Schön spontan

Es klingelt, ich erwarte niemanden. Eine Freundin steht vor der Tür: „Hast du ein bisschen Zeit? Ich dachte, bei dir kann ich spontan vorbeikommen.“ Sie kann; ich sehe es als Kompliment, dass ich jemand bin, bei der sie sich `traut´, einfach so zu klingeln. „Du kannst genauso spontan sagen, dass es dir nicht passt“, schiebt sie hinterher. Ich muss unweigerlich lächeln: Diese Freiheit gefällt mir, auch wenn ich sie heute nicht in Anspruch nehme. Eine halbe Stunde habe ich Zeit – wir trinken einen Kaffee und reden ein bisschen. Der Besuch tut mir gut: Unser Gespräch und ihr spontanes Klingeln zeigen mir, wer ich für sie bin.

Jetzt oder später

Ich erledige Aufgaben gern zeitnah; für mich gilt: `Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.´ Nicht immer lässt sich das realisieren, dann lasse ich weniger Dringliches für `später´ liegen. Aber leider ist mir das Unerledigte doch sehr präsent und trübt mein `Jetzt´. Daher finde ich, dass es nur selten schlau ist, etwas auf später zu verschieben – zu prokrastinieren, wie es heute gern heißt. Zwar fühlt es sich jetzt ohne Auftrag gut an, aber später drohen Zeitdruck und Stress.

Andere Menschen sind geborene Prokrastinierer: Aufgaben erledigen sie möglichst spät, nämlich erst, wenn diese sich nicht mehr auf `noch später´ verschieben lassen. Sie leben jetzt fröhlich mit Unerledigtem und ärgern sich auch dann nur ein wenig, wenn es später hektisch wird. Eine meiner Töchter fällt unter diese – bisweilen beneidenswerte – Gruppe Mensch. Sie müsste sich jetzt auf ihre theoretische Führerscheinprüfung vorbereiten; aber sie verschiebt es auf später. Denn ihr macht so ziemlich alles andere mehr Spaß: Klavier oder Fußball spielen, chillen, Videos schauen, essen, der Schwester die Haare schneiden, Musik hören … Noch verspürt sie keinerlei Druck: Zwar würde sie gern jetzt schon Auto fahren dürfen, aber es geht eben auch ohne.

Kürzlich kam diese Tochter von der Schule nach Hause und verkündete: „Ich mache meine Hausaufgaben jetzt immer sofort, wenn ich sie bekomme. XY macht das auch so; die hat nachmittags viel planbarer Zeit.“ Ich bin gespannt, ob das, was sie jetzt begeistert, auch später noch attraktiv sein wird – und ob es sich auch auf die Führerschein-Theorie anwenden lässt. 

Unbegründete Sympathien

Auf einem frisch umgepflügten Acker sitzen einige Krähen, andere jagen einem kleinen Raubvogel hinterher. Ich kenne mich nicht gut aus, aber es könnte ein Falke sein. Die Krähen sind in der Überzahl, außerdem viel größer und attackieren den ungebetenen Gast unermüdlich: Egal, ob er sich hoch in die Luft `schraubt´, fallen lässt oder abrupt die Richtung wechselt – die Krähen verfolgen ihn konsequent. Nach ein paar Minuten taucht ein zweiter Falke auf, aber die beiden bleiben chancenlos und in der Defensive. Dabei konkurrieren sie meiner Meinung nach nicht mit Krähen: Falken sind weniger an Körnern als an Mäusen interessiert. Dennoch dulden die Krähen die beiden Raubvögel nicht in `ihrem Revier´. Irgendwann ziehen die Falken ab.

Das Ganze dauert nur einige Minuten, aber es kommt mir länger vor. Währenddessen können die einen nicht in Ruhe fressen und die anderen nicht in Ruhe jagen – und doch tun mir nur die Falken leid.

Krähen tauchen in großen Schwärmen auf, kreischen laut und flattern immerzu und überall hektisch durch die Gegend. Sie kommen mir gewöhnlich vor, obwohl ich mal gelesen habe, dass sie sehr klug sein sollen. Falken oder andere Greifvögel dagegen sehe und höre ich viel seltener. Wenn ich sie entdecke, schaue ich ihnen gern zu: Sie `spielen´ mit dem Wind oder spähen nach Beute – und wirken dabei leicht und erhaben.

Falken mögen die gefährlicheren Jäger sein; vielleicht haben die Krähen sehr verständliche Gründe für ihr aggressives Verhalten. Ich habe keine Ahnung, aber ein Gefühl: Ich mag die Raubvögel und ärgere mich, wie unbarmherzig die Krähen sie verscheuchen.

Nicht vorbereitet

Seit langem weiß ich, dass mein ältester Sohn im Herbst auszieht. Wir haben immer wieder darüber gesprochen und alles mögliche dafür organisiert. Jetzt ist er weg und ich bin traurig: Die Seele lässt sich auf einen Abschied nicht gut vorbereiten.

Brief-Sponsoring

Ich schreibe (relativ) viele Briefe: etwa zwei bis vier pro Woche. Normalerweise benutze ich einen Füller und verwende normale DIN A4-Bögen, manchmal begleitet von einer Karte. Zum Geburtstag wünschte ich mir farbige Briefbögen, vergesse aber oft, diese zu benutzen. Kürzlich bekam ich außerdem zweimal `richtiges´ Briefpapier – mit Motiv – und von meiner Schwester Briefumschläge in 1000-er Paketen. Offensichtlich hat es sich rumgesprochen, dass ich (relativ) viele Briefe schreibe. In Zukunft werde ich weder Briefpapier noch Umschläge kaufen müssen. Nur für Tintenpatronen und Briefmarken bin ich (noch) selbst zuständig – und natürlich für den Inhalt. Klassischer Fall von Brief-Sponsoring.

Hingucker

In unserer Nachbarschaft wohnt eine Frau, die keinen Zaun an der Straße hat. Wer vorübergeht, kann seinen Blick frei in den Vorgarten schweifen lassen. Die Grenze ist dennoch klar: Ein kleines altes Mäuerchen steht da; momentan ist es dekoriert mit bepflanzten Gummistiefeln – es sieht sehr freundlich aus.

Andere Hausbesitzer sind offenbar Anhänger neumodischer Zäune: Metallgerüste mit Plastikplanen, knapp zwei Meter hoch und alles in dunkelgrau. Diese gewährleisten vollkommenen Sichtschutz – und sehen sehr steril aus. 

In beiden Fällen ziehen die markierten Grundstücksgrenzen die Blicke regelrecht an und doch unterscheiden sie sich – in Hingucker und kein Hingucker.

Was wir brauchen

Ich liebe Harald Martensteins wöchentliche Kolumnen in der ZEIT. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, schreibt dabei aber nicht arrogant, sondern freundlich. Sein Stil ist humorvoll und selbstironisch und trotzdem tiefgründig. Meist lese ich seine Zeilen lächelnd und nickend – ich sehe manches ähnlich. Vor einiger Zeit zum Beispiel schloss er mit den Worten: „Die Menschen, die vor uns gelebt haben, waren wie wir, die irrten sich ständig und dachten dabei, sie seien die Klügsten. Was man aus der Geschichte lernen kann, ist nicht die Arroganz, sondern eher der Zweifel an dem, was fast alle für die Wahrheit halten.“ Während die meisten Menschen zur Zeit vehement streiten und immer weitere Argumente suchen, bringt er auf den Punkt, woran es uns wirklich mangelt – an Demut.

Perspektive

Drei Verwandte haben Geburtstag – aber ich bin zu beschäftigt und schaffe keine analogen Grüße. Praktischerweise sind alle drei eine Woche später wegen einer Familienfeier bei uns: Ich schreibe nachträglich meine Wünsche auf Karten und will sie übergeben. Leider vergesse ich das ausgerechnet bei meiner Nichte, der ich auch ein Buch schenken möchte: Am Abend schicke ich ihr – digital – ein Foto von dem, was noch immer bei uns liegt, und kommentiere es mit: „Ich bin so doof – es ist wahrscheinlich das Alter.“ Sie antwortet umgehend: „Nein, du hast Post-Solidarität!“

Ich muss zweimal lesen, bevor ich verstehe, was sie meint. Dann kann ich lächeln und weiß mal wieder: Es ist alles eine Frage der Perspektive!

Zermürbungstaktik

Ein Hauptstadt-Korrespondent wettert in unserer Tageszeitung schon seit einiger Zeit gegen die Ungeimpften. Gestern las ich von ihm, dass offenbar nur noch diejenigen sich nicht impfen lassen, die sich `grundsätzlich verweigern, weil sie irren Verschwörungstheorien glauben oder Impfungen generell ablehnend gegenüber stehen´. Und bei denen helfe nur noch eins, nämlich eine Zermürbungstaktik– `als befänden wir uns im Krieg´, denke ich.

Drei Gründe führt er an: Die Geimpften fürchten sich vor einer Infektion durch die Ungeimpften. Die Ungeimpften verhindern, dass die Geimpften ihre Normalität wieder bekommen. Drittens müssen die Geimpften die `exorbitanten Kosten´ mittragen, die Ungeimpfte im Falle einer schweren Covid-19-Erkrankung verursachen.

Er findet daher, dass nicht weiter auf die Befindlichkeiten der Ungeimpften Rücksicht genommen werden könne. Es helfe nur, den Druck zu erhöhen – durch 2G, durch kostenpflichtige Tests, durchs Streichen der Lohnfortzahlung im Falle von Quarantäne. Zermürbungstaktik eben.

All das klingt, als würden sich Menschen nicht impfen, weil sie die Geimpften irgendwie ärgern wollen: Ließen sich mehr Leute impfen, ginge es den anderen Geimpften in jeder Hinsicht besser. Die Geimpften denken in dieser Diskussion offenbar sehr an sich – und die Ungeimpften sollten möglichst auch sehr an sie denken.

Es funktioniert: Mich zermürbt diese Denke, diese Schuldzuweisung, dieser ständig spürbare Druck, dieses Stigmatisieren. Ich bin ein bisschen wütend, aber – ganz ehrlich – eher traurig, dass wir hierzulande so mit Andersdenkenden umgehen. Die meisten Ungeimpften sind keine Verschwörungstheoretiker oder generelle Impfgegner. Sie haben andere Gründe, sich (vielleicht im Moment) nicht impfen zu lassen. Das scheint nicht mehr ihr gutes Recht zu sein, sondern Grund, sie fortwährend und immer massiver in die Ecke zu drängen. Es ist sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis der eine oder andere aufgibt – und sich doch impfen lässt. Das würde die Impfquote erhöhen, aber ich bezweifle, dass man das einen `Erfolg´ nennen sollte: Langfristig stärkt es eine Gesellschaft mehr, wenn man unterschiedliche Befindlichkeiten nicht ignoriert, sondern ernst nimmt.

PS: Unter `Zermürbungstaktik´ finde ich auf der Seite eines Anwalts folgende Sätze: „Sie glauben nicht, mit welchen Methoden man Arbeitnehmer zermürbt, sie bei der Arbeit solange madig macht, bis sie Fehler begehen, krank werden oder entnervt von selbst kündigen! Man nennt sie Zermürbungstaktiken, und sie sind im Standardrepertoire der fiesesten Arbeitgebertricks.“ (Alexander Bredereck, anwalt.de)

Vom Umziehen

Menschen zwischen 20 und 30 ziehen um: Das ist die Zeit, in der die Ausbildung endet, man den Job wechselt, heiratet oder Kinder bekommt. Umzugshelfer finden sich im Freundeskreis. Besonders beliebt sind die Zupackenden – und die mit einem großen Auto. Wir waren erst das eine, später beides; mittlerweile ist unser Freundeskreis sesshaft, das ist gut.

In meiner Erinnerung ist jeder Umzug anders: gut oder schlecht organisiert, ausreichend oder zu wenige Helfer, keine Treppenhäuser oder zu enge … Andererseits ist jeder Umzug gleich: Es ist dem Helfenden vorher nicht klar, ob er ein- oder auspacken muss, Kisten oder Möbel tragen wird, Autos fahren oder Stereoanlagen aufbauen soll. Währenddessen interessiert keinen, was man anhat: `alt und bequem´ reicht aus. Nach dem Umzug freut man sich auf die eigenen vier Wände – ohne Kisten und dafür mit eingeräumten Regalen und so weiter. 

Unser Sohn half gestern einer Freundin beim Umziehen; er wusste vorher nicht, was ihn erwartet und wie lange es dauern würde. Abends wurde es spät und er war dankbar für sein nicht-provisorisches Zuhause. `Manches ändert sich nicht´, dachte ich. Nur in `alt und bequem´ geht heute offenbar niemand mehr aus dem Haus – nicht einmal als Umzugshelfer.