Kosten und Nutzen von Kritik

Wenn ich kritisiere, will ich den anderen (meist) nicht ärgern, sondern etwas verändern. Leider funktioniert das nicht immer – es sei denn, meine Kritik ist konstruktiv und der andere baut mit. Durch viele erfolglose Kritik-Versuche habe ich gelernt, dass zwei Dinge entscheidend sind: der richtige Zeitpunkt und ein freundlicher Ton. `Direkt und spontan´ ist zwar total ehrlich, bringt den anderen jedoch leicht dazu, sich verteidigen zu wollen. Kompromisse sind dann mindestens sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Für den Ton ist `Understand before you´re understood´ ein hilfreiches Motto: Erst wenn ich den anderen verstehe, wird er mich auch verstehen! Solches Reden kostet mich Zeit und den Willen, vom anderen her zu denken – ist aber konstruktiv: Ich baue an einer `Brücke´, auf der wir uns unabhängig vom Streitpunkt treffen können. Der Rest liegt beim anderen, der konstruktiv hören muss. Das kostet ihn Zeit und den Willen, sich auf mich einzulassen. Am Ende nutzt es uns beiden: Wir kommen uns näher, selbst wenn unsere Positionen weiterhin weit auseinanderliegen.

Auswandern – theoretisch oder praktisch?

Freunde von uns haben ein Haus in Schweden gekauft und werden im Laufe des Jahres hier ihre Zelte abbrechen und dort ein neues Leben beginnen: Ich finde das mutig und konsequent; gleichzeitig frage ich mich, ob Auswandern (ganz praktisch) für mich in Frage käme.

Schon mehrere Male in meinem Leben habe ich (theoretisch) darüber nachgedacht: Mit 17 und 18 wäre Westdeutschland das Ziel gewesen – eine erste Liebe hätte nicht ausgereicht, der Unmut über die Zustände in meiner damaligen Heimat schon eher. Die Ereignisse im Jahr 1989 nahmen mir diese Entscheidung ab. Zwei Jahre später wäre ich theoretisch gern in Australien geblieben. Praktisch fühlte ich mich zu jung und nicht ans andere Ende der Welt berufen – von Menschen, einer Aufgabe oder einem klaren Ziel.

Heute ist die Überlegung noch immer völlig theoretisch. Trotzdem erlaube ich mir ganz unverbindlich die Fragen, was mich (theoretisch) in Deutschland hält und wohin es mich ziehen würde: Die `Schulausbildung der Kinder´ beantwortet die erste Frage; eine `ländliche Gegend im englisch-sprachigen Ausland´ die zweite. Ganz praktisch will mein Mann nicht weg …

Ein Vortrag

Meine Tochter hat ihr Praktikum versäumt und muss stattdessen einen Vortrag halten, nein: eine Präsentation erstellen. Das Thema ist sehr allgemein gehalten – Landwirtschaft, besonders Milchverarbeitung. Meine Tochter hat keine Lust dazu und ist hinsichtlich des Ergebnisses frei von jeglicher Ambition. Ich kann sie verstehen und trotzdem passiert es: Ihr Auftrag wird zu meinem Anliegen. Während einer Laufrunde grenze ich das Thema gedanklich ein und überlege mir ein paar Fakten, die sowohl interessant sind als auch hängenbleiben könnten.

Weniger Information ist in diesem Fall mehr – welcher 17-Jährige interessiert sich schon für Landwirtschaft? An einer knackigen Frage zum Einstieg tüftele ich noch herum, als ich meinen Lauf beende. Ich schreibe mir einige Gedanken sofort auf und schnappe mir meinen Rechner. Drei Google-Ergebnisse später habe ich genügend Stoff zusammen, um einer Schulklasse eine Stunde lang etwas über Landwirtschaft im allgemeinen und Milchvieh-Betriebe im besonderen zu erzählen. Alles viel zu viel, ich weiß; außerdem muss ICH gar keinen Vortrag halten – auch das weiß ich. Egal: Ich staune, wie einfach es heute ist! Für dieselben Informationen hätte ich als 17-Jährige in eine gut ausgestattete Bibliothek gehen oder einen gesprächigen Bauern interviewen müssen – beides deutlich aufwendiger als ein paar Mausklicks.

Wahrscheinlich lässt sich meine Tochter nicht anstecken von meiner Begeisterung. Umsonst war mein Ausflug ins Internet trotzdem nicht, denn ICH weiß unter anderem wieder: Bauern stehen ständig in der Kritik, die Böden auszubeuten, den Grundwasserspiegel abzusenken oder ihre Tiere nicht artgerecht zu halten. Außerdem arbeiten sie sehr viel und verdienen vergleichsweise wenig: Zum Beispiel bekommen die Bauern nur die Hälfte des Milchpreises, den ich im Laden zahle – und können damit nicht wirklich ihre Produktionskosten decken. Viele Milchbauern haben deswegen in den letzten fünf Jahren dichtgemacht. Es wäre aus meiner Sicht ein interessantes Vortragsthema, was die anderen motiviert, weiterzumachen.

Grundgefühl

Im Wald treffe ich eine Frau mit Hund, die ich vom Sehen kenne. Normalerweise gehen wir kurz grüßend aneinander vorbei. Diesmal bleibt sie stehen und fängt ein Gespräch mit mir an: „Na, kann man sich wieder in den Wald trauen?“ Es ist total windstill, die Sonne scheint, um uns herum stehen Bäume, zu unseren Füßen liegen herunter gewehte Äste … und ich denke: `Ja, klar, wir sind ja hier.´ Die Frau wirkt grundsätzlich vorsichtig bis ängstlich: Sie sei die vergangenen Tage immer nur auf baumfreien Feldwegen unterwegs gewesen, sagt sie. Nach einer Weile verabschieden wir uns.

Das Gespräch überrascht mich; ich selbst war nicht auf die Idee gekommen, den Wald zu meiden. Im Gegenteil: Gleich am Tag nach dem Sturm stiefelte ich neugierig drauflos und wollte sehen, was der Wind auf `meiner´ Hausrunde angerichtet hat. Die Schäden halten sich in Grenzen; die wald-artigen Streifen bei uns hier fallen ohnehin eher unter `urig-vernachlässigt´. Schon länger steht hier so manch alter Baum schräg oder liegt ganz am Boden.

Ich halte mich nicht für leichtsinnig; aber der Gedanke, dass mir etwas auf den Kopf fallen könnte, kommt mir schlicht und ergreifend nicht. Mein Grundgefühl ist vertrauensvoll bis neugierig, dafür bin ich dankbar.

Anfängerin oder alter Hase?

Seit 30 Jahren wasche ich Wäsche, seit 20 Jahren nicht nur meine eigene. Im Schnitt umfasst das drei Waschmaschinen pro Woche – vorsichtig geschätzt. Das summiert sich zu etwa 4.500 Wäschen. Ich bin in dieser Hinsicht `alter Hase´ und sollte wissen, wie es geht; und doch unterlief mir kürzlich ein Anfängerfehler: Das neue Badehandtuch meines Jüngsten ist riesengroß, dunkelblau-türkis und waschbar bei 60 Grad. Die in derselben Wäsche befindlichen weißen Socken zeigen jetzt alle einen leicht bläulichen Schimmer. Mir machen leicht blau verfärbte, ehemals weiße Socken nichts aus – aber diese gehören den Kindern. Ihre Reaktion entspannt mich: „Oh, wie toll: mal was anderes.“

Als `alter Hase´ weiß ich, dass sich der Blauschimmer durch weitere Wäschen wieder verlieren wird. Angesichts der fröhlichen Kinder ist das fast ein bisschen schade … Vielleicht sollte ich mich bezüglich der Wäsche öfter mal wie eine Anfängerin verhalten.

Einstellungssache

In gewisser Hinsicht war es früher leichter, alt zu sein. Meine Großmütter wurden beide (fast) 90 Jahre alt. Verglichen mit heute waren sie in ihrem Leben nicht viel unterwegs. In ihren letzten Jahren wurden sie körperlich unbeweglicher, ohne dass sich das stark auf ihren Alltag auswirkte: Bis fast zuletzt konnten sie machen, was ihnen in ihrem ganzen Leben wichtig war – sich selbst versorgen, Menschen begegnen (in Maßen), ein paar Schritte vor die Tür.

Ihre Kinder leben anders und die Enkel erst recht: Wir sind viel unterwegs und unternehmen andauernd etwas: Ein Kino- oder Konzertbesuch in 30 Kilometer Entfernung – kein Problem. Wir schaffen es zur Not an einem Tag, jemanden zu besuchen, der 250 Kilometer entfernt wohnt; und im Urlaub fliegen wir um die halbe Welt. Diese Form der Mobilität wird im Alter schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Je umtriebiger man in jungen Jahren lebt, umso mehr wird man später `lassen müssen´. Man kann das als höchst bedauerlich empfinden, als eine unwillkommene Einschränkung. Oder aber man akzeptiert es als normalen Lauf der Dinge, erinnert sich gern an Schönes und ist dankbar für das, was `noch geht´. (Und, ja, all das fängt nicht erst mit 80 an.)

Unwort

Ab 20. März soll es weitreichende Lockerungen geben. Beibehalten werden wahrscheinlich `nur´ die Maskenpflicht (beispielsweise an Schulen), Abstandhalten, bestimmte Testauflagen und vielleicht noch einige andere Kleinigkeiten. Sollte es tatsächlich so passieren, würde ich `Lockerungen´ schon jetzt als Unwort des Jahres 2022 vorschlagen. Aber man soll ja den Tag nicht vor dem Abend `in die Tonne treten´, oder wie hieß das doch gleich?

Ein Orkan und eine Tanne

Bei uns im Garten stehen ein paar Bäume: vier Obstbäume, ein Kugelahorn, eine Blutpflaume und eine Tanne – bis gestern. Ein Orkan (Ylenia oder Zeynep?) hat die Tanne entwurzelt. Jetzt liegt sie quer im Garten und hat eine Berberitze unter sich begraben – beide werden mir nicht fehlen. Waagerecht wirkt die Tanne gewaltiger als vorher: Plötzlich stört all das Grünzeug, das in senkrechter Form so schön den Blick auf die Werkstatt des Nachbarn versperrte. Außerdem hat die Kraft des Sturzes den Gartenschuppen aus den Angeln gehoben und den Kaninchenstall ziemlich demoliert. Das ist ärgerlich und sieht unordentlich aus, ein echtes Problem ist es nicht: Den Schuppen bauen wir zurück und/oder neu wieder auf; die Kaninchen sind vor ein paar Wochen ausgezogen. Wir ahnen nur, was die Tanne noch hätte anrichten können: Das Terrassendach und das Zimmer unseres Jüngsten lagen locker in ihrer Reichweite … Ja, der Orkan hat eine Tanne entwurzelt, aber besser hätte er es nicht machen können!

Heute!

Ein entfernter Bekannter ist plötzlich und unerwartet verstorben – mit Anfang 70. Alle, mit denen wir darüber sprechen, verspüren neben der Trauer auch einen Schreck: Wie schnell es gehen kann! Spontane Reaktion unseres Ältesten: „Mama, ich will nicht darauf warten, dass ich etwas machen kann, wenn ich dies und das geschafft habe. Man muss die Dinge heute tun.“ Genau, denke ich und: Schlau ist das `Kind´. Wir brauchen diese Klarheit immer – nicht nur, wenn überraschend jemand stirbt!

Kinder und Wetter

In anderen Landkreisen fällt heute wegen des Wetters die Schule aus – es drohen orkanartige Winde. Auch bei uns ist es stürmisch; von Entfall ist keine Rede. Die Kinder schauen morgens skeptisch aus dem Fenster. „Wir werden nicht ankommen, Papa, kannst du uns mit dem Auto bringen?“, fragen sie. „Ihr müsst den Lenker gut festhalten“, rät er ihnen. Sie kennen solche Ratschläge schon; das Auto ist keine Alternative, zu der wir schnell greifen. Im Winter heißt es: „Der Schnee ist gar nicht so tief“, und angesichts heftiger Regenfälle hat sich ein Satz mittlerweile zum `running gag´ entwickelt: „Das hört gleich auf!“ Also kämpfen die Kinder sich durch den Wind, schieben manchmal ein Stück des Weges durch den Schnee oder werden eben nass. Meist tragen sie unsere Entscheidung mit Fassung und schimpfen vor sich hin: „Wenn ich mal Kinder habe, werde ich das ganz anders machen!“ Warten wir´s ab.