Dem Spott die Macht nehmen …

Wir Celler haben unseren eigenen Rockefeller – nur lebte er im 17. Jahrhundert und fing nicht als Tellerwäscher an, sondern als Bettler: Francesco Maria Capellini, genannt Stechinelli. Obgleich adlig geboren, musste er betteln. Ein Welfen-Herzog traf ihn in Rom und nahm ihn mit nach Celle. 20 Jahre später war der kleine Francesco zum Erbpostmeister und Häusermakler aufgestiegen, verheiratet und Vater vieler Kinder – und so reich, dass sich derselbe Welfen-Herzog von ihm Geld leihen konnte. So weit, so beeindruckend. Francesco war aber nicht nur erfolgreich, sondern auch humorvoll: Stechinelli bedeutet `kleiner Zahnstocher´. Diesen zweifelhaften Titel erhielt er wegen seiner dürren Beine – sie ließen sich in den engen Kniehosen der Barock-Zeit nicht verbergen. Doch Francesco konnte darüber ebenso lachen wie alle anderen: Fortan unterschrieb er mit Stechinelli und ärgerte sich offenbar nicht. Heute tragen einige Häuser und eine Kapelle seinen Namen. Sie erinnern an einen erfolgreichen und umtriebigen Geschäftsmann aus dem 17. Jahrhundert – und nicht an einen Mann mit dürren Beinen.

Das Ergebnis

Wir besitzen zwei palmenartige Pflanzen. Sie sind schon sehr alt, verlieren ständig einige Blätter und sind keine Augenweide. Eine der Palmen wurde dieses Jahr so unansehnlich, dass wir sie auf die Terrasse stellten – und auf den guten Einfluss von frischer Luft und Sonne hofften. Einige Wochen lang geschah leider nichts.

Dann wollte mein Mann die Palme neu zum Austreiben motivieren und schnitt sie kurzerhand ab – ohne Erfolg. Dafür treibt seit einigen Wochen die nicht beschnittene Pflanze direkt aus dem Stamm neu aus. Damit hatten wir nicht gerechnet. Es kann Zufall sein oder der grüne Daumen meines Mannes funktioniert auch indirekt. Egal: Das Ergebnis zählt.

Selbstzweifel?

In einem Buch lese ich einen Satz, der mich innehalten lässt: „I am hopeful that one day I will be able to be as confident and outgoing as I used to be.“ Frei übersetzt heißt das soviel wie: „Ich hoffe, dass ich eines Tages wieder so selbstbewusst und kontaktfreudig sein werde wie früher.“ Da ist jemandem seine Selbstsicherheit verloren gegangen, das kann passieren.

Aber die Frau, die das schreibt, hat in den vergangenen 15 Jahren besondere Fähigkeiten gezeigt: Sie hat beruflichen Erfolg in London eingetauscht gegen ein Leben auf den Schottischen Hebriden: Schafhaltung, spartanische Bedingungen, zunächst mit Partner, dann allein. Alles Neue hat sie mit der Zeit gelernt und sich als Frau behauptet in einer von Männern dominierten Welt und Tätigkeit.

Man könnte meinen, diese Frau habe keinen Grund, an sich zu zweifeln und unsicherer zu sein als früher – was sie erreicht hat, spricht für sie. Aber sie war eben nicht nur allein, sondern einsam und lange Zeit emotional isoliert. Auf der menschlichen Ebene war sie unterversorgt. Kann es sein, dass Beziehung und Wertschätzung für unser Selbstbewusstsein wichtiger sind alles andere?

„Schließlich sind eben die menschlichen Beziehungen doch einfach das Wichtigste im Leben; daran kann auch der moderne `Leistungsmensch´ nichts ändern…“
Dietrich Bonhoeffer

Vom Aufräumen

„Du verstehst das nicht, Mama: Ich hasse aufräumen“, schimpft meine Tochter, „und, nein, ich finde es hinterher nicht schön, wenn es aufgeräumt ist.“ Sie beschwert sich noch ein bisschen weiter, aber ich gehe. Wir haben schon zu oft darüber gesprochen: Ihr Zimmer ist eine begehbare Rumpelkammer; mich regt das auf. „Geh` halt nicht rein“, schlug meine Tochter vor einiger Zeit vor, „ich mach die Tür zu, dann siehst du es nicht.“ Auf die Regel konnte ich mich einlassen – bis heute: Beim Verteilen der sauberen Wäsche entdecke ich schmutzige Socken zwischen ihren Stapeln mit gewaschener Wäsche. „Ich mache eine neue Regel“, entscheide ich daher: „Bringst du saubere und schmutzige Wäsche durcheinander, räumst du auf. Sofort.“

Entsprechend sauer ist meine Tochter – und lässt mich ihr Unverständnis spüren. Hinterher sind wir beide aufgewühlt, derartige Auseinandersetzungen erzeugen einen gewissen Unfrieden. An meiner Tochter liegt es nicht: Sie ist höchst zufrieden und hat ihr Chaos im Griff – auch ohne aufgeräumtes Zimmer! Ich sollte mich damit abfinden.

Schleierhaft oder sonnenklar?

Wenn meinen Mann etwas ärgert, kann er (fast immer) trotzdem gelassen agieren und reagieren – als wäre er unbeteiligt. Für ihn haben Ursache und Wirkung zwar miteinander zu tun, liegen aber nicht nahe beieinander. Wie er das schafft, ist mir schleierhaft!

Wenn mich etwas ärgert, agiere und reagiere ich selten gelassen, sondern meist verärgert – ich bin mitten drin. Ursache und Wirkung liegen nahe beieinander. Ich kann beide erst nach einer Weile voneinander trennen. Was ich dafür tun kann, ist mir sonnenklar: Ich laufe eine Runde.

Verdrängen oder abgeben

„In der Angst rief ich den Herrn an; und der Herr erhörte mich und tröstete mich.“
Psalm 118, 5

„Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen verdrängen und abgeben?“, fragt mich meine Freundin: „In beiden Fällen ist etwas weg.“ Spontan denke ich: Beim Verdrängen sind meine Augen geschlossen, beim Abgeben geöffnet. Aber ist das alles?

Dieselbe Freundin hat Brustkrebs; seit März ist sie in Behandlung – Chemo, Nebenwirkungen, Bestrahlung. Wir treffen uns fast wöchentlich zum Reden und Beten. Wir könnten den Gedanken daran verdrängen, dass sie sterben kann. Die damit verbundenen Gefühle wie Angst und Unsicherheit wären aber weiterhin da: Auch wenn wir sie ignorieren, bleiben sie machtvoll. Unterschwellig würden sie bestimmen, wie es meiner Freundin innerlich geht, wie sie denkt und handelt.

Tatsächlich sprechen wir über den Gedanken, dass sie sterben kann. Die damit verbundenen Gefühle wie Angst und Unsicherheit ignorieren wir nicht, sondern geben sie an Gott ab. Auf wundersame Weise verlieren sie an Kraft: Stattdessen schenkt Gott Frieden und Vertrauen. Diese bestimmen, wie es meiner Freundin innerlich geht, wie sie denkt und handelt.

Linientreu oder Voltaire?

Die Tochter meiner Freundin geht zur Berufsschule. Ein Lehrer fragte dort kürzlich (während des Unterrichts) den Impfstatus ab. Er sprach von einem `sensiblen´ Thema – und forderte dennoch nur die (vier) Ungeimpften auf, ihre Entscheidung zu begründen.

Eine Lehrerin meines Sohnes bezeichnet (während des Unterrichts) die nicht geimpften Schüler als `verantwortungslos´.

Die empfohlenen Maskenpausen (während des Unterrichts) werden an der Schule meiner Kinder nur von wenigen Lehrern erlaubt.

Mitschüler fordern sich (während des Unterrichts) gegenseitig dazu auf, ihre Maske `ordentlich´ über die Nase zu ziehen – es heiße schließlich Mund-Nasen-Schutz.

Meinungsäußerungen sind nicht verboten, ich weiß. Ist es aber momentan ebenso möglich, als Lehrer oder Schüler (während des Unterrichts) andere Ansichten zu äußern? Interessante Diskussionsansätze könnten sein:

`Geimpfte sollten sich ebenso testen wie Ungeimpfte, weil sie ebenfalls infiziert und Überträger sein können.´
`Offiziell haben wir keine Impfpflicht. Aber der inoffiziell gefühlte Impfzwang – ausgelöst durch die Berichterstattung, die Maßnahmen und den Rechtfertigungsdruck – passt nicht zu einer demokratischen Gesellschaft.´
`Ich halte es für bedenklich/angebracht, die weitergehenden Einschränkungen der Grundrechte mit einer zu geringen Impfquote zu rechtfertigen.´

Ich habe den Eindruck, mittlerweile gilt: Wenn man linientreu ist, darf man alles (sagen). Unangepasst wäre es, wir hielten es mit Voltaire: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“
Voltaire (1694-1778)

Unser Auftrag

„Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“
1. Korinther 4, 7

Ich habe einen Schreibauftrag, der umfangreich ist und zu Beginn unübersichtlich; ich fühle mich überfordert und beschäftige mich gedanklich viel damit – vor allem nachts. Allerdings sind meine Tage voll mit Haushalt, Einkaufen, Vorlesen, Hausaufgaben. Dadurch kann ich mit dem Schreiben nicht sofort anfangen. Zwar ärgert und vor allem stresst mich das innerlich; aber ich kann schlecht aus meiner Haut: Wenn viel praktisch zu tun ist, kann ich leider nicht kreativ arbeiten. 

So vergehen zwei Tage, an denen ich hinsichtlich des Auftrages nur meine Gedanken sammle, aufschreibe und Material ordne: Ich gehe `schwanger´ mit meinem Projekt, mehr passiert nicht. Trotzdem lässt der innere Stress nach – wieso? Mir wird bewusst, dass ich nicht allein zuständig bin; es hängt wenig von mir und viel von Gott ab. Er sorgt für alles, was ich brauche – meine Gaben und die äußeren Umstände: Ich liebe es zu schreiben, habe ein Gefühl für Sprache, lege Wert auf verständlich gesetzte Worte und feile gern an Formulierungen. Bei vergangenen Aufträgen war ich bisher immer rechtzeitig inspiriert, hatte genug Zeit und konnte konzentriert arbeiten. Ich vertraue darauf, dass Gott auch diesmal alles Nötige zur Verfügung stellt.

Springkraut

Ich kenne mich mit Pflanzen nicht sehr gut aus, nur wenige kann ich benennen. Das Springkraut gehört dazu; es ist mir nicht nur ein Begriff, uns verbindet gemeinsame Geschichte: Ich verbrachte Teile vieler Sommerferien bei meinen Omas. Sie wohnten nur 300 Meter voneinander entfernt und direkt an einem Friedhof. Dahinter lag (und liegt noch immer) ein Park. Dort wuchs (und wächst sicher noch immer) eine Menge Springkraut. Die reifen Früchte dieser Pflanze platzen bei Berührung auf – so verteilen sich die Samen. Ist die Frucht sehr reif, genügt ein Windhauch; bei den weniger reifen half ich gern nach. Die Samen flogen dann weit durch die Gegend. 

Das Springkraut ist nicht besonders schön und bei Freunden der einheimischen Flora nicht beliebt; manche bekämpfen es auch. Für mich spielt das alles keine Rolle: Mich lässt der Anblick von Springkraut an meine Omas und an diese zweckfreien Spaziergänge in meiner alten Heimat denken. Noch heute helfe ich gern nach, die Früchte zum Aufplatzen zu bringen.

„Heimat ist nicht da oder dort. Heimat ist in dir drinnen oder nirgends“, soll Hermann Hesse gesagt haben. „Da ist etwas dran“, sage ich.

Ich weiß – fast nichts

„So viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“
Jesaja 55, 9

Dieses Jahr ist ein gutes Pilzjahr, habe ich mir sagen lassen und sehe es auch selbst auf meiner Runde durch die Feldmark. Aus einem Fach-Artikel weiß ich, dass wir den Begriff `Pilz´ eher falsch verwenden: Was ich (und die meisten) damit meine, ist `nur´ der Fruchtkörper. Darunter/dahinter verbirgt sich viel mehr. In dem Artikel steht auch, dass Pilze weder Pflanzen noch Tiere sind und noch viel mehr – wovon ich fast nichts weiß.

In unserer Siedlung kenne ich mich aus: Der Straßenverlauf und die Häuser sind mir vertraut; oft kenne ich die Bewohner vom Sehen. Allerdings betrifft das nur die Fassade sowohl der Häuser als auch der Menschen. Hinter den Haustüren verbergen sich Lebenskonzepte, hinter den Gesichtern der Leute Erfahrungen, Gedanken und Gefühle – von denen ich fast nichts weiß.

Vor einigen Wochen war ich im Bodensee schwimmen. Das Wasser war kühl, die Luft warm. Nur ein paar Meter vom Ufer entfernt konnte ich unter mir nichts mehr erkennen. Der Bodensee ist teilweise sehr tief und bewohnt von Pflanzen und Tieren. Ich erinnere mich an das erfrischende Gefühl und die leichten Wellen; aber von dem, was sich im See befindet und abspielt, weiß ich fast nichts.

Ich gehe mit offenen Augen und Ohren durch mein Leben und denke über viele Dinge nach. In der Mitte meines Lebens habe ich eine gewisse Lebenserfahrung, mühe mich, andere zu verstehen, und hinterfrage häufig meine eigene Motivation. Dennoch reagiere ich für mich selbst befremdlich, wenn ich (vielleicht vermeintlich) starken Personen begegne: Von dem, was mich im Innersten herausfordert (und warum), weiß ich (leider noch immer) fast nichts. 

„Haltet euch nicht selbst für klug.“
Römer 12, 16b