gemeinsamen Sommer vergessen, denke ich. Weil sie berühmt sind (und ich nicht), erscheint es mir unmöglich, jemals wieder Kontakt mit ihnen zu haben. Sie leben zwar weiterhin in Deutschland, aber wir teilen keine gemeinsamen Schnittmengen.

Fast 40 Jahre später tritt mein Bruder mit beiden Schwestern in Kontakt, sehr förmlich per Mail. „Was macht eigentlich Dagmar?“, kommt als prompte Antwort – unprätentiös und normal, als sei es logisch, dass man sich nach einer alten Spielfreundin erkundigt. Ich bin erstaunt; ich hatte nicht damit gerechnet. Stattdessen hatte ich den beiden Starallüren unterstellt, die sie im direkten Kontakt gar nicht zu haben scheinen. Hinter jeder Berühmtheit steckt ein Mensch. Und der war auch mal Kind und saß mit dir oder mir im Sandkasten – beziehungsweise (wie in unserem Fall) am Badesee. Vorurteile sind vielleicht seltener berechtigt, als wir so denken.

Ein Rätsel

Von unseren Nachbarn bekommen wir ihre ZEIT – immer eine Woche nach Erscheinen. Ich lese sie gern, aber selektiv. Um das berühmt-berüchtigte ZEIT-Rätsel machte ich bisher immer einen großen Bogen: Es soll so schwer sein. Mein Schwiegervater knobelt jede Woche daran herum – und hat ein viel umfassenderes Allgemeinwissen als ich.

Warum, weiß ich nicht, aber letzte Woche probierte ich es einfach mal aus. Einige Anläufe (etwa drei bis vier Stunden) später habe ich heute tatsächlich fast alles erraten, um die Ecke gedacht beziehungsweise im Netz recherchiert. Zwei Buchstaben eines Wortes am Rande fehlen mir. „Dann kannst du ja jetzt das nächste machen“, sagt mein Schwiegervater am Telefon. Mal sehen, denke ich, vielleicht war das ein absoluter Glücksfall.

Gerade brachte die Nachbarin die neue alte ZEIT. Das Rätsel ist schrecklich leer, denke ich; es ist frustrierend, wieder bei Null anfangen zu müssen. Ich schaue trotzdem rein und weiß sofort, wer Holz splittern und Datenschützer zittern lässt: Hacker natürlich, dafür reicht mein Allgemeinwissen – geradeaus und ohne Google. Vielleicht gibt´s ja einen zweiten Glücksfall; ich schau mal, wie weit ich komme.

Haustiere mit Stachel

Vor unserer Tür ist ein Wespennest direkt unterm Dach. Die Wespen fliegen hektisch drumherum, rein und raus. Das stört mich nicht wirklich – nur wenn sich doch eine oder zwei ins Haus verirren: zum Beispiel durchs Badezimmerfenster. Kürzlich umsurrten mich gleich zwei Wespen beim Zähneputzen; mein Mann blieb herausfordernd gelassen. Irgendwann hatten wir die beiden wieder nach draußen befördert – dort ist mir ihr hektisches Gesumme egal. Irgendwann im Herbst wird´s den Wespen zu kalt und sie werden ihr Nest verlassen: Bis dahin muss ich wohl noch mit gelegentlichen Besuchen unserer Haus-Wespen leben. 

Hauptsache großzügig

Mit meinem Nachbar rede ich über Gefälligkeiten beziehungsweise Freundschaftsdienste, die aus vielerlei Gründen buchstäblich unbezahlbar sind. Manchmal ist die einzige Möglichkeit, sich zu revanchieren, dem anderen ebenfalls einen Gefallen zu tun. „Da gibt´s dann eine großzügige Grillung, und dann passt das wieder“, sagt er. Ich horche seinen Worten hinterher. Mir gefällt diese neue Wortschöpfung: Du hilfst mir / leihst mir was – und ich vergüte das nicht monetär, sondern anders. Im Sommer mit einer Grillung, im Winter gibt´s vielleicht eine Kochung oder – je nach Geschmack – eine Backung … Ganz egal was, Hauptsache großzügig!