Fragile Leichtigkeit

Ich starte mit allerlei guten Vorsätzen in die neue Arbeitswoche:
zuversichtliche Entschlossenheit, mein Bestes zu geben,
grundsätzliche Offenheit den Menschen gegenüber, mit denen ich es zu tun haben werde,
kreative Ideen für die Aufgaben, die vor mir liegen – ob ich sie schon kenne oder nicht.
Ich fühle mich so, als wäre in den nächsten Tagen buchstäblich alles möglich – und ich würde den Grundstein legen für eine großartige Zukunft.

Die ersten beiden Stunden geht alles gut: Ich bin fleißig, freundlich und einfallsreich. Dann ergibt sich ein unerquickliches Gespräch; ich bin teilweise Zeuge, teilweise selbst involviert. Viele meiner Vorschläge werden diskutiert, kritisiert und als eher ungeeignet bewertet – ohne konstruktive Alternative. 

Anschließend fällt es mir schwer, wieder in Gang zu kommen: Die schwungvolle Leichtigkeit des Morgens hat einen erheblichen Dämpfer erfahren; ich fühle mich ausgebremst. Ich hoffe, der Nachmittag reicht aus, mich für die nächsten Tage wieder neu zu motivieren – so, als wäre buchstäblich alles möglich. 

Nicht einfach, sondern hin und her

Wir versuchen, es zu vermeiden, aber manchmal tun wir es doch: etwas übers Internet kaufen. Meist behalten wir nicht alles, was wir bestellen, sondern machen eine Rücksendung fertig. Oft läuft das unkompliziert, manchmal nicht. Ich habe ich grundsätzlich nichts dagegen, wenn ich die Kosten für die Retoure selbst tragen muss: Die Hin- und Her-Schickerei ist weder nachhaltig noch optimal, sie darf extra kosten; extra kompliziert muss sie nicht sein.

Vor zweieinhalb Wochen startete ich einen solchen `Ich schicke etwas zurück und zahle selbst´-Prozess. Zunächst hörte ich nichts und wartete ab. Vor vier Tagen schilderte ich in einer Erinnerungsmail mein Problem und schloss mit der Frage, wie lange die Rückerstattung wohl noch dauern werde. Darauf erhielt ich sofort eine automatisch generierte Antwort: Mail erhalten, sie würden sich um mein Anliegen kümmern und demnächst melden. Heute, also vier Tage später, traf eine weitere Mail ein: Ob ich mit meinem Produkt zufrieden sei und vielleicht ein Foto (in Gebrauch) machen könne.

Ich bin einigermaßen verwirrt und denke: Nein, kann ich nicht, das Produkt ist nämlich schon seit zweieinhalb Wochen nicht mehr bei mir, sondern wahrscheinlich längst wieder bei Ihnen – weshalb ich gern mein Geld zurückbekäme. Leider nutzt es nichts, wenn ich das denke. Wahrscheinlich nutzt es auch nichts, wenn ich in einer zweiten Mail mein Anliegen und Problem noch einmal schildern werde. Ich tue es trotzdem. Sofort erhalte ich eine automatisch generierte Antwort: Mail erhalten, sie würden sich kümmern und demnächst …

Ich stecke fest in einer Hin- und Her-Mailschleife und weiß nicht, wie ich da wieder rauskomme!

Es war einmal … 

Meine Mutter schickt mir einen Gruß mit der Post. In den Umschlag legt sie ein unbeschriebenes Kärtchen – vorn beklebt mit gepressten Pflanzen. Ich denke sofort an meinen Biologie-Unterricht während der Schulzeit. Herbarien waren weder meine erste Gabe noch meine größte Leidenschaft. Meist war ich zu ungeduldig und nicht gründlich genug: Die kleinen Stengelchen zerbrachen und die Blütenblätter sahen eher zerquetscht aus als schön gepresst, manchmal leicht angeschimmelt. Bei der Karte meiner Mutter bröselt und schimmelt nichts; ich sehe auch keine Klebstoffspuren. Sie ist eindeutig handgemacht, total einzigartig, ein bisschen unvollkommen – wie aus der Zeit gefallen. Mal sehen, wem ich damit eine Freude machen kann.

Wortreich

Die Inhaberin eines Geschäftes bedient mich und macht dabei viele Worte: wie viel Wert sie auf gute Qualität legen, welche Leistungen sie bald zusätzlich im Angebot haben und was bei ihr dann noch alles möglich sein wird. „Guter Service ist mir sehr wichtig“, sagt sie zum Abschluss.

Die Frau hat mich gut bedient, ja, und war betont freundlich. Trotzdem bin ich in dem Laden nicht so gern: Mir sind die Menschen lieber, die guten Service anbieten, ohne darüber zu reden.  

Privatsache

Ich begegne immer wieder Menschen, die in der Stadt herumstehen – scheinbar ohne Zweck und Ziel. Und dann, plötzlich, vollkommen unvermittelt, fangen sie an zu reden, als wären sie mitten im Gespräch. Sie sind es auch, denn sie telefonieren (mit Knopf im Ohr). Was um sie herum passiert und wer ihnen zuhört: vollkommen egal.

Ich bin nicht interessiert an den Telefongesprächen wildfremder Personen – besonders wenn ich nur die Hälfte mitbekomme! `Hallo?´, denke ich, `Geht´s noch? Kannst du deine privaten Telefongespräche bitte etwas diskreter führen?´ Das wiederum interessiert diese Leute nicht. Also werde ich Zeuge, bin höflich und still und versuche, die Privatsachen anderer trotzdem nicht mitzubekommen. 

Tatsächlich ergebnisoffen

Das Ideal jeder Verhandlung, jedes Streits, ist, wenn wir tatsächlich bemüht sind, dass jeder der Beteiligten zu Wort kommt und jedermanns Sicht der Dinge gleichermaßen geschätzt wird. Tatsächlich erfordert es aber Größe und ist schwierig, vorher nicht zu wissen, wo wir enden – also ergebnisoffen zu diskutieren.

Das Normale bei jeder Verhandlung, jedem Streit, ist es, wenn wir sehr bemüht sind, unsere eigene Sicht der Dinge möglichst so überzeugend darzulegen, dass diese am meisten geschätzt wird. Tatsächlich fällt es uns nämlich leichter, vorher genau zu wissen, wo wir enden – also nicht ergebnisoffen zu diskutieren.

Nicht zu sprechen!

Ich suche mir die Nummer eines Bekannten heraus und rufe ihn an. Am anderen Ende ertönt das fragende und leicht mürrische „Hallo?“ eines Menschen, dessen Stimme ich nicht kenne. Unsicher und ein bisschen eingeschüchtert stelle ich mich vor und frage, ob das die Nummer meines Bekannten ist. „Sicher nicht“, sagt die Stimme – deutlich weniger mürrisch als amüsiert. Ich bin verwirrt und entschuldige mich: „Oh, das tut mir leid, ich habe mich verwählt.“ Mein Gesprächspartner reagiert entspannt und inzwischen ausgesprochen freundlich: „Alles gut, macht gar nichts. Einen schönen Tag noch und viel Glück!“ Ich lege lächelnd auf: Wie schnell sich die Stimmung ändern kann!

Hinterher frage ich mich, ob ich Anrufe von unbekannten Nummern ebenfalls in leicht mürrischem Tonfall entgegennehme. Sicher ist, dass auch ich ehrlich freundlich auf jeden reagiere, der mich fälschlicherweise oder aus Versehen anruft.

Nur sehr selten erhalte ich Telefonanrufe, die mich wirklich nerven (Vertreter oder Verkäufer) oder tatsächlich stören (ich gehe nicht ran, wenn ich nicht abkömmlich bin). In Zukunft will ich darauf achten, mit einem Lächeln in der Stimme ans Telefon zu gehen. Der Anrufer freut sich – ob er mich nun sprechen will oder nicht.

Mit ohne Schiedsrichter

Ich komme mir manchmal vor wie ein Schiedsrichter: Wenn zwei Kinder sich streiten, möchte ich am liebsten eingreifen – und (sozusagen) von der Seitenlinie aus schlichten. Dabei funktioniert das höchst selten.

Erstens kenne ich die Vorgeschichte nicht: die Sticheleien, den Ärger, das nervige Verhalten des einen oder anderen. Was sich im Streit selbst offenbart, ist nur die Spitze des Eisbergs – sozusagen das überlaufende Fass. Von den vielen Tropfen vorher habe ich als Mutter oft keine Ahnung.

Zweitens bin ich voreingenommen. Meist tut mir derjenige leid, der im konkreten Streit gerade zu unterliegen scheint oder (scheinbar?) unfair angegangen wird. Und schon neige ich dazu, eher parteiisch zu bewerten, was gerade passiert, als möglichst neutral die Gesamtsituation zu betrachten.

Und drittens: Im Moment des Streitens ist ein Mittler fast nie erwünscht. Versuche ich es doch, gerate ich leicht zwischen die Fronten. Für Höflichkeit ist mitten im Streit kaum Raum und Zeit; stattdessen wird scharf geschossen. Wenn ich also schlichten will, muss ich die Schusslinie meiden und warten, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben. Ganz oft erledigt sich die ganze Angelegenheit dann von selbst: Unsere Kinder vertragen sich schneller wieder, als ICH es angesichts des vorangegangenen verbalen Schlagabtauschs für möglich gehalten hätte – ganz ohne Schiedsrichter.

Nicht nachvollziehbar

Sie könne meine Entscheidung – aus der Ferne und ohne Gespräch – nicht nachvollziehen, schreibt mir eine Bekannte und fährt fort, es gehe sie ja auch nichts an, aber sie wolle doch ehrlich bleiben. Ihre kritische (wenn auch ehrliche) Rückmeldung, ungefragt, trifft mich: Wieso sie mir das schreibt, frage ich mich, und nicht einfach mal nachfragt? Ich denke an die Sesamstraße: „Der, die, das; wer, wie, was; wieso weshalb warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm“, hieß es da und weiter: „1.000 tolle Sachen, die gibt es überall zu sehen; manchmal muss man fragen, um sie zu verstehen.“

Was für Kinder ein guter Rat ist, kann auch ich beherzigen: Wenn ich das nächste Mal die Entscheidung eines anderen nicht verstehe, will ich nachfragen, wie er dazu gekommen ist. Vielleicht kann ich dann nachvollziehen, worüber ich – aus der Ferne und ohne Gespräch – den Kopf geschüttelt hätte. 

Nicht genug

In der Vergangenheit hat es mich manchmal genervt, wie sehr der Holocaust immer wieder betont wurde. Ich dachte, irgendwann ist es doch mal gut mit dieser unserer Schuld. Heute denke ich, es ist offenbar noch lange nicht genug, an die Gräueltaten im Holocaust zu erinnern: Wenn 78 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges deutsche Studenten wieder offen gegen Juden die Stimme erheben; wenn im Zusammenhang mit ermordeten Juden einige Deutsche wieder die Phrase `selbst schuld´ in den Mund nehmen; wenn Juden nach dem Terrorangriff am 7. Oktober in Deutschland auf der Straße als die eigentlichen Aggressoren dargestellt werden …, dann ist es noch lange nicht gut. Dann schäme ich mich, dass ich dachte, es könnte jemals genug sein mit dem Erinnern.