Diskussionskultur: geht gar nicht!

Die Welt ist nicht schwarz-weiß, sondern schillert in vielen Schattierungen von grau. Aber nicht selten erlebe ich Gespräche über Politik, in denen völlig klar ist, welche Meinung die einzig wahre ist – und alle anderen Positionen `gehen ja wohl gar nicht´. Ohne mich auf der einen oder anderen Seite des politischen Spektrums positionieren zu wollen, finde ich das irritierend. Helmut Schmidt soll gesagt haben: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.“ Nur, wie geht das, Streiten?

Nehmen wir mal an, ein paar Kinder sitzen im Sandkasten und streiten sich, wie gespielt wird. Selten funktioniert es von allein, öfter hagelt es böse Blicke, Sandduschen oder gar Schläge. Keine normaldenkende Mutter würde in einem solchen Fall tatenlos danebenstehen, geschweige denn die anderen Kinder von der Sandkastenkante schubsen. Stattdessen helfen Mütter ihren Kindern, KOMPROMISSE auszuhandeln. „So geht das aber nicht“, heißt es dann, „ihr könnt euch sicher einigen.“ Weil nur so das Zusammenspielen funktioniert.

Die erste Regel für `gutes Streiten´ ist sicherlich, einander zuzuhören – und anzuerkennen, dass der andere nicht automatisch komplett bescheuert ist, nur weil er eine andere Meinung hat. Toleranz nennt man das: ein Geltenlassen anderer Überzeugungen. In der Praxis des Diskutierens scheint schon das häufig eine zu hohe Hürde. Viel einfacher ist es, bestimmte Ansichten einfach unter `geht gar nicht´ abzulegen und die eigene Meinung noch ein bisschen lauter rauszuschreien. Nur bringt uns das leider überhaupt nicht weiter in unserem demokratischen Miteinander. Im Gegenteil entsteht eine Geht-gar-nicht-Diskussionskultur, über die sich meiner Meinung nach nur eins sagen lässt: geht gar nicht!

Bleib? Nö!

Hundebesitzer sind ebenso bei Wind und Wetter draußen wie Eltern kleiner Kinder oder Läufer. Die meisten sind freundlich – ob sie ihren Hund nun im Griff haben oder nicht. Manche reden nur mit ihrem Hund, nicht aber mit dem Menschen, dem der Hund gerade hinterherrennt. Damit kann ich inzwischen leben, sofern das Tier aufgrund des Geschimpfes irgendwann von mir ablässt.

Ein Hundebesitzer, dem ich – glücklicherweise – sehr selten begegne, redet jedoch überhaupt nicht: auch nicht mit seinem Hund. Stattdessen bleibt er, also der Hundebesitzer, stehen, wenn er mich sieht. Ohne Blickkontakt stellt er sich vor seinen vierbeinigen Liebling. Verständlicherweise ist dieser umso neugieriger und starrt mir gespannt entgegen. Wenn ich ehrlich bin, macht das keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck. Entsprechend nervös gehe (oder jogge) ich dann an beiden vorbei – zurecht: In einer fließenden Bewegung drängelt sich der Hund hinter seinem Herrchen vorbei und springt mir vor die Füße, soweit es die dann plötzlich straff gespannte Leine zulässt. Und noch immer: kein einziges Wort.

Der Mensch könnte wissen, dass ein zufällig vorbeilaufender Spaziergänger mit seinem Hund weder um die Wette rennen noch spielen möchte. Aber der Hund? Der weiß das nicht, dem muss man das sagen, meinetwegen mit einem: „Bleib!“ oder: „Hiergeblieben!“ Irgendetwas, es ist mir egal. Aber ganz ohne Kommunikation macht der Hund eben, was ER will.

Wie nett ausbaldowert!

In einem Artikel in der Zeitung wird der Sprecher irgendeiner Staatsanwaltschaft zitiert – indirekt: Die drei Terroristen hätten `die Gegend ausbaldowert´, steht da. Ausbaldowert, ich muss lächeln: Wie lange habe ich dieses Wort nicht mehr gehört, geschweige denn gelesen!

Besagter Sprecher ist wohl nicht mehr der Jüngste, denke ich, und er redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Juristensprech hört sich anders an – Zeitungsdeutsch auch. Welcher Journalist das wohl ausbaldowert hat, diese Aussage so ungeglättet zu übernehmen … 

Nicht-persönlich, aber herzerwärmend

Ich komme aus dem Büro nach Hause und niemand ist da. Ich freue mich immer, wenn jemand mich begrüßt, habe aber auch nichts dagegen, hier allein zu sein. Die Post war schon da: Werbung und Rechnungen liegen auf der Treppe. Darunter finde ich zwei `echte´ Briefe an mich – einer von meiner Freundin aus Australien, einer von meiner Nichte. Ich mache mir einen Tee, setze mich aufs Sofa und freue mich über das, was die beiden Frauen mir erzählen. Ein herzerwärmenderes nicht-persönliches Willkommen kann ich mir fast nicht vorstellen.

Schwere Sprache(n)?

„Es ist gut zu wissen, dass ihr okay damit seid …“, schreibt eine meiner Töchter und ich verziehe ein wenig das Gesicht. Sie lebt gerade in einem englisch-sprachigen Umfeld, das erklärt einiges. Dort ist es normal, `to be okay´ zu sagen und zu meinen, dass man etwas in Ordnung findet.

Zu derselben Kategorie gehört, wenn ich davon spräche, dies oder das sei `fein für mich´. Es ist zwar die wortwörtliche Übersetzung von `it is/works fine for me´; idiomatisch korrekt wäre aber, dass etwas gut läuft oder gut ist.

Ebenso löst die Aussage, etwas solle `in Existenz kommen´, bei mir verständnisloses Kopfschütteln aus. Denn ich verstehe zwar, was gemeint ist, staune selbst aber lieber darüber, wenn etwas zustande kommt.

Ich liebe die englische Sprache sehr – ebenso wie meine deutsche Muttersprache. Jede hat ihren eigenen Reiz, samt feststehender Redewendungen und einem sich ständig erweiternden Wortschatz. Es ergibt – nicht macht(!) – für mich keinen Sinn, zwei Sprachen unbedarft miteinander zu vermischen: Sie verlieren dadurch ihre Einzigartigkeit.

Wer lesen kann … reicht manchmal nicht!

„Wer lesen kann, ist klar im Vorteil“, gab die erste Grundschullehrerin meines Sohnes diesem manchmal mit auf den Weg. Ihr Kommentar richtete sich an mich, wenn ich einen der vielen Elternbriefe nicht gründlich gelesen und dadurch irgendein Extra versäumt hatte. Ich kann wohl lesen, dachte ich jedes Mal und fühlte mich sowohl missverstanden als auch unangemessen belehrt: Die vielfältigen Drumherum-Veranstaltungen in Schule waren noch nie meine erste Priorität. Dennoch ist der Satz mir hängengeblieben – mit Beigeschmack.

Gestern landete ein Paket wieder bei mir, das ich vor etwa vier Wochen an meine Tochter in Sambia losgeschickt hatte. Gefahrgut ist außen angekreuzt; innen finde ich einen Zettel. Leider hätte man in diesem Paket `Inhalte festgestellt, die von der Beförderung im internationalen Postverkehr ausgeschlossen sind`. Auf einem weiteren Zettel steht, was alles dazu gehört; unter anderem Parfüm, ein entflammbarer Kosmetikartikel. Wer lesen kann, schießt es mir durch den Kopf, oder besser: Wer AHNEN kann, dass man irgendwo etwas Wichtiges lesen kann, ist klar im Vorteil.

Für das nächste Mal weiß ich (hoffentlich) Bescheid – es sei denn, es existiert noch eine dritte Schwierigkeitsstufe. Ich bin gespannt.

Vorsicht!

„Wer unvorsichtig herausfährt mit Worten, sticht wie ein Schwert; aber die Zunge der Weisen bringt Heilung.“
Sprüche 12, 18

„Manchmal frage ich mich“, sagt eine Frau zur anderen, „warum dein Mann nicht schon längst in der Klapse ist.“ Der Kommentar kommt spontan und ungefiltert; er ist spaßig gemeint und wird auch so verstanden – und doch: Meiner Meinung nach geht er ein kleines bisschen zu weit.

Hinterher denke ich, dass da irgendwie ein ungeschriebenes Gespür dafür existiert, was man sich an den Kopf wirft und was nicht. Natürlich variiert das, was wir einen guten Umgang miteinander nennen, und hängt ab von vielen Faktoren: Sind wir allein oder in Gesellschaft, haben wir eine Geschichte miteinander, in welcher Beziehung stehen wir zueinander … Dennoch gibt es Formulierungen, die mir niemals über die Lippen kämen – oder hinterher sehr peinlich wären und mindestens einer Entschuldigung bedürften.

In dem Fall war ich nicht beteiligt, sondern nur Ohren-Zeugin. Es könnte mir total egal sein, was die eine zu der anderen sagt. Wenn ich aber ehrlich bin, bleibt doch etwas hängen: Die eine vergreift sich offenbar manchmal im Ton, die andere kann als anstrengend empfunden werden. Vielleicht werde ich den Satz wieder vergessen. Wahrscheinlicher ist, dass er, wie unbewusst und geringfügig auch immer, mein Bild der beiden beeinflusst.

Herr, hilf mir, meine Zunge im Zaum zu halten, denke ich, sie ist ein törichtes Ding.

„Siehe, auch die Schiffe, obwohl sie so groß sind und von starken Winden getrieben werden, werden sie doch gelenkt mit einem kleinen Ruder, wohin der will, der es führt. So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rechnet sich große Dinge zu. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an!“
Jakobus 3, 4+5

Ein Gespräch

Freunde bringen uns nach Hause und fragen während der Fahrt, wie es denn sei, wenn die Kinder das Haus verlassen. (Sie sind deutlich jünger und ihre Kinder auch.) Mein Mann meint, ich solle anfangen und die weibliche Sicht schildern. Ich erzähle also von meinen Ambivalenzen:

Wie sehr – und im Nachhinein wie schnell – sich die Beziehung zu Kindern verändert: Von totaler Abhängigkeit über vorsichtige und deutliche Abgrenzung hin zu jungen Menschen, die lebenstauglich in ihr eigenes Leben starten. 
Wie es gerade mich als Vollzeit Mutter schmerzt, dass die Familie sich in gewisser Weise auflöst.
Wie stolz ich bin darauf, was die Heranwachsenden sich zutrauen, dass sie sich rauswagen und selbstständig werden.
Wie schön es ist, dass sie noch gern zu uns nach Hause kommen – ab und zu am Wochenende.

Inzwischen sind wir fast bei uns angekommen; für die männliche Sicht bleibt zeitlich nur noch die Länge unserer Straße. „Reicht mir“, sagt mein Mann und: „Ich finde es gut, dass sie ausziehen und sich selbst kümmern müssen – um die Wäsche, den Haushalt, das Essen, die Finanzen. Außerdem bekomme ich nicht mehr alles mit, was sie machen. Das ist auch gut; es ist ihr Leben.“

Als wir uns verabschieden, lächeln unsere Freunde und bedanken sich, dass wir erzählt haben – eine ausführlich, der andere kurz und knapp.

Mein Tos (sprich: Toss)

„Da ist es wieder, dein Tos“, sagt mein Mann und lächelt dabei. Sofort versuche ich, meine Gesichtszüge zu entspannen und die Stirn zu glätten. Manchmal will ich es nicht wahrhaben: „Da ist gar kein Tos!“, antworte ich dann. Aber es nützt nichts, mein Mann sieht es trotzdem.

Ihm selbst fehlt das Tos komplett, was ich sehr merkwürdig finde. Für mich gehört es zur Grundausstattung jedes ganz normalen Gesichts. Mein Mann verfügt nicht über dieses wichtige Instrument. Ich frage mich zum einen, woran das liegt; zum anderen wundert mich, wie er ohne Tos zurechtkommt!

Das Tos ist ein Spiegel der Seele, ein Tor in der Fassade der (oft unbewussten) Selbstdarstellung. Es ermöglicht non-verbale Kommunikation erster Güte: Sobald ich konzentriert nachdenke oder mich ärgere, zieht sich meine Stirn in der Mitte zusammen – und ganz von selbst erscheint die sogenannte Zornesfalte (englisch: triangle osadness), das Tos. Es offenbart nicht nur meinem Mann etwas über mein Innenleben, sondern auch mir selbst. Denn manchmal merke ich gar nicht, wie angespannt ich innerlich bin. Aber dann sieht mein Mann das Tos – und wir wissen beide Bescheid.

Eine besondere Fremdsprache

Im Zug sehe ich zwei Menschen, die sich in Gebärdensprache unterhalten. Es ist – natürlich – kein Ton zu hören, dennoch bekommen alle Anwesenden das Gespräch mit. Finger, Gestik und Mimik der beiden wirken wie beiläufig und automatisch. Sie müssen über ihre tonlosen Zeichen offenbar ebenso wenig nachdenken wie ich über das, was ich mit meiner Stimme mache.

Gleichzeitig sind sie konzentriert beieinander und beobachten sich genau. Ihre Mimik ist offensichtlich und ausdrucksstark. Es wird übertrieben gelächelt; im nächsten Moment gehen die Mundwinkel stark nach unten. Die zwei sprechen Bände mit ihren Gesichtern: Da ist deutliche Ablehnung zu erkennen und lebhafte Zustimmung, unterbrochen von betont gleichgültigem Kopfschütteln mit Schulterzucken.

Zwei Menschen sprechen eine mir vollkommen unbekannte Sprache. Ich höre nichts und verstehe kein Wort. Aber ich bilde mir ein, ihre Stimmung lesen zu können …