Eine Frage der Einschätzung

Berufstätige Frauen und Frauen, die Karriere machen – fortschrittlich.

Nicht berufstätige Männer, die zu Hause bleiben und ihren Frauen für den Beruf den Rücken freihalten – fortschrittlich.

Männer und Frauen, die sich Berufstätigkeit und häusliche Aufgaben paritätisch teilen – fortschrittlich.

Nicht berufstätige Frauen, die zu Hause bleiben und ihren Männern für den Beruf den Rücken freihalten – altmodisch.

Ich finde diese oft unausgesprochene Einschätzung seltsam, vielleicht sogar paradox – aber sicher nur, weil ich zur letzten Gruppe gehöre.

Nichts hinzuzufügen

„Wo Gottes Wort bei mir ist, finde ich in der Fremde meinen Weg, im Unrecht mein Recht, in der Ungewissheit meinen Halt, in der Arbeit meine Kraft, im Leiden die Geduld.“
Dietrich Bonhoeffer

Ich wünschte, ich könnte das mit derselben Überzeugung sagen wie Bonhoeffer selbst.

Hierbleiben oder weggehen

Ich war in meinen Zwanzigern viel unterwegs: Ich wechselte zum Beispiel den Studienort und war zwischendrin ein halbes Jahr in Australien. Mit dem Rad fuhr ich durch Frankreich und Irland. Auf einer Farm in Tansania suchte ich erfolglos nach einem Thema für meine Diplomarbeit – und lernte stattdessen, wie es ist, sofort und immer als Ausländer erkannt zu werden. Ein Seminar führte mich nach Schweden und Norwegen; in der Schweiz arbeitete ich auf einer Alb; in den USA machte ich Urlaub. Für mich war es gut und richtig, wegzugehen – diese Erlebnisse haben meinen Blick geweitet: Mir ist klarer, was ich will, und heute bin ich zufrieden mit dem Ist-Zustand.

Heute lebe ich in vielerlei Hinsicht in einer engen Blase: Kleinstadt, Haus, Kinder, keine Karriere, kaum Auslandsaufenthalte, wenig unvorhergesehene Kontakte. Für dieses Leben jetzt und hier brauche ich die Horizonterweiterung der eingangs beschriebenen Jahre nicht. Wahrscheinlich haben sie mich geprägt – aber ich könnte gar nicht genau sagen, wie. Trotzdem wünsche ich unseren Kindern ähnliche „Ausblicke“ – selbst wenn das heißt, dass ich sie (womöglich weit weg) ziehen lassen muss.

Eine meiner Töchter wünscht sich nichts sehnlicher als einen Aufenthalt im Ausland. Ich unterstütze sie und hoffe mit ihr, dass das möglich wird. Die andere Tochter weiß fest entschlossen (und quietschvergnügt), dass sie nicht nur in unserer Kleinstadt, sondern möglichst auch in unserem Stadtteil bleiben möchte: „Ich bin eben ein Gewohnheitstier, ich will hier nicht weg und lasse mich nicht dazu zwingen.“ Ein wenig enttäuscht mich das. Insgeheim hoffe ich, sie bleibt nicht bei dieser Einstellung. Dabei ist diese Tochter vielleicht einfach nur sehr zufrieden mit dem Ist-Zustand und klar in dem, was sie sich für ihr Leben wünscht. Für sie kann es gut und richtig sein, hierzubleiben; auch das will ich unterstützen.

Leicht oder schwerwiegend?

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. … Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Festes des Himmels, dass sie scheinen auf die Erde. Und es geschah so.“
1. Mose 1, 1+14

Für Gott ist alles leicht. Er spricht nur ein Wort – und das Universum ist da, die Erde mit allen Lebewesen und schließlich der Mensch. Mir ist es egal, ob das eine Woche gedauert hat oder länger – ich glaube, dass Gott genau so handelt: Er spricht und es geschieht.

UY Scuti ist ein sogenannter Roter Überriese – ein sehr großer Stern. Verglichen mit der Erde sind viele Himmelskörper im Universum ziemlich groß. UY Scuti zum Beispiel hat einen Durchmesser von 1,8 Milliarden Kilometern. Ich kann mir diese Entfernung nicht vorstellen, eine Illustration hilft: Man könnte diese Strecke fliegen, zum Beispiel mit einem Düsenjet. Bei einer Geschwindigkeit von 800 Kilometern pro Stunde würde das über 200 Jahre dauern – oder so. Das ist zwar vorstellbar, aber begreifen kann ich es trotzdem kaum. So leicht es Gott auch fallen mag: Das Universum ist über die Maßen beeindruckend.

Viel greifbarer, aber ebenso unfassbar ist für mich die Tatsache, dass Gott Menschen geschaffen hat – als Geschöpfe mit einer Seele. Wir können: nonverbal kommunizieren, Gefühle erleben und ausdrücken, Musik, Literatur und Kunst allgemein bewundern, empathisch reagieren, uns versöhnen, vertrauen, trauern, lachen … All das (und vieles mehr) schuf Gott ebenso mit einem Wort: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen … Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Weib.“ (1. Mose 1, 26+27)

Beides fiel Gott leicht; aber ich bin mir sicher, welcher Teil der Schöpfung aus Gottes Sicht schwerer wiegt.

Meine Meinung

In unserer Tages-Zeitung steht ein Artikel eines Journalisten, der schimpft. Er reagiert auf Künstler, die mittels satirischer Videos die Corona-Maßnahmen aufs Korn genommen haben. Seine Sätze sind scharf und verurteilend, der Tenor des Textes lautet: „Wie können die nur!“ Leider kritisiert der Autor weniger den Inhalt der Video-Clips, sondern vor allem andere Aspekte, die meiner Meinung nach wenig mit der Sache zu tun haben:

Er bemängelt, dass die beteiligten Künstler zu den besser verdienenden gehören, die sogar während dieser Corona-Zeit arbeiten können. Ich denke, das tut nichts zur Sache: Ich darf Missverhältnisse anprangern, unter denen ich selbst nicht am meisten leide. Ich sollte es sogar tun, wenn ich eine starke Stimme in der Gesellschaft habe. Das nennt man Solidarität.

Zudem kritisiert er, dass die beteiligten Künstler Applaus auch von der AfD bekommen. Das ist unglücklich, aber ich denke trotzdem, das tut nichts zur Sache: Ich darf eine Meinung vertreten, egal ob sie jemand teilt oder gutheißt, dem der Großteil der Gesellschaft mit Skepsis begegnet. Ich halte das für Meinungsfreiheit. Jegliche Form von „Sippenhaft“ empfinde ich als unsachlich. (Ich darf die betreffenden Beiträge ja auch gut finden, ohne automatisch für rechts- oder anderweitig radikal gehalten zu werden. Oder?)

Schließlich wirft der Autor den Künstlern vor, dass sie ihre Äußerungen in Satire verpacken. Vielleicht war es auch als Ironie gemeint. Ich denke, das tut nichts zur Sache: Zwar kann man Ironie missverstehen; aber wir haben keine allgemein gültige Instanz, die entscheidet, welches Stilmittel in welchem Fall angemessen ist und welches nicht. Wer die derzeitigen Maßnahmen (wie ironisch auch immer) in Frage stellt, ist nicht automatisch ein Covid-19-Leugner! Es kann nicht sein, dass das einzig akzeptierte Argument die bisher 80.000 Toten sind: Viele Tausende in unserem Land leiden derzeit eher unter den Maßnahmen als unter der Erkrankung selbst. Die Ironie der Künstler richtet sich gerade nicht an die Corona-Opfer, sondern an die politisch Verantwortlichen.

Es heißt in dem Artikel außerdem, der zynische Unterton sei ein Affront für all die erschöpften Pfleger und Ärzte und wirke wie Hohn auf die Angehörigen der Toten. Keiner spricht von einem Affront oder Hohn angesichts von Einschränkungen, wenn er dabei an Kinder denkt, die seit Monaten nicht beschult werden oder gemeinsam Sport treiben dürfen. Oder an Studierende, die ihre Uni noch nie von innen gesehen haben und allein vor ihren Laptops sitzen. Oder an Menschen, die mit dem Home Office nicht zurecht kommen, weil persönliche Kontakte auf der Arbeit fehlen. Oder an selbstständige Künstler, ob sie nun zur Kultur-Elite in unserem Land gehören oder nicht. All diese sollen noch ein bisschen durchhalten – oder sie werden als Egoisten beschimpft, wenn sie sich ebenso am Ende ihrer Kraft wähnen.

Es ist gut, dass der Autor seine Meinung klar äußert, das ist glücklicherweise möglich in einer Demokratie. Leider empfinde ich ihn dabei als verurteilend: Er lässt mir als Leser wenig Raum für meine (vielleicht abweichende) Meinung – es sei denn, ich möchte ebenso in einer Schublade landen wie die an der Aktion beteiligten Künstler selbst. Dabei haben diese lediglich auf Missverhältnisse aufmerksam gemacht und kritisch ihre Meinung geäußert. Warum sollten sie das weniger dürfen als der Journalist in unserer Tageszeitung?

Ich gebe den Künstlern in der Sache jedenfalls recht (und tue es mit zitternden Knien): Wir alle sind betroffen von Corona und den Maßnahmen – der eine so, der andere so. Nicht jede der Maßnahmen ist nachvollziehbar, und nicht jeder in unserem Land empfindet sie als verhältnismäßig. Die derzeitige Lage kann eine Elendserfahrung sein – auch für Menschen, die keine Toten zu beklagen haben. Das darf jeder sagen in unserem Land, ohne sich anschließend dafür entschuldigen zu müssen. Wir sollten das wieder aushalten lernen.

Inszenierte Alltagsfotos

Fotoalben eignen sich gut zum visuellen Festhalten normalen Alltags. Aber sie sind oft nicht ganz so sehenswert, die Fotos, die ich mitten im Leben aufnehme: viel Hintergrund, die Augen zu, teilweise verwackelt oder unpassend belichtet. Für einen guten Schnappschuss brauche ich wahrscheinlich mindestens fünf nicht ganz so gelungene Probeläufe. Daher erwische ich mich manchmal bei dem Satz: „Huhu, schaut mal her!“, auch wenn die „Abzulichtenden“ dann meist schimpfen, inszenierte Fotos würden sie nicht mögen.

Denn inszenierte Fotos sehen oft arrangiert aus (wen wundert`s): gezwungenes Lächeln, gleichförmige Posen, steif statt lebendig. Von unseren inszenierten Hochzeitfotos sind nur sehr wenige überhaupt in einem Album gelandet.

Die besten Fotos wirken wie mitten aus dem Leben – möglichst schön anzusehen. Leider ist das Leben nicht immer fotogen, so dass man bei Fotos ein bisschen nachhelfen – inszenieren – muss. Dafür braucht es Probeläufe, die misslingen; ich schätze, dass auch professionelle Fotografen nicht ohne diese auskommen.

Die Kunst ist es, Fotos zu machen, die das normale Leben sehenswert in Szene setzen – ohne dass man ihnen die Inszenierung ansieht.

Ehrlich gesagt

„Trägst du die schon seit Weihnachten?“, fragt mich eine Bekannte, als sie meine Gesichtsmaske mit Weihnachtsmotiven sieht – und schaut mich leicht verwundert (vielleicht auch entsetzt) an. Ich kann sie beruhigen: Seit Weihnachten trage ich sie nicht; erst seit Februar oder März ist es eine von den vielen Masken, die ich parallel in Gebrauch habe. Ihr Gesichtsausdruck bleibt verhalten. Dass sie mir ja ohnehin nicht die Hand geben oder mir näher kommen darf, scheint ihr in meinem Fall ganz recht zu sein …

Als ob sich einer im täglichen Gebrauch an die Hygienevorschriften hält, mit denen wir vor einem Jahr ins Maskentragen eingewiesen wurden. ICH jedenfalls benutze die Masken, die ich mir vor das Gesicht schnalle, NICHT korrekt: In jeder Jackentasche und in der Handtasche steckt eine von diesen Dingern – zu oft würde ich sie sonst vergessen.

Dementsprechend fasse ich die Maske auch nicht immer mit spitzen (oder gar frisch gewaschenen) Fingern und nur an den Ohrgummis an, transportiere sie nicht in sterilen Plastiktüten und wechsele sie mit großer Sicherheit seltener als vorgeschrieben. Ich tue das nicht, weil ich irgendwie protestieren möchte – das würde ja auch keiner merken. Ehrlich gesagt sind meine Beweggründe praktikabler Natur: Wenn ich Maske tragen muss, mache ich es so, wie es für mich am besten funktioniert, das ist alles.

Ein Schwein

Nach Monaten kommt das Distanzlernen an seine Grenzen. In jedem Fach nimmt die Motivation ab, der Lernerfolg wahrscheinlich ebenso. Digital ist nicht mehr spannend, sondern nervig. Ab und an erleben wir eine Ausnahme – heute ist es Kunst. Diese Aufgabe ist kein bloßes Abarbeiten eines Auftrags, sie macht Spaß. Es spielt keine Rolle, ob das Werk die kreativen Sinne stärkt, und noch weniger, ob es bewertet wird oder nicht: Für eine halbe Stunde widmet sich mein Sohn einer Mimikmaske und lächelt dabei.

Ist das Kunst? Keine Ahnung.

Kann das weg? Nein! Denn das Schwein wird uns noch eine Weile an einen Lichtblick im tristen Distanzlern-Alltag erinnern.

Das erste Mal

Der erste Schluck Kaffee am morgen schmeckt am besten – genau wie der erste Spargel der Saison. Die erste Fahrt mit einem neuen Auto, der erste zwitschernde Vogel nach einem langen Winter, die erste Liebe – all das sind besondere Momente. Manche erlebt man nur einmal im Leben, manche einmal am Tag. Alle versprühen den Zauber der „ersten Erfahrung“; vielleicht ist dieser größer, wenn die Ereignisse weit auseinander liegen. Heute trinken wir den ersten Sundowner dieses Jahres – der vorherige liegt lange zurück. Wir werden Abstand halten und vorsichtig sein, aber dennoch: Das Wetter ist genau richtig; ich freue mich diebisch. Das erste Mal ist immer besonders; dieser erste Sundowner wird noch besser.

Gewöhnen wir uns?

Zum Gottesdienst treffen wir uns mit Masken, halten Abstand, nur die Band darf singen. Wir sind dankbar, dass das alles noch geht. Ich habe mich an den derzeitigen Status Quo gewöhnt – das hilft mir, die Auflagen als Ausnahmezustand zu akzeptieren.

Trotzdem wünsche ich mir sehr, dass dieser Zustand vorübergehend ist. Ich erinnere mich sehr gut an daran, wie es vorher war, und hätte das gern wieder. An eine dauerhafte Einrichtung des derzeitigen Status Quo – mit Maske, Abstand und ohne Gesang – will und werde ich mich nicht gewöhnen. Das hilft mir, die Auflagen als neue Normalität abzulehnen.

Momentan leben wir in einer Ausnahmesituation. Das frühere „Normal“ ist eine schöne Erinnerung – ich würde mich gern und schnell wieder daran gewöhnen.