Ängstlich oder mutig

Menschen ticken unterschiedlich: Für manche steht `Was heute wohl alles passieren kann?´ über jedem Tag, für andere `Wird schon!´. Diese grundsätzliche Herangehensweise ans Leben lässt sich nur schwer abschütteln. Ob wir ängstlich sind und mit dem Schlimmsten rechnen oder Herausforderungen mutig und ein bisschen naiv anpacken: Ich weiß zumindest, wie ICH lieber meine Tage verbringen möchte.

Aber Gott hat uns nicht umsonst unterschiedlich geschaffen. Wahrscheinlich funktionieren wir als Gemeinschaft am besten, wenn jeder sich einbringt. Wir müssen `nur´ aufeinander hören und voneinander lernen wollen – Individualität braucht Korrektur. Wer ängstlich ist, kann sich am mutigen Freund orientieren; wer naiv drauflos rennt, darf von der Weitsicht und Erfahrung anderer profitieren. Die Schwierigkeit ist: sich zu einigen, wer wann das letzte Wort hat.

Vorbei

In den Ferien spielen wir Phase 10 und erinnern uns an einen Urlaub vor siebeneinhalb Jahren: Damals konnte ein Mitspieler mehrmals nicht ablegen, weil immer irgendein anderer überraschend die jeweilige Runde beendete. Der `Ausgebremste´ ärgerte sich hör- und sichtbar; wir anderen fanden seine Wut – zugegeben – ein bisschen lustig. (Wer den Schaden hat …) Jedesmal wenn wir jetzt (ohne ihn) Phase 10 spielen, denken wir an das Spiel von damals und schmunzeln. Aber die Stimmung können wir nur schwer wieder herstellen.

Ein Abend im Wohnzimmer: Die Mädchen singen zweistimmig, später tanzen sie nach eigener Choreographie. Wir schauen zu und sind begeistert von ihrem Überschwang, ihrer Energie und Lebensfreude. Ich denke zu spät daran, ein Video zu machen. Aber es würde die Atmosphäre ohnehin nur unvollkommen einfangen.

Einer meiner erwachsenen Söhne erzählt, was er mit Kindheit verbindet: „Ein Wort reicht: sorglos. Die Jahre zwischen zwölf und 16 waren die besten“, sagt er, „Wir waren nicht mehr klein und noch nicht verantwortlich.“ Er wohnt noch bei uns und kann sich in Vielem auf uns verlassen. Aber dieses sorglose Lebensgefühl lässt sich nur schwer (und kurzzeitig) wieder heraufbeschwören.

Immer weiter?

Kurz vor Weihnachten traf ich die Postbotin einige Male persönlich. Jedesmal wünschten wir uns vorab Frohe Weihnachten – `falls wir uns nicht mehr begegnen sollten´. Heiligabend sah ich sie doch noch, aber wir verzichteten auf gute Wünsche und winkten nur . „Bis nächste Woche!“, rief ich ihr zu, worauf sie erwiderte: „Es geht ja immer weiter.“ Das hallt in mir nach. Sie hat recht: Weihnachten ist ein besonderes Fest, aber kein Schlusspunkt. Auch das Jahresende ist nicht automatisch eine einschneidende Zäsur. Am 1. Januar geht es einfach weiter – daran ändern auch noch so viele gute Vorsätze nichts.

Andererseits stimmt dieses `immer weiter´ eben nur, solange nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt. Wir rechnen nicht mit Dingen, die unseren durchgeplanten Alltag `stören´: Mich irritiert manchmal sogar ein Hexenschuss oder wenn jemand etwas von mir will! Für Dietrich Bonhoeffer dagegen sind Unterbrechungen positiv – besonders wenn es um Menschen geht, die unsere Zeit oder Hilfe brauchen: „Wir müssen bereit werden, uns von Gott unterbrechen zu lassen. Gott wird unsere Wege und Pläne immer wieder, ja täglich durchkreuzen, indem er uns Menschen mit ihren Ansprüchen und Bitten über den Weg schickt.“ Widmen wir uns dann trotzdem unseren eigenen Wichtigkeiten, so verpassen wir das Entscheidende – meint zumindest Bonhoeffer: „Wir gehen dann an dem sichtbar in unserem Leben aufgerichteten Kreuzeszeichen vorüber, das uns zeigen will, dass nicht unser Weg, sondern Gottes Weg gilt.“

Das Einzige, was mit Sicherheit `immer weiter´ gehen wird, ist Gottes Wirken in dieser Welt – und dazu gehört sein manchmal tägliches Durchkreuzen unserer Pläne. Das könnte ein wirklich guter Vorsatz sein fürs nächste Jahr: flexibel und neugierig auf Unterbrechungen zu reagieren – in der Erwartung, dass Gott damit etwas bezweckt.

Nichts für mich

Eine Freundin schenkt mir eine rote Amaryllis, die Knospen sind noch ganz zu. In den nächsten Tagen öffnet sich eine Blüte nach der anderen – sechs insgesamt. Diese Blume sieht schön aus, keine Frage. Aber sie begeistert mich nicht. Es liegt nicht daran, dass ich nicht staunen könnte über die üppigen Blüten an blattlosen Stengeln. Meine Zurückhaltung hat einen anderen Grund: Schon in meiner Kindheit bekam meine Mutter jedes Jahr zu ihrem Geburtstag im Dezember eine oder mehrere Amaryllis geschenkt. Ich fand die Blume schön, ja, aber sie war irgendwie `nichts für mich´. Sie passte eher zu älteren Leuten: Ich bekam nie eine und hätte nie eine verschenkt.

Mittlerweile bin ich so alt wie meine Mutter damals; aber noch immer ist die Amaryllis irgendwie `nichts für mich´ – ich weiß nicht, warum. Diese Blume sieht schön aus, keine Frage. Aber sie begeistert mich nicht.

Kennen

Wer außer mir kennt mehr als die Spitze meiner Persönlichkeit? `Wenn die wüssten´, habe ich kürzlich geschrieben; `wenn der wüsste´, denke ich manchmal sogar meinem Mann gegenüber. Niemand weiß, wie wütend ich innerlich sein kann; meine kindliche Naivität ist mir manchmal peinlich; und für `so macht man das´ fehlt mir oft die Sicherheit. Vollkommen ehrlich bin ich nur vor Jesus, der mich ohnehin kennt: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne“, sagt David im Psalm 139 (Vers 2) und gleich danach: „Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest.“ (Vers 4) Er spricht mir aus der Seele.

Eine Frau aus der Gemeinde bringt mir eine Kleinigkeit für Weihnachten. Durchs Papier hindurch spüre ich, was es ist. Ich lächle sie an, sie lächelt zurück. Wir wissen beide, worum es sich handelt – es ist ein kleiner Kalender mit Zitaten von Dietrich Bonhoeffer. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte sie mir ebenso einen geschenkt. Diese Frau hört genau hin und hat ein gutes Gedächtnis. Daher weiß sie, dass ich diesen Mann sehr schätze – und noch einiges mehr. Sie würde wahrscheinlich niemals behaupten, mich `gut zu kennen´, aber sie trifft mit ihren Worten und Geschenken ziemlich oft ins Schwarze.

Regen

Ich gehe oft spazieren. Das Wetter ist mir fast egal; ich ziehe mich entsprechend an: Eine Regenjacke ist in unserer Gegend häufig eine gute Wahl. Wenn es gar nicht anders geht, ziehe ich manchmal auch eine Regenhose an; aber sie ist nicht meine erste Wahl: Darunter bleiben meine Beine zwar trocken vom Regen – schwitzen aber. Mir ist dann leicht zu warm, ich kann aber weitergehen.

Heute Morgen nieselt es nur – zunächst. `Kein Regenhosen-Wetter´, denke ich und gehe los. Nach 20 Minuten regnet es stark, aufgrund des Windes nicht nur von oben. Ich schwitze nicht, aber schnell werden meine Beine nass. Mir ist jetzt leicht zu kalt, ich drehe um.

Ich erinnere mich an eine Wanderung in Schottland vor anderthalb Jahren: Nach sechs bis sieben Stunden fing es an zu nieseln – zunächst. `Kein Regenhosen-Wetter´, dachten wir und liefen weiter. Die letzten zweieinhalb bis drei Stunden regnete es stark, aufgrund des Windes nicht nur von oben. Uns war warm, aber nicht nur die Beine, sondern vor allem unsere Schuhe wurden sehr nass. Umdrehen war damals keine Option; am Ziel kümmerte sich der Wirt (erfolgreich!) um unsere nassen Klamotten.

An einem verregneten Dezembertag in Deutschland denke ich an unseren allerschönsten Urlaub überhaupt – und komme nass, aber lächelnd zu Hause an.

Eigentlich

Die Arbeitsfläche in unserer Küche ist mir zu voll. Nicht immer, aber oft. Ich räume sie regelmäßig auf; aber schnell sammelt sich wieder alles mögliche an, was da nicht unbedingt hingehört. Eigentlich fände ich es schöner, wenn die Küche ordentlich (wenn auch nicht steril) bliebe – aber ich bekomme es nicht hin.

Eigentlich ist ein interessantes Wort. Es bedeutet so viel wie: im Grunde genommen. Wären da keine Widrigkeiten, keine temporär übergeordneten Prioritäten oder anders geartete Interessen – dann sähe unsere Arbeitsplatte dauerhaft aufgeräumter aus. Aber genau das ist die Krux bei `eigentlich´. Denn sie existieren, diese Widrigkeiten, temporär übergeordneten Prioritäten oder anders gearteten Interessen: Ich wohne hier und nutze die Küche erstens nicht allein und zweitens nicht nur zum Kochen; und manchmal (oft) gibt es Wichtigeres als Ordnung. Daher bleibt es, wie es ist – die Arbeitsfläche in unserer Küche ist mir zu voll. Nicht immer, aber oft.

Dezember in `schön´

Es ist Dezember; die Bäume sind schon lange kahl. Geschneit hat es noch nicht, aber seit drei Tagen ist es winterlich kalt. Gestern war es so neblig, dass es den ganzen Tag nicht richtig hell wurde. Heute schafft es die Sonne durch die Wolken und zeigt, wie Winter auch geht: Die Bäume sind noch immer ohne Blätter, aber nicht mehr kahl – der Reif an den Ästen ist zum Teil zentimeterdick. Die Luft ist klar, es ist einfach nur schön.

Schlaraffenland

Ich habe zwei Töchter. Die jüngere isst und probiert gern exotische Speisen und mag neben dem Geschmack auch die besondere Haptik außergewöhnlicher Nahrungsmittel. Großzügig investiert sie ihr Geld in Dinge wie Bubble Tea oder Mochis – und ist immer auf der Suche nach neuen, unbekannten Zutaten. Manchmal trifft sie sich zum Kochen mit Freundinnen; gern schaut sie Videos rund ums Essen oder kauft sich kulinarische Besonderheiten im Internet.

Die ältere Tochter hat andere Interessen. Ausnahmsweise will sie am Wochenende mit einer Freundin zusammen Sommerrollen zubereiten. Ob ich dafür Reisblätter besorgen könne, fragt sie mich, die gäbe es im Asia-Shop. Ich sage zu, denn ich muss mit der jüngeren Tochter ohnehin in die Stadt. „Asia-Shop, was ist das denn? Und wo ist der?“, fragt diese mich. Ich kenne den Laden, war aber erst ein paar Mal dort. Von außen ist er kaum zu entdecken, innen winzig. Gleich beim Betreten weiß ich (wieder), dass ich hier alles bekomme, was ich für meine gelegentlichen `Ausflüge in die indische Küche´ benötige. Ich suche Reisblätter und denke, wir sind fertig. Aber meine Tochter entdeckt Mochis, Asia-Nudelgerichte, Jelly-Straws und weitere Köstlichkeiten – und schaut mich vorwurfsvoll an: „Wir haben hier so einen Laden, und ich weiß das nicht? Im Internet ist das doch alles viel teurer!“ Das Schlaraffenland liegt für manche direkt in der Innenstadt … 

Erfahrungen – einerseits und andererseits

„… wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden …“
Römer 5, 3

Einer meiner Söhne wird in der Schule geärgert, weil er in manchem nicht mithalten kann: Er besitzt kein Handy und darf nicht unbegrenzt am Bildschirm sitzen – das hat er uns als Eltern zu `verdanken´. Außerdem trägt er keine coolen Klamotten und hat nicht den modischsten Haarschnitt: Ihm ist das nicht wichtig, zwei Jungen in seiner Klasse schon. Diese ärgern ihn häufig: „Ach, du tust mir so leid“, heißt es zum Beispiel, „du hast kein Handy und keine PS4 – was machst du eigentlich den ganzen Tag?“ Oder aber sie lachen über seine Cargo-Hosen, nehmen ihm die Mütze weg oder stopfen Müll in seine Kapuze. Zu zweit fühlen sie sich stärker – und sind es auch. Vielleicht ist das schon Mobbing; vielleicht ist es die normale Grausamkeit von Kindern.

Es tut mir sehr leid, dass es meinem Sohn so ergeht. Gern würde ich ihm helfen; die Frage ist, wie. Rein theoretisch wäre es möglich, ihm ein Handy zu geben und seine Bildschirm-Zeiten zu erweitern – allerdings halten wir das für unklug. `Coole´ Klamotten und ein angesagter Haarschnitt ließen sich ebenfalls organisieren. Aber letztlich ist beides stark vom Geschmack anderer abhängig – und also sehr vergänglich. Dennoch würden all diese `Maßnahmen´ die Angriffsfläche, die mein Sohn bietet, verkleinern; entfernen würden sie sie aber nicht. Ich bin sicher, den Jungen fiele dann etwas anderes ein: Es ist nicht die Frage, WAS, sondern OB man etwas bemängeln möchte.

Eine bessere Möglichkeit ist die, dass mein Sohn sich von den beiden fern hält – äußerlich und innerlich. Er kann die Unterrichts Pausen mit anderen Mitschülern verbringen: Das ist vergleichsweise leicht. Schwieriger wird es, sich von den verbalen Angriffen nicht verletzen zu lassen.

Unterm Strich wäre es schön, die beiden Jungen würden meinen Sohn nicht mehr ärgern. Noch schöner wäre, sie hätten damit gar nicht angefangen. Einerseits. Andererseits weiß ich, dass diese Erfahrung meinen Sohn innerlich stärker machen kann.

„Auf die Idee muss man erst einmal kommen, dass ausgerechnet das, was wir uns aus unserem Alltag immer wegwünschen – nämlich die Belastungen, die Widerstände und Schwierigkeiten – uns zu dem machen, was wir ohne sie immer werden wollten: standfest und geduldig, erfahren und bewährt, zuversichtlich und hoffnungsvoll.“
H. J. Eckstein