Unsortiert

Früh am Morgen habe ich manchmal noch ganz frische Gedanken; ich fasse sie in Worte, mein Mann hört zu. Es geht drunter und drüber – ich merke es selbst. Entsprechend verständnislos (aber freundlich) schaut er mich an. „Menno, manchmal wenn ich dir mein Gedanken-Chaos erzähle, verstehst du mich“, sage ich frustriert, „und dann …“ „… verstehst du dich selbst?“ „Ja, nein, aber du bringst das dann alles in einen schönen Satz, und dann wissen wir beide, was ich eigentlich sagen wollte!“ Er schüttelt den Kopf: „Diesmal nicht, mein Schatz, diesmal nicht.“ Wie schade!

Warum es gut sein kann, keine Wahl zu haben.

Eine meiner Töchter wird zum nächsten Schuljahr Chemie und Biologie abwählen – und investiert sich schon jetzt entsprechend zurückhaltend in diese Fächer. „Ich kann Chemie überhaupt nicht“, sagt sie, „gut, dass ich das abwählen kann.“ Ich kann sie verstehen, weiß aber, dass `überhaupt nicht können´ nur möglich ist, weil sie überhaupt nicht muss. Zu meiner Zeit und in meinem Land ging das nicht – Fächer abwählen. Wir durften in der Oberstufe lediglich entscheiden zwischen Kunst und Musik, das war´s. Weil es keine Abwahl-Alternative gab und diese dann eben in meinem Denken auch nicht vorkam, merkte ich: Ein bisschen Chemie konnte ich eben doch. Ich war (und bin) nicht schlauer oder naturwissenschaftlich begabter als meine Tochter, glaube ich. Ich hatte nur keine Wahl – und das mobilisierte Energien in mir, die mir sonst verborgen geblieben wären.

Das System war nicht besser oder schlechter als das heutige. Aber es hat mir weder geschadet noch das Genick gebrochen, alle Fächer bis zum Abitur belegen zu müssen.

Allergie, Heuschnupfen und mehr

Vor mir radeln eine Mutter und ihr etwa achtjähriger Sohn; sie reden über Heuschnupfen. „ … eine Allergie gegen Gräser“, erklärt sie, und ich denke, dass man ja genau genommen gegen Pollen allergisch ist. Der Sohn weiß das offenbar auch schon: „ … eine Allergie gegen Pollen“, antwortet er nämlich. Ich lächle – aber nur kurz, denn die Mutter beharrt auf ihren Gräsern. Aber dann bin ich auch schon vorbei geradelt und höre die beiden nicht mehr. Es heißt ja, dass man Fragen von Kindern möglichst einfach beantworten soll – und kurz: keine Fremdworte und wenig Drumherum. Aber da hat diese Frau schon mal einen gescheiten Sohn im Grundschulalter. Er weiß nicht nur, was eine Allergie ist, sondern auch, dass man bei Heuschnupfen nicht auf Gräser reagiert, sondern auf Pollen (Blütenstaub, nicht nur von Gräsern). Und was macht diese Mutter mit ihrem kleinen neugierigen Kind, das beim Radfahren neues Wissen einfach so aufsaugt wie ein Schwamm? Sie schickt ihn – vielleicht unwissentlich – in die Info-Wüste.

Sehen und tun

In der Geschichte vom barmherzigen Samariter hilft dieser einem Verletzten, der am Wegesrand liegt – von Räubern bestohlen und geschlagen. Bevor der Samariter anhält und hilft, passierten schon zwei andere Männer die Stelle. Beide sehen den Verletzten und gehen vorbei, so steht es da (Lukas 10, 31+32). Die beiden sind Priester beziehungsweise Levit, also von Berufs wegen beauftragt, Menschen Gott nahe zu bringen. In dieser Hinsicht versagen beide jämmerlich: Sie sehen den zerschlagenen Mann – und sehen ihn doch nicht. Es rührt sie nicht, wie es ihm geht.

Als der Samariter hingegen den Verletzten sieht, `jammerte er ihn´ – er hatte Mitleid. Das ist alles, was ihn von den anderen beiden Männern unterscheidet. Der Samariter sieht den armen Mann dort liegen und öffnet sein Herz; er hilft ihm. Die anderen sehen dasselbe, aber sie verschließen ihr Innerstes. Sie wollen keine Zeit haben für den Mann, wollen ihm nicht helfen müssen und schon gar kein Geld investieren. Sie sind nicht per se total böse und der Samariter total gut; der Unterschied ist geringer: Die einen sehen nur mit dem Verstand, der andere auch mit dem Herzen – und reagiert entsprechend.

Vielleicht ärgert der Samariter sich hinterher, weil alles länger dauert, als er dachte. Vielleicht kommt er zu spät zu seiner Verabredung und bekommt auch das Geld nie zurück, mit dem er die Herberge für den Verletzten bezahlt (Vers 35). Wir erfahren es nicht, weil es darum nicht geht. Entscheidend ist, dass wir sein sollen wie er: uns bewegen und anrühren lassen von dem, was andere durchmachen. Dann werden wir etwas tun. Wir können jederzeit entscheiden, wie viel wir helfen und wie stark wir das Leid unserer Mitmenschen mildern wollen; es existiert keine Vorschrift zur Selbstaufgabe. Aber wir sollen die Not um uns herum wirklich sehen – und nicht einfach daran vorbeigehen.

Praktischer Luxus

„Das ist der schönste Laden, den ich je gesehen haben“, platzt es aus einem Erstkunden heraus. „Das stimmt“, lautet die lakonische, aber selbstbewusste Antwort des Mannes hinter dem Tresen. Ich bin in einem auch aus meiner Sicht ganz besonderen Feinkostgeschäft – im originalen Charme des 19. Jahrhunderts, aber Klima-gekühlt. Die Regalböden sind dieselben wie schon vor 150 Jahren und biegen sich buchstäblich unter der Last der Waren: Gläser mit Honig, verschiedenste Senfsorten, feine Pasteten, Schokoladenartikel, Kräutermischungen zum Anrühren, Öl und Essig in vielen Aromen … und natürlich vor Ort gerösteter Kaffee. Alles steht dicht an dicht, die Auswahl ist außergewöhnlich – und exquisit. 

Wer ein originelles Mitbringsel benötigt, eine raffinierte Spezialität, ein einzigartiges Aroma – irgendetwas, das man sich nur in Ausnahmefällen selbst kauft: In diesem Laden findet man Geschenke für Menschen, die sonst alles haben (aber nicht dekadent). Hier gibt’s praktischen Luxus zum Mitnehmen; auch heute gehe ich nicht mit leeren Händen nach Hause.

Vor uns

In der Zeitung lese ich einen Kommentar: „Die digitale Revolution ist eine Revolution wie keine vor ihr. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg ist nichts dagegen. Ähnliches gilt für die Erfindung des Automobils. Die Digitalisierung mit der Künstlichen Intelligenz als Krönung umfasst sämtliche Lebensbereiche.“ Zunächst kann ich nicht konkret benennen, was an diesen Worten so ungeheuerlich klingt – aber in mir schreit es förmlich: Welch eine Arroganz!

Ein paar Tage später sehe ich ein kurzes Video, in dem sich ein junger Amerikaner über Christoph Kolumbus ereifert. Dieser habe zwar Amerika entdeckt, aber dabei ganze Stämme ausgerottet, unterdrückt oder versklavt. Das sei verwerflich und er selbst sowie seine Errungenschaften daher abzulehnen. Ähnlich bewerten wir Deutschen von unserem heutigen Standpunkt aus Martin Luthers Judenschriften, Hitlers willige Vollstrecker, die Mitläufer in der ehemaligen DDR etc. … Zu all den Gestalten der Vergangenheit und ihren Taten kann man geteilter Meinung sein; keine davon wird ihnen in Gänze gerecht. In besagtem Video reagierte ein nicht mehr ganz so junger Amerikaner auf die Anschuldigungen gegenüber Christopher Kolumbus. Unter anderem sagte er einen Satz: nämlich dass die heute Geborenen auf seinen Schultern stehen würden – wer weiß, wo Amerika heute stände, wäre Kolumbus nicht ins Ungewisse aufgebrochen. Ohne all die schlauen, wagemutigen, neugierigen, entschlossenen … Menschen vor uns, wären wir nicht da, wo wir heute sind.

Man kann die digitale Entwicklung als Revolution bezeichnen oder nicht; man mag sogar von ihr denken, sie sei wie keine vor ihr. Sicher ist: Sie wäre nicht möglich ohne all die revolutionären Entwicklungen vor ihr. Dass wir heute so leben können, wie wir es tun, verdanken wir Generationen von Menschen vor uns. Diese haben zum Teil Großartiges bewirkt – unter deutlich größeren Opfern, als die digitale Weiterentwicklung sie uns heute abverlangt. Es täte uns gut, das einerseits nicht zu vergessen und andererseits respektvoll und wertschätzend an die zu denken, auf deren Schultern wir stehen.

Vertikutreiben

Das Frühjahr ist die beste Zeit zum Vertikutieren – jedenfalls in unserer Nachbarschaft. Es dauert deutlich länger (und ist deutlich lauter), als den Rasen zu mähen, aber dafür macht man es natürlich nicht so häufig. Das Wetter sollte trocken sein und der Boden nicht so nass: Samstagnachmittag passt es.

Für Nachbars Rasen ist das Vertikutieren sicherlich ganz hervorragend: Es beseitigt Moos und Mulch und fördert das Wachstum.
Auf unseren Rasen hat das Vertikutieren der Nachbarn keinen Einfluss: Er zeigt Zonen mit Moos und Mulch – wächst aber trotzdem.
Leider können wir die Zeit, die wir sparen, nicht auf der Terrasse verbringen: Die Vertikutier-Klänge aus der Nachbarschaft treiben uns selbst an die (Garten-)Arbeit – oder ins Haus. 

(M)eine gute Idee

Ich bin zum Geburtstagsbrunch eingeladen und soll einen Obstsalat mitbringen. Meine Tochter berät mich hinsichtlich der Zutaten: Melone, Nektarine, Apfel, Banane, Aprikose, Orange, Granatapfel … Ich besorge alles – und schnippele dann direkt am Morgen eine knappe Stunde lang Obst. Für den Granatapfel schickt mir meine Tochter ein sogenanntes `life hack´-Video, damit ich kein Schlachtfeld anrichte. Es dauert zwar trotzdem eine Weile, bis ich die Granatapfel-Kerne aus ihrer Schale gelöst habe, aber weder ich noch die Küche müssen hinterher grundgereinigt werden. Mit der Obst-Komposition bin ich sowohl optisch als auch geschmacklich sehr zufrieden. Sie hätte von mir sein können.

Das Geburtstagskind wohnt in einem Nachbarort in zehn Kilometer Entfernung. Mein Mann fragt, ob ich das Auto nehme. „Natürlich, was denkst du denn?“, frage ich – und bin im nächsten Moment selbst nicht mehr so sicher. Natürlich könnte ich auch mit dem Rad fahren, denke ich also und packe den Obstsalat in meine Satteltasche. Es ist kalt und windig, aber ich strampele mich warm und bin schon nach 500 Metern froh über diese gute Idee. Sie hätte von mir sein können.

Lückenschluss

Nach fast einem Jahr mit diversen Terminen beim Kieferchirurgen und beim Zahnarzt bekomme ich endlich meine Krone: Lückenschluss.

Die neuen Nachbarn metzelten bei ihrem Einzug eine große Hecke nieder – direkt an unserer Grundstücksgrenze. Seither schauten wir nicht mehr ins Grüne, sondern auf das Nachbarhaus. Jetzt, einige Jahre später, treiben die Äste unseres bislang mickrigen Pflaumenbaums endlich ordentlich aus. Die Fassade ist (jedenfalls im Sommer) zur Hälfte verdeckt: Lückenschluss.

Die Kinder werden selbstständiger, eins nach dem anderen verlässt das Haus; meine Arbeit mit ihnen und für sie nimmt langsam ab. Stattdessen schreibe ich viel mehr Briefe, bete ich ausgiebiger und bin flexibler mit meiner Zeit für andere Menschen: Lückenschluss.

Eine Begegnung

Mein Mann und ich treffen beim Spazierengehen eine entfernte Bekannte. Wir kommen ins Gespräch – beziehungsweise sie erzählt: ohne Punkt und Komma, vom Höcksken aufs Stöcksken, vom Hundertsten ins Tausendste, in epischer Breite … Wir dagegen bekommen kein Bein auf die Erde, keinen Fuß in die Tür, holen keinen Stich, können nicht punkten, sind chancenlos (und stumm) – und können erst nach etwa zehn Minuten Reißaus nehmen, die Kurve kratzen, das Weite suchen und uns freundlich, aber erfolgreich aus dem Staub machen.

Nach der Begegnung sagt mein Mann, er fühle sich wie sturmreif geschossen; den Rest des Heimweges schweigen wir einvernehmlich.