Im Wandel

Wir sind schon jetzt nur noch zu viert im Hause und unser einstmals wuseliges Familienleben ist ziemlich ruhig. Einerseits fehlt mir das Leben in der Bude, andererseits wäre ich auf Dauer vielleicht gar nicht mehr dafür gemacht. Mit zunehmendem Alter mag ich Pausen ganz gern; trotzdem hinke ich der familiären Veränderung emotional immer ein paar Wochen (oder Monate) hinterher. Insgesamt aber passt das leerer werdende Haus zu meinem wachsenden Bedürfnis nach Ruhe beziehungsweise Unabhängigkeit. Oder umgekehrt: Vielleicht wächst mein Bedürfnis nach Ruhe auch deshalb, weil das Haus leerer wird. Wäre es anders, würde ich auch damit klarkommen – wenn auch zeitversetzt.

Von Listen und Ideen

In einem Magazin lese ich, dass jemand ein Listen-Mensch ist. `Ich auch´, denke ich; ich mache auch gern Listen. Vor allem arbeite ich gern Listen ab: Es tut gut, etwas geschafft zu haben und dann streichen zu können von der To-do-Liste. Logischerweise sind die Aufgaben auf meinen Listen unterschiedlich schwierig beziehungsweise zeitaufwendig, so dass ich nie chronologisch vorgehe. Stattdessen erledige ich zunächst die Dinge, die sich leicht oder schnell abarbeiten lassen oder die unbedingt dran sind. Folglich bleiben immer ein paar Dinge stehen und die übertrage ich regelmäßig auf eine neue Liste, wenn die alte zu unübersichtlich geworden ist. 

Auf meiner aktuellen Liste stehen zwei Dinge schon seit Monaten. Das ist frustrierend und auch ein bisschen doof. Mit solchen To-do-Ladenhütern ist es nämlich immer gleich. Zunächst schreibe ich sie ganz enthusiastisch auf (tolle Idee: umfangreich zwar, aber großartig), dann verschiebe ich den Start erwartungsgemäß einige Male und schleppe die Idee von Liste zu Liste. Das wiederholt sich einige Male, bis der Punkt kommt, an dem ich entscheiden muss: Entweder ich verwerfe das Projekt komplett; vielleicht vergesse ich es sogar. Oder aber ich ärgere mich über mich selbst und über mein Herumgedruckse. Dieses latent schlechte Gewissen hilft mir dann, den ersten Schritt zu machen – und der ist ja bekanntlich der halbe Weg. Die zweite Hälfte des Weges lege ich meist schneller zurück, als ich gedacht hatte.

Im Nachhinein frage ich mich fast immer, wieso ich so lange gebraucht habe, überhaupt anzufangen. Man könnte denken, dass ich daraus lerne und keine Ideen mehr aufschiebe. Leider ist es soweit doch noch nicht – wie ich an den beiden Überhängen auf meiner aktuellen Liste erkennen kann … Nächste Woche fange ich an mit meinen Fotobüchern für 2023 und 2014! 

Nur begrenzt vergleichbar!

Abends im Bett mache ich eine falsche Drehung und meine Kniescheibe springt aus ihrer Führung – völlig unerwartet. Die Schmerzen und meine Bewegungsunfähigkeit erinnern mich an die Geburten meiner Kinder, nur anders. Ich fühle mich hilflos und schreie. Nach gefühlt sehr langen zwei Minuten rutscht die Kniescheibe von allein wieder rein und alles ist wieder gut. Auch dieses abrupte Ende des Schmerzes ist so ähnlich wie am Ende einer Geburt, nur anders. Ich bin total erleichtert und erschöpft.

Am nächsten Tag schleppe ich zwar kein Baby mit mir herum, aber mindestens ein instabiles Knie: Ich bin vorsichtig und wage mich nicht auf meine Laufrunde. Der Verstand vergisst die Intensität der Schmerzen schnell; der Körper wird noch ein paar Tage brauchen, bis er wieder auf `wie vorher´ umschaltet. Das allerdings ist mit der Geburt eines Kindes nicht zu vergleichen!

Es fließt!

Unser Urlaub führte uns nach Nordosten – fünf Stunden über Landstraßen und vergleichsweise wenig frequentierte Autobahnen: „Wunderbar, wenn der Verkehr fließt; das machen wir wieder“, sagt mein Mann.

Zwei Wochen später wollen wir zu einer Geburtstagsfeier 180 Kilometer nördlich von uns. Die A7 ist an einem Samstag sicher zu voll für fließenden Verkehr, denken wir, und entscheiden uns wieder für die Landstraße. Allerdings ist der Norden deutlich dichter besiedelt als der Nordosten der Republik: Ein Dorf folgt aufs andere, Geschwindigkeitsbegrenzungen aufgrund von Baustellen `reichen sich die Hand´, einige Schnarchnasen bringen den Verkehr fast zum Erliegen. Glücklicherweise sitze ich am Steuer und bleibe gelassen. Im Gegensatz zu meinem Mann; er zieht bereits nach anderthalb (von insgesamt drei) Stunden eine vernichtende Bilanz: „Das machen wir nie wieder; die Strecke ist von vorn bis hinten Grütze.“ Wir haben keine Ahnung, wie es zeitgleich auf der A7 aussieht – hier fließt jedenfalls nichts.

Den Rückweg mitten in der Nacht übernimmt mein Mann; ich döse. Wir nutzen die jetzt weitgehend leergefegte A7 und brauchen die Hälfte der Zeit – es fließt.

Stolz – aber wie!

Thomas Müller sei stolz ein Deutscher zu sein, hieß es während der EM. In Zeiten großer Ereignisse kommen solche Aussagen häufiger vor und verwundern nicht. Einfach so redet hierzulande selten jemand vom Stolz auf seine Nation. Dabei ist Thomas Müller während seiner Deutschland-Spiele nicht deutscher als im Trikot des FC Bayern oder wenn er redet, wie ihm der deutsche Schnabel gewachsen ist.

Wir sind immer und überall gleich deutsch: ob wir mit den Nachbarn am Gartenzaun stehen, am Pool eines all-inclusive-Hotels unseren Bauch in die südosteuropäische Sonne halten oder entlang der Hurtigruten vor der norwegischen Küste dahin schippern. In jedem dieser Momente können wir stolz auf unsere Nation sein – und innerlich den Hut ziehen vor dem, was viele Deutsche vor uns geleistet haben. Noch wichtiger ist, wie wir diesem Stolz Ausdruck verleihen: Gepaart mit Respekt und Bescheidenheit für andere ist Stolz ein großartiger Ansporn, selbst auch sein Bestes zu geben.

Von Macht, Mut und Zahnschienen

Vor 15 Jahren bekam ich eine Zahnschiene gegen Rückenschmerzen und trug diese zunächst 23/7. Seitdem habe ich meine Rumpfmuskulatur gestärkt und keine weiteren Kinder mehr bekommen. Die Rückenschmerzen von damals sind Geschichte; aber die Schiene trage ich aus Gewohnheit noch immer – allerdings nur nachts. Dennoch amüsiert sich mein Mann in regelmäßigen Abständen darüber, wie beharrlich ich daran festhalte: aus seiner Sicht sinnfrei.

Ob die Schiene überhaupt noch einen Effekt habe, fragt er sich – und auf Nachfrage gelegentlich auch mich. Ich weiß es nicht; ohne Ausprobieren kann ich es gar nicht wissen! Was würde passieren, wenn ich die Zahnschiene von heute auf morgen Nacht wegließe? Vielleicht funktioniert mein Rücken ebenso weiter wie bisher. Oder eben auch nicht; niemand kann das vorhersagen. Steter Tropfen höhlt den Stein, und der leise Spott meiner besseren Hälfte erschüttert meinen Stoizismus. Noch gehorche ich der Macht der Gewohnheit, aber die Versuchung zum Mut zur Lücke wird stärker. Am liebsten wäre es mir, der Zahn der Zeit würde mir die Entscheidung abnehmen. Aber offenbar habe ich ein dentales Qualitätsprodukt erwischt!

Nicht mein Verdienst!

„Du hast was Besseres verdient“, sagt jemand zu mir und ich schäme mich. Ich gehe, sie bleibt – es ist eine Frage der Entscheidung und nicht des Verdienstes. Dass diese Frau auch nur ansatzweise meint, weniger `verdient´ zu haben als ich, macht mich fertig. Den Eindruck will ich nicht hinterlassen. Er ist nicht nur allgemein völlig verkehrt; auch in dem konkreten Fall passt ihre Einschätzung nicht: Wo ich vielleicht mutiger bin als sie, hat sie dafür größeres Durchhaltevermögen und mehr Biss. 

Jedenfalls denke ich nicht in dieser Kategorie: dass ich etwas Besseres verdient hätte als jemand anderes. Meine Schmerzgrenze ist früher erreicht, das ist alles. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich diese klug festgelegt habe; aber auf jeden Fall sagt sie nichts darüber aus, was ich verdient habe und was nicht.

Vater-Glück?

Mein Sohn ist übers Wochenende da und wir reden über alles Mögliche: auch über seinen Einsatz in Afrika, bei dem er einen Jugendlichen kennenlernte. Dieser hat von seinem Vater nur den Nachnamen (und möchte ihn am liebsten nicht tragen). Vor seiner Mutter fürchtet er sich; die Familie ist arm. Spender ermöglichen ihm den Schulbesuch. Der Junge ist klug, aber rebellisch und willensstark. Die Lehrer und Mitarbeiter, die ihn schon Jahre begleiten, sind freundlich und konsequent. Dennoch war und ist der Weg mit ihm bisweilen herausfordernd und mühselig. Dieses Jahr wird er die Schule abschließen – und seine Unterstützer werden auch für sein Studium aufkommen. Das ist großzügig und toll, aber nicht alles. Denn ein Mitarbeiter der Schule hat im Laufe der Zeit eine Art Vaterrolle für den Jungen übernommen und begegnet ihm liebevoll, präsent, barmherzig und verständnisvoll.

Wie jede Vater-Sohn-Beziehung ist auch diese sicher nicht frei von sehr alltäglichen Schwierigkeiten, aber unterm Strich bleibt: Es ist besonderes Glück, einen Vater zu finden, wenn der eigene diese Rolle nicht wahrnimmt. Und aus einem anderen Blickwinkel: „Es gibt kaum ein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, dass man für andere Menschen etwas sein kann.“ (Dietrich Bonhoeffer)

Luxus-Stress?

Ich unterhalte mich mit einer entfernten Bekannten; es geht um Arbeit. Sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, jemals weniger als voll zu arbeiten. Aus ihrer Sicht müssten wir alle in den nächsten zehn Jahren mehr arbeiten, nicht weniger, auch Mütter. Unsere Gesellschaft könne sich Teilzeit-Arbeiter eigentlich gar nicht mehr leisten, sagt sie. Sie scheint sich auszukennen – und vor allem ihrer Sache sehr sicher zu sein. Ich verstumme, denn ich habe keine Ahnung und meine Perspektive ist eine andere. Sie hat ein Kind, ich hab´ fünf; mir war die Haus-Arbeit immer wichtiger, ihr die Außer-Haus-Arbeit. Wahrscheinlich kommunizieren wir aneinander vorbei.

Kinder `nebenbei´ bekommen und alles andere genauso weiterlaufen lassen, das ist unmöglich – finanziell, zeitlich, von der Kraft her. Zudem sind in den vergangenen 50 Jahren unsere Ansprüche gestiegen, was zum Leben dazugehört: Wir waren früher sonntags zum Mittag bei meiner Oma und im Herbst zum Pilzesuchen im Wald. Heute besuchen Familien einen Freizeitpark oder unternehmen einen Wochenendtrip an die See; manche fliegen auch nach London und schenken dem volljährigen Kind ein eigenes Auto. Früher gehörte das nicht zum Standard und niemand hat dieser Art Luxus vermisst: Das Glück in Familien hängt nicht an Dingen, die Geld kosten.

Vom (Un-)Sichersein

Ich denke wochenlang darüber nach, meinen Job zu kündigen, bin unsicher und hole mir Rat. Eine Freundin betet für mich und sagt, ich könne so oder so `nichts falsch´ machen: Gott brauche meine Entscheidung nicht, um mit mir zu seinem Ziel zu kommen. Eine Bekannte dagegen rät ab: „Wieso wartest du nicht noch ein bisschen? … Ich bin ja so ein Sicherheitstyp, ich würde kein Risiko eingehen, bevor ich nicht sicher etwas anderes hätte.“ 

Mir wäre `sicher´ auch lieber, aber ich schwimme ohnehin, nämlich in einem Meer kontroverser Gedanken: „`Jeder Job hat Kröten´ versus `Mir reichen die Pralinen nicht´ beziehungsweise `Aufgeben ist keine Option´ versus `Ich will mich nicht verbiegen´. Die Unruhe in mir nimmt immer mehr zu und lässt sich nicht sachlich schönreden. Also verfolge ich den Gedanken weiter, noch in der Probezeit zu kündigen – und sei es auch noch so unvernünftig.

In den nächsten Wochen bestätigt sich immer wieder, dass ein Aufhören zumindest folgerichtig und sehr verständlich wäre. (Natürlich hört und spürt man immer das, was man hören und spüren möchte!) Dann aber öffnet sich völlig überraschend eine andere Option – noch unklar, aber meinen Gaben entsprechend. Einige Tage später kündige ich und bin direkt im Anschluss vor allem erleichtert. Ich weiß, dass ich mich um das Neue intensiv kümmern muss, aber zunächst genieße ich den Moment. Ich könne `nichts falsch´ machen, hatte meine Freundin gesagt. Trotzdem ist es schön, dass sich gerade `alles richtig´ anfühlt. Dafür bin ich sehr dankbar und außerdem gespannt, wie es Schwimmzug für Schwimmzug weitergehen wird.