Gerührt

Eine unserer Töchter hat mit ihrem (Mädchen-) Chor ein Lied aufgeführt. Das Lied hieß „I will follow him“, ist aus dem Film Sister Act mit Whoopie Goldberg und dreht sich um Jesus: „I will follow him, follow him wherever he may go! There isn´t an ocean too deep, a mountain so high it can keep, keep me away, away from your love.“ (Ich werde ihm folgen, wohin auch immer er geht; kein Ozean ist zu tief, kein Berg zu hoch, nichts kann mich von seiner Liebe trennen.) Das Lied hat Schwung, und die Mädchen haben das großartig und lebendig umgesetzt – zu recht gab´s im Anschluss begeisterten Applaus.

Ich war gerührt. Gerührt davon, mit wieviel Begeisterung, mit wieviel musikalischem Können und persönlichem Mut die Mädchen vor einer voll besetzten Kirche aufgetreten sind. In solchen Momenten bin ich nah am Wasser gebaut – dass meine Tochter da mittendrin ist und mitmacht: Toll.

Es hat mich aber noch etwas anderes zu Tränen gerührt: der Text. Heißt es doch unter anderem: „I love him, where he goes I follow, he´ll always be my true love, from now until forever… „(Ich liebe ihn, wohin er auch geht, ich folge ihm; er wird immer meine wahre Liebe bleiben, von jetzt an und für immer.) Wie gesagt: Es geht in dem Lied um Jesus! Echt fromm, habe ich gedacht. Ich hoffe, meine Tochter singt das bewusst mit und meint die Worte so.

Wiederkehrend

Ich gratuliere gern schriftlich – zu Geburtstagen, Hochzeitstagen und so weiter. Die Karten, die ich schreibe, sind meist nicht ganz kurz und gehen immer über den Standardwunsch „Herzlichen Glückwunsch zum …“ hinaus. Oft fließt in meine Wünsche hinein, was mir für den Betroffenen wünschenswert erscheint, aber auch, was mir selbst wichtig wäre. Dabei wandeln Wünsche sich im Laufe der Zeit: Über „einen guten Berufseinstieg“ oder „Erfüllung und Nähe in der noch jungen Beziehung“ sind wir in unserem Alter hinaus, bei „beste Gesundheit“ sind wir noch nicht ganz angekommen. Was wir uns wirklich wünschen, wird jedoch mit den vergehenden Jahren überschaubarer.

Während ich also eine weitere Karte schreibe, frage ich mich manchmal, ob ich im vergangenen Jahr dasselbe geschrieben und gewünscht habe: „Gute Prioritäten“ oder „eine gute Mischung aus Arbeit und Freizeit“, „Freude am Job“ oder „einen guten Draht zu den halberwachsenen Kindern“ – all das sind gute Wünsche, aber Jahr für Jahr? Ich kann nur hoffen, dass ein Jahr reicht, meine gut gemeinten Wünsche vom letzten Jahr zu vergessen, und die Karte mittlerweile ohnehin schon wieder den Weg aller Karten gegangen ist – über den Papiermüll, durch die Recycling-Anlage hinein in ein neues Leben als leere Postkarte.

Über den Schatten springen

Ich kann nicht über meinen eigenen Schatten springen. Wenn er auch noch so kurz ist, ich komme nicht drüber. Trotzdem ist die Aussage erstmal positiv belegt – als wäre es schaffbar, ein erstrebenswertes Ziel und würde am Ende belohnt: Wer über seinen Schatten springt, entschuldigt sich zuerst, geht in den Keller eine Gurke holen, obwohl er nicht dran ist, oder gibt eigenes Unvermögen in Gänze zu. Ist man – metaphorisch gesprochen – gesprungen, erwirbt man neues Wissen, einen Freund und vielleicht sogar Respekt für den Mut. Oft jedenfalls.

Manchmal bringt Schattenspringen von all dem nichts. In Computerfragen weiß ich so wenig, dass eine Frage mir nicht neue Erkenntnisse beschert, sondern dem Öffnen der Büchse der Pandora gleichkommt. Plus: Meine Unfähigkeit in Sachen Technik bewirkt bei den „Experten“ um mich herum ein Kopfschütteln. Menschen, die vorher keine Ahnung von den Ausmaßen meiner Ahnungslosigkeit hatten, müssen ihr Bild von mir neu malen – inklusive meines Unwissens, das vorher (verborgen) im Schatten lag.

Zweckentfremdet

Eine meiner Töchter muss zu den Pfadfindern. Auf den letzten Drücker macht sie sich fertig, auf den allerletzten fällt ihr ein, dass sie ihr „Schlaues Buch“ mitnehmen sollte. Sie sucht es, aber in der Eile erfolglos: Sie muss ohne das Buch losziehen. Eine letzte Bitte: Ich könne es in ihrem Schreibtisch suchen und ihrer Freundin vor der Tür mitgeben, die fährt etwas später. Okay.

In bester Absicht gehe ich in ihr Zimmer und schaue mich um. Ihre Schreibtischschubladen sind für eine Überraschung gut: Süßigkeiten-Verpackungen – natürlich alle leer -, anderer Müll und irgendwie alles ohne System. JEDE Schublade enthält Müll und normale Schreibtisch-Utensilien. Frustriert schiebe ich sie wieder zu und finde das „Schlaue Buch“ AUF dem Schreibtisch, ein wenig untergebuddelt, aber da liegt es.

Ich gebe es der Freundin und sage: „Ihr Schreibtisch war total vollgemüllt, ich bin froh, dass ich das Buch trotzdem gefunden habe.“ Die Freundin: „Dazu ist ein Schreibtisch doch da!“

Wenn ich das gewusst hätte! Ich nutze meinen seit Jahrzehnten total zweckentfremdet für Schreibkram, Stifte, Passwort-Listen, Postkarten, Briefumschläge und ähnliches Zeug, was darin entweder nichts oder nur in Verbindung mit leeren Süßigkeiten-Verpackungen etwas zu suchen hat…

Erwachsen geworden?

In der Literatur beobachte ich zunehmend eine Verrohung der Sprache. Anzüglich war gestern, heute muss es anscheinend schon obszön oder vulgär sein, um als „modern“ zu gelten. „Sex sells“ heißt es nicht umsonst. Schade ist das. Manche Bücher würde ich meinen Kindern gern zum Lesen empfehlen können, weil sie eine Thematik bearbeiten, die interessant ist und herausfordernd, provokant auch. Aber entweder man hat es andauernd mit f-Wörtern zu tun, die dann wohl ein bestimmtes Milieu darstellen sollen – als würde das nicht anders gehen. Oder irgendwo mitten in der Lektüre – meist unvermittelt und meines Erachtens nicht wirklich notwendig – finden sich abstoßende Formulierungen, die unter der Gürtellinie anzusiedeln sind.

Vielleicht ist das nicht neu, vielleicht hat es das schon immer gegeben. Vielleicht haben meine Eltern eine sehr sorgfältige Auswahl getroffen, was im Bücherregal stand und was nicht. Ich denke trotzdem, dass vor 35 Jahren mit „jugendfrei“ etwas anderes gemeint war als heute. Die Maßstäbe haben sich verschoben. Die FSK-Einstufung von Filmen ist ja auch in schrecklicher Weise erwachsen geworden.

Erziehung, die wehtut

Manchmal entscheide ich etwas für eins meiner Kinder, was sich weder für das Kind noch für mich gut anfühlt. Da fahre ich es trotz des Regens (oder der Eiseskälte) nicht zum Musikunterricht. Ich verbanne es vom Essen, weil es sich – wieder – nicht an abgemachte Tischregeln hält. Ich begrenze die Aufnahme von Süßigkeiten ebenso wie den Konsum digitaler Medien. (Ein besonders schwieriges Feld, denn: „Mama, das kannst du nicht verstehen, du bist anders aufgewachsen.“)

Manchmal geht es mir um Respekt, manchmal darum, Konsequenzen des Lebens beim Kind zu lassen und nicht selbst zu tragen. Obwohl ich Regeln vorgebe, ist mein Ziel ein selbständiges und lebenstüchtiges Kind. Oft wird mir dann – vom Kind – Härte vorgeworfen, logisch. Wenn ich dem Vorwurf hinterher spüre, ist Wahrheit drin: Ich reagiere bisweilen unnachgiebig – hart. Es fällt mir nicht immer leicht, ich handle nicht im Affekt, es ist keine Wut im Spiel. Meine erzieherische Maßnahme ist in den meisten Fällen gut überlegt, bedacht und mir manchmal wirklich abgerungen.

Ich will mein Kind nicht ärgern, obwohl es sich so anfühlt. Ich will ihm helfen, in einem Leben in Gemeinschaft zurecht zu kommen. Irgendwann wird es mich verstehen. Vielleicht.

Etwas fehlt

etwas fehlt

Ein Baum wurde vom Blitz getroffen, die Überreste ein paar Tage später von den Leuten des Grünflächenamtes entsorgt. Der Stumpf ragt noch ein kleines Stück aus der Erde, sonst könnte man auf den Gedanken kommen, da hätte nie ein Baum gestanden.

Stimmt nicht: Die Nachbarbäume zeigen ihn noch, den Baum. Bei ihnen hat er seine Spuren hinterlassen. Jahrzehntelange Nachbarschaft färbt ab. Jetzt sieht es so aus, als würde etwas fehlen.

Wie viel mehr stimmt das für uns Menschen? Ob wir es wollen oder nicht und egal, in welcher Beziehung wir zueinander stehen: Jede Form des Miteinanders – als Ehepaare, Freunde, Nachbarn, Kollegen – hinterlässt ihre Spuren. Je dichter die Beziehung, desto mehr färbt der andere in irgendeiner Weise auf mich ab. Vor allem diejenigen Menschen, die ich als herausfordernd empfinde, prägen mich. Es kann sein, dass „anstrengende“ Menschen mehr Einfluss auf meine charakterliche Entwicklung haben als die Leute, die leicht zufriedenzustellen sind. So sehr die unbequemen Zeitgenossen mich also herausfordern, so sehr würden sie mir fehlen, wären sie nicht da.

Gebranntes Kind

Vor anderthalb Jahren habe ich mir im Garten beim Fußballspielen den Mittelfußknochen angebrochen. Einer meiner Söhne bemerkte damals sofort: „Mama, das hat ganz schön geknackt.“ „Ach, was, das ist sicher nur verstaucht, ich kühle das mal“, war meine verzweifelte Antwort – wider besseres Ahnen. Und? Er hatte recht.

Die Heilung nahm einige Zeit in Anspruch, aber drei Monate später konnte ich wieder laufenderweise meine Runden ziehen. Bis auf eine gewisse Empfindlichkeit im ersten Winter gab es körperlich keine spürbaren Folgeerscheinungen. Aber meine Psyche war noch angeknackst: Fußballspielen im Garten stand bisher nicht wieder auf meinem Programm. Das gesamte letzte Jahr habe ich mich gedrückt, mich nicht getraut – gebranntes Kind scheut das Feuer.

Letztens überwog die Liebe zu meinem Jüngsten, der keinen zum Fußballspielen hatte. „Na gut“, dachte ich, „eine halbe Stunde kicke ich mit ihm. Wird schon gut gehen.“

Was soll ich sagen: Ich habe lange nicht so gelacht, es hat solchen Spaß gemacht. „Mama, wieso musst du so lachen?“ „Weil ich keine Schnitte habe gegen dich, mein Schatz! Du bist viel schneller und besser mit dem Ball.“ Ich habe überhaupt nicht an meinen Fuß gedacht und ihn auch nicht gespürt. Es geht wieder, ich habe keine Angst mehr, ich bin wieder richtig heil – an Leib und Seele.

Beredtes Schweigen

Manches Schweigen ist einfach nur nervig. Da fragt man was, da sagt man was – und es kommt keine Antwort. Warum auch immer. Mir geht das auf den Keks. Vielleicht weil ich selbst ungern eine Antwort schuldig bleibe.

Etwas ganz anderes ist beredtes Schweigen – doch das beherrschen nur wenige Leute. Gemeint ist ja nicht ein Stillsein mit Augenrollen, das meist einen Hauch von Verachtung in sich trägt. Auch nicht gemeint ist ein Nicht-Reagieren, mit dem man den anderen zappeln lässt: „Dazu sage ich jetzt nichts, vielleicht später, wart mal noch ein Weilchen.“ Es wird gern als Macht-Demonstration eingesetzt.

Beredtes Schweigen ist das, was mir von einem schlauen Menschen bisweilen entgegenschlägt, wenn ich nach langem Überlegen, Abwägen, Zögern wortreich zu derselben Erkenntnis gelangt bin wie er. Manchmal ist es mir peinlich, dass ich so lange gebraucht habe. Öfter freue ich mich einfach nur über das stille Einvernehmen.

(Fast) alles falsch

Eine unserer Töchter kam kürzlich mit zwei Arbeiten von der Schule nach Hause. Chemie und Physik – wir wussten vorher, dass das nicht ihre starken Fächer sind. Das Ergebnis: in beiden Fällen (fast) alles falsch.

Weil sie ziemlich geplättet war, den Tränen nah, wollte ich trösten, aufbauen, ermutigen.

„Ist nicht so schlimm, nimm´s dir nicht so zu Herzen“, sagte ich. Falsch, denn: „Ich will aber keine 4 auf dem Zeugnis haben, Mama, Chemie ist epochal.“

„Du kannst doch nächstes Mal vorher fragen, damit du das Thema verstehst“, sagte ich. Falsch, denn: „Ich dachte doch, ich hatte es verstanden. Ich dachte, ich kann das!“

„Du kannst ja das Wochenende nutzen, dir von deinem Bruder Chemie und Physik erklären zu lassen“, sagte ich, „oder auch zu mir kommen. Ich gebe mein Bestes.“ Falsch, denn: „Ich kann aber nicht den ganzen Samstag Chemie und Physik lernen. Das verdirbt mir ja das ganze Wochenende.“

Alles, was ich gesagt habe, war falsch. Was wäre richtig gewesen? Ich habe keinen Schimmer. Nächstes Mal halte ich die Klappe – eine Option, die für meine Tochter in ihren Chemie- und Physikarbeiten nicht ohne unangenehme Folgen bleibt.