Ausgetrickst

Es wird höchste Zeit, ein Adventspaket an meinen studierenden Sohn zu schicken. Zwar bin ich krank, schaffe es aber, die vorher besorgten Kleinigkeiten einzupacken. Als ich fertig bin, fällt mir ein, dass ich ihm gern unsere selbst gebackenen Lieblingskekse mitgeschickt hätte – die Zutaten hatte ich mir extra schon besorgt. Allerdings: Die Vorstellung mich jetzt mit Schokolade, Zucker, Zimt etc. zu befassen, verursacht mir fast körperliches Unbehagen. Ich habe überhaupt keine Lust zum Backen, gehe aber trotzdem in die Küche und hole alles aus dem Schrank, was ich brauche. `Doppelte Menge, wie immer´, denke ich. Gegen meine Lust fange ich einfach an; ich entscheide nicht, ich mache. Irgendwann bin ich mittendrin und fange an, mich zu freuen: Neben all den Dingen, die mein Sohn sich selbst kaufen könnte, werden in dem Paket auch die Kekse sein, die es bei uns in der Adventszeit IMMER gibt.

Ich habe mich selbst ausgetrickst; es war gar nicht so schwer.

Pause von der Routine

Routine ist hilfreich und schafft Erfahrung: Was ich täglich tue, fällt mir leicht, obwohl das Pensum von außen betrachtet viel und anstrengend wirkt. Routine kann aber auch langweilig werden und ermüden. Zu viel Routine erstickt Neugier – und vor allem die Freude. Es stimmt, dass zu viel Pflicht ein Freudenkiller ist. Ich merke das vor allem dann, wenn sich mein Alltag gnadenlos zwischen mich und meine Spontaneität drängelt. Hamsterrad nennt man das wohl: Es bewegt sich, weil ich es antreibe. Oder treibt es mich an, weil es sich bewegt? Ich nehme an, die Wahrheit liegt – irgendwo dazwischen. Manchmal brauche ich Mut, die Routine zu verlassen und zu gucken, was passiert. Wenn ich es in der Vergangenheit getan habe, war das Ergebnis IMMER positiv.

Viel Mensch, wenig Automat

Automaten zeichnen sich dadurch aus, dass sie zuverlässig gleichbleibende Resultate liefern, wenn man sie mit den richtigen Zutaten versorgt: Zahlenmenge rein – Ergebnis raus; Geld rein – Schokoriegel raus oder so ähnlich. Diese Klarheit ist bestechend vorhersehbar und sehr beruhigend. 

Ein Mensch, der entscheiden muss, wägt automatisch ab, und zwar nicht nur sachliche Argumente: Niemand ist frei von gänzlich irrationalen Beweggründen, wenn auch oft unbewusst. Meist treibt uns eine Mischung aus Verstand und Gefühl – die Kombinationsmöglichkeiten sind Legion.

Ich zum Beispiel folge häufiger wider alle Vernunft meinem Gefühl oder (ab und zu) umgekehrt. Andere kämen in derselben Situation zu einer völlig anderen Einschätzung der Lage: Viele Wege führen bekanntlich nach Rom. Entscheidungsfindung hängt nicht nur ab von den bloßen Fakten, sondern in hohem Maße von der Persönlichkeit. Das ist spannend, schwer vorhersehbar, manchmal anstrengend – und wunderbar anders als bei Automaten!

Fassungslos

Seit 30 Jahren gibt es die DDR nicht mehr; seither geht es immer mal wieder darum, das gute Erbe des `Ostens´ zu erhalten: der grüne Pfeil, bezahlbare Wohnungen mit stabilen Mieten, günstige Grundnahrungsmittel und natürlich Kinderbetreuung für alle. Vor allem zu dem letzten Aspekt steht um den 3. Oktober herum immer etwas in unserer Zeitung. Meist ist es ein Loblied auf die in der DDR konsequent umgesetzte frühkindliche Betreuung außerhalb der Familie. Nur durch sie seien die Frauen im Osten stolz und gleichberechtigt gewesen, heißt es da – im Gegensatz zu den (bedauernswerten) Hausfrauen und Müttern im Westen.

Seit nunmehr 30 Jahren sind Politiker überall in Deutschland bestrebt, das Kita- und Krippenplatzangebot auszubauen. Ich habe im Grunde nichts dagegen: Wer arbeiten gehen möchte oder muss, sollte die Möglichkeit dazu haben. Vor allem Teilzeitmodelle finde ich großartig. Ich bewundere sowohl Arbeitgeber, die junge Frauen oder Mütter beschäftigen – und ziehe meinen Hut vor jeder Frau, die sowohl Muttersein als auch Job gut und gern macht. Allerdings las ich vor einigen Tagen in der Zeitung einen Satz, der mich innehalten ließ: „Die Kita ist für viele Kinder unter der Woche ihr Leben. 60 Prozent der unter Dreijährigen, die in Ostdeutschland in die Kita gehen, bleiben da 45 bis 50 Stunden die Woche“, sagt eine Erziehungswissenschaftlerin. Und eine Kita-Leiterin ergänzt: „Gerade für Krippenkinder ist so ein Acht- bis Zehnstundentag sehr anstrengend.“ Ach nee, denke ich: Gewerkschaftler protestieren oder streiken für deutlich geringere Wochenarbeitszeiten.

Wenn das die ostdeutschen Errungenschaften sind, die unbedingt in der BRD weiterbestehen sollen, kann ich nur fassungslos den Kopf schütteln.

Der Frosch war krank!

„Drei Wochen war der Frosch so krank! Jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank!“, schrieb Wilhelm Busch. Nur meine fehlgeleitete Erinnerung ist es wohl, die meinem Vater „Jetzt quakt er wieder …“ in den Mund legt. Dabei waren mein Vater und meine Mutter früher höchst selten krank, fast nie. Mit einer robusten Gesundheit (und einem gewissen Durchhaltevermögen) sind freundlicherweise auch meine Geschwister und ich ausgestattet. Aber darum geht es bei Busch gar nicht: Entscheidend – und wahr – ist, dass wir sehr dankbar sein können für unsere gesunden Phasen.

`So krank´ definiert sicher jeder anders, für mich zählen normale Erkältungen nicht dazu. Von daher bin ich selten `so krank´, und schon gar nicht drei Wochen. Mir reichen aber auch drei Tage, an denen ich mich wirklich malade fühle. Sofort weiß ich wieder, wie schön es ist, gesund zu sein. Denn – und auch das ist wahr: Die beste Krankheit taugt nichts!

Altersmilde

Ich bin noch immer pünktlich, aber nicht um den Preis menschlicher Beziehungen. Bei uns ist es immer noch sauber, aber nicht auf Kosten eines manchmal chaotischen und lebendigen Miteinanders. Ich möchte noch immer sehr gute Arbeit abliefern, aber ich wäge meine investierte Zeit ab gegen den vielleicht nach außen hin nicht mehr sicht- oder gar messbaren Nutzen.

Ich fühle mich noch jung und bin doch schon altersmilde.

Ist das Standard oder kann das weg?

„Ich hoffe, dass es keine `Beauty-Standards´ mehr gibt, wenn ich mal Kinder habe“, sagt meine Tochter beim Frühstück. Sie hat momentan ständig Hunger, isst und verändert sich – und fühlt sich wohl in ihrer Haut. Ihrer Meinung nach sind Schönheitsideale einfach nur anstrengend und sehr willkürlich: Bei Rembrandt galten üppige Kurven als wunderbar. Später war die Wespentaille populär, vor nicht allzu langer Zeit eine sehr schmale Hüfte beziehungsweise superschlanke Körper mit großem Busen; auch magere Körper galten schon als erstrebenswert. Heutzutage wollen junge Frauen möglichst muskulös sein – merkwürdigerweise vor allem am Po.

Die Details ändern sich immer schneller; aber hartnäckig hält sich ein scheinbar ideales Frauenbild auf den Litfaßsäulen (und wahrscheinlich in den Köpfen vieler Mädchen). In der Realität finden sich dagegen nur wenige langbeinige, vollbusige Frauen mit wohldefinierter Taille und makelloser Haut. Der Normalfall hat verschiedene Gesichter – und jede Frau ihre ganz eigenen Proportionen: wenig oder viel Busen, gepaart mit manchmal schmalen, manchmal breiten Hüften und langen oder kurzen Beinen. Nur einige glänzen von Natur aus mit muskulösen Gliedmaßen; bei den meisten zeichnet sich der Bizeps nicht ab.

Leider sind viele (junge) Frauen unzufrieden mit ihrem `Normal´, weil sie abweichen von dem heute geltenden `Ideal´. Es kostet Kraft, immun zu bleiben gegenüber den unablässigen Einflüsterungen der Mode-Branche. Das weiß auch meine Tochter. Daher wünscht sie sich die Beauty-Standards dahin, wo sie hingehören – auf den Müll.

Kreative Spinner und rationale Macher

Manche Menschen haben am laufenden Band tolle Ideen, sind aber nicht in der Lage, diese umzusetzen. Kreative Spinner, nennt meine Freundin sie – und schließt sich mit ein. Ganz andere Qualitäten haben rationale Macher: Sie sind gut organisiert und diszipliniert und lassen manch verrückte Idee erst Wirklichkeit werden. Beide Menschentypen haben wenige Schnittmengen und gehen einander vielleicht sogar auf den Keks – hoffentlich aber nicht aus dem Weg. Denn kreative Spinner brauchen rationale Macher und umgekehrt. Schön ist es, wenn beide wissen, dass der eine ohne den anderen nur halb so viel bewirken kann.

Wie schön!

Beim Essen reicht mir meine Tochter die Butter, ohne dass ich sie darum bitte. „Du bist sehr aufmerksam“, sage ich zu ihr, worauf sie prompt reagiert: „Habe ich von dir!“ Ich bin dreifach dankbar: dass meine Tochter so ist, wie sie ist, dass sie etwas Gutes von mir übernommen hat und dass sie das so klar artikuliert.

Ein Experiment

Wir halten uns an Vorschriften,
(1) weil sie uns einleuchten,
(2) weil sonst die Solidargemeinschaft nicht funktioniert oder
(3) weil wir sonst bestraft werden.
Bei (1) und (2) fällt uns Gehorsam leichter als bei (3). Trotzdem haben wir in allen drei Fällen die Freiheit, uns daneben zu benehmen: Nur in Armeen gelten andere übergeordnete Regeln, in Diktaturen sowieso. In einer Demokratie dagegen kann ich mich gegen eine Vorschrift entscheiden, ohne gefährliche Konsequenzen fürchten zu müssen.

Die momentan geltende Maskenpflicht im Öffentlichen Verkehr ist eine Vorschrift, die mich zu vorsichtigem Ungehorsam motiviert: (1) Sie leuchtet mir nicht ein; und in Markus Söder erlebe ich inzwischen einen hochrangigen Politiker, dem es ähnlich geht. (2) Meiner Meinung nach leidet das Soziale Miteinander eher unter den Masken, als von ihnen zu profitieren. (3) Die Strafe fürchte ich weniger um ihrer selbst willen; ich fühle mich in der Illegalität einfach überhaupt nicht wohl.

Dennoch entschied ich mich auf meiner letzten Bahnreise zu einem Experiment. Vier aufeinanderfolgende Zugfahrten lagen vor mir: 
In den ersten stieg ich ohne Maske – und setzte sie auf, als mich die Schaffnerin nach etwa zweieinhalb Minuten darum bat.
Im zweiten Zug kontrollierte mich ein bärtiger Schaffner (mit Maske), den ich freundlich anlächelte und ohne Maske sitzen blieb.
Auf dem Bahnsteig vor Zug 3 kam ich mit einer sympathischen jungen Frau ins Gespräch; wir suchten uns gemeinsam einen Platz. Anderthalb Stunden lang sprachen wir miteinander: sie mit, ich ohne Maske. Auf das Gespräch musste ich mich sehr konzentrieren – durch die Maske war mein Gegenüber schwer zu verstehen. Wenn die junge Frau etwas trank, war ich jedesmal überrascht, wie sie aussah und was ich alles in ihrem Gesicht lesen konnte. In diesen wenigen Momenten beneidete ich sie: Sie hatte es mit meinem unverhüllten Gesicht leichter.
In Zug vier saß ich wieder allein. Ich hörte die Durchsage, während der gesamten Bahnfahrt eine Maske über Mund und Nase zu tragen, aß erstmal einen Keks und trank den Rest meines Wassers. Die Weiterfahrt verlief ohne Kontrolle oder andere Zwischenfälle – und für mich ohne Maske.

Keiner der Züge war gerammelt voll, wir drängten uns nicht `auf engstem Raum´. Dennoch war ich (wie erwartet) während meines Experimentes angespannt, weil ich mich außerhalb der bestehenden Regeln befand. Gleichzeitig ging es mir gut: Ich war nah dran an an dem, wovon ich überzeugt bin – sozusagen mit mir selbst im Reinen.