Abhängig und stolz!

In einem Artikel lese ich von der schier unerträglichen Situation der Mädchen und Frauen in Afghanistan: Seit die Taliban wieder an der Macht sind, ist Schulbildung für sie unmöglich; sie werden (wieder) unterdrückt und zwangsverheiratet. Vor allem diejenigen, die in den vergangenen Jahren lernen, studieren und arbeiten konnten, spüren schmerzlich, was sie binnen kürzester Zeit verloren haben. Ein Satz macht mich nachdenklich: `Wie könne jemand, der vorher frei war und nun von jemand anderem abhänge, stolz sein?´ 

Auch ich bin abhängig; wir alle sind es – ob wir es merken oder nicht: von Lebensumständen, Möglichkeiten und Menschen. Mit manchen Zwängen müssen wir uns abfinden oder arrangieren, manche sind uns vielleicht sogar angenehm: Kinder sind zwar völlig abhängig von ihren Eltern, gleichzeitig aber völlig frei in ihrem Verhalten – die Letztverantwortung tragen sie eben nicht. Es ist kein Problem, von jemandem abhängig zu sein, wenn derjenige es grundsätzlich gut mit uns meint und wir ihm vertrauen können. Dann können und dürfen wir – trotz aller Abhängigkeit – auch stolz sein, glaube ich. Für die Mädchen und Frauen in Afghanistan gilt dies leider nicht.

Normalerweise?

Natürlich sind manche Frauen sehr gut mit Zahlen und manche Männer ausgezeichnete (und empathische) Kommunizierer. Ausnahmen bestätigen halt die Regel.

Alleinstellungsmerkmal

Ich gratuliere meinem Neffen zum Geburtstag – per SMS und zur Sicherheit noch in einer Mail. Er bedankt sich prompt und schreibt, ` mein Geburtstagsgruß per SMS sei auf jeden Fall ein Alleinstellungsmerkmal´. Das nennt man wohl Inflation: Normalerweise ist mit dem Begriff eine einzigartige (im Sinne von herausragende) Leistung verbunden. In meinem Fall genügt es, dass ich ein Kommunikationsmittel von vorgestern benutze. Für meinen Neffen gilt dasselbe: Freundlich eine SMS zu beantworten, obwohl er selbst keine schreiben würde, ist – ein sympathisches Alleinstellungsmerkmal.

Ein Nachmittag

Es ist Dorfmarkt in unserem Stadtteil; meine Freundin vom anderen Ende der Stadt möchte mit mir zusammen dort hin. Ich gehe nur ihretwegen – und werde überrascht: Die Stände interessieren mich zunächst weniger, aber ich treffe lauter Bekannte. Viele kenne ich oberflächlich, weil ich eben hier wohne; einige etwas besser. Ein interessantes Gefühl von Heimat macht sich in mir breit.

Wir setzen uns unter hohen Eichen auf Stühle, trinken ein Glas `Hauswein weiß´ und unterhalten uns. Einige Standbesitzer sind historisch bekleidet; die Sonne scheint. Es fühlt sich ein bisschen an wie vor hundert Jahren – entspannt geschäftig und ganz wunderbar. Zwei Stunden später fährt jede von uns in ihre Richtung nach Hause. Ich bin dankbar, mit wie wenig Aufwand ich einen ganz besonderen Nachmittag erleben konnte.

Nur ein Fotobuch!

Freitagabend: Der Computer, mit dem ich Fotos zu Kalendern oder Büchern verarbeite, hat eine Datei gelöscht, an der ich viele Stunden gesessen habe. Ich durchsuche den Rechner, die Zwischenablage, den `Zuletzt benutzt-Ordner´. Nichts. Dieses spezielle Fotobuch speist sich aus vielen verschiedenen Quellen: Fotos in meinen eigenen Ordnern, in Mails, Nachrichten, von meinen Töchtern übermittelt … Ich bin einigermaßen verzweifelt – auch wenn das in Besuch auf ein verschwundenes Fotobuch ein sehr starker Begriff ist. Vor mir sehe ich einen großen Berg Arbeit, von dem ich dachte, ihn hinter mir gelassen zu haben. Mir fehlen die Worte: Ich bin gleichzeitig frustriert, wütend, resigniert und erschöpft. Abends betet mein Mann, Gott möge die Datei irgendwie wieder herstellen. Er sagt: „Wir wissen nicht, ob du es tun willst, aber wir glauben, dass du es tun kannst.“ Ich höre in mich hinein – glaube ich das wirklich? Theoretisch sage ich dazu `Amen´; praktisch rechne ich nicht damit.

Am Samstagmorgen ist die Verzweiflung auf ein erträgliches Maß gesunken: Der erste Schritt ist der halbe Weg, das weiß ich schon. Ich werde mich nächste Woche neu an die Arbeit machen. Mein Sohn fällt mir ein: Seine erste Antwort auf ein Computerproblem ist ein Neustart. Ich weiß nicht, was das in diesem Fall bringen soll. Trotzdem probiere ich es aus, warte aber nicht ab, was passiert – heute habe ich anderes zu tun: Nach einem Unkraut-Gang durch den Garten, vor dem Fußballspiel meiner Tochter, während die Wäsche trocknet, gehe ich später am Computer vorbei: Die Datei ist wieder da – als wäre sie nie verschwunden gewesen. Ich fasse es nicht. Welch ein Geschenk, was für ein gnädiger, freundlicher, zugewandter Gott! Es ist nur ein Fotobuch, aber für mich eine sehr barmherzige Antwort auf meine Zweifel!

Köpfchen (und mehr)

„Da ist Köpfchen dahinter, das sieht man nur nicht“, sagt meine Freundin. Sie erschafft alltäglich aus parallel ablaufenden Tätigkeiten am Ende ein Tagwerk, über das ihr Mann nur staunen kann. Ich weiß, was sie meint; mir geht es ähnlich. Ich bin höchst vielschichtig unterwegs; mein Tagesablauf mag durcheinander wirken, ungeplant oder nicht koordiniert – alles falsch: Es steckt System hinter den gewöhnlichsten Abläufen, weibliches System. Tendenziell koppeln wir Frauen unseren Verstand mit Intuition und Gefühl. Einfach und rational erklärbar ist das nicht, weshalb wir – wo auch immer wir uns einbringen – sehr schwer zu ersetzen sind … 

Grenz-Erweiterung

Ich laufe immer im selben Tempo – denke ich. Tatsächlich stimmt das schon seit einigen Jahren nicht mehr: Ich fühle mich zwar noch immer so schnell wie früher, werde aber – altersbedingt – immer langsamer. Nur wenn ich die Zeit stoppe, registriere ich den Unterschied. (Also stoppe ich die Zeit nicht oder nur höchst selten.)

Die Zeit selbst ist mir egal; ich habe kein Ziel im Kopf, das ich erreichen möchte. Dennoch breche ich manchmal aus meinem normalen Trott aus und fordere meinen Körper heraus. Nur dadurch verhindere ich, dass ich immer schneller immer langsamer werde: Wenn ich beweglich bleiben möchte, muss ich regelmäßig an die Grenze gehen – oder darüber hinaus: Das ist (buchstäblich) kein Spaziergang, setzt aber vorher unbekannte körperliche Reserven frei.

Was für den Körper gilt, stimmt ebenso für den Geist: Geistig beweglich bleibt nur, wer gedanklich an die Grenze geht – oder darüber hinaus. Dabei kann eine neue Sprache helfen, ein Musikinstrument, eine Debattier-Runde … Auch die Beschäftigung mit Sichtweisen jenseits meiner eigenen Denk-Grenzen trainiert die mentale Flexibiliät: Das ist herausfordernd, beflügelt aber den Geist.

Vorbei

Nach dem Regen der vergangenen Tage wächst der Löwenzahn am Wegesrand ganz wunderbar: `Super Stelle, um Kaninchenfutter zu flücken´, schießt es mir aus alter Gewohnheit durch den Kopf – obwohl wir schon seit einigen Monaten keine Kaninchen mehr haben. Vorbei, … die Kaninchenphase ist vorbei.

Wir verschenken die Roller, die keiner mehr benutzt; und der Garten ähnelt weniger einem Spielplatz als noch vor drei Jahren: Weg sind das Trampolin, der Sandkasten, die Reckstange und im Sommer der Pool. Mit den beiden Fußballtoren können wir leben – und rücken sie zur Seite, wenn sie keiner braucht. So gefällt uns die Aussicht von der Terrasse besser. Vorbei, … die Kinder-Tobe-Phase ist vorbei.

Die wenigsten Kontakte halten über Jahrzehnte. Im Laufe unseres Lebens verlieren wir Menschen wieder aus den Augen – weil sie wegziehen, die Kinder nicht kompatibel sind oder es doch nicht so gut passt … Vorbei, … manche Beziehungsphasen gehen vorbei.

Alles hat seine Zeit; auch der jetzige Status quo hat sicherlich einige (materielle oder andere) Eigenheiten, die irgendwann der Vergangenheit angehören werden. Vorbei, … das Leben geht vorbei. Uns gehört nur der Moment … 

Dèjá vu

Wir holen zwei Kinder von einer Freizeit ab: einen Teilnehmer, und eine Mitarbeiterin. Ein anderer Mitarbeiter wird von seiner Frau und den Kindern abgeholt: Zwei stehen schon auf eigenen Füßen, eins noch nicht. `Wahnsinn, sind die Kinder dicht beisammen´, denke ich, `alle noch so klein!´ Die beiden Mädchen wandern zwischen Vater und Mutter hin und her, der Kleine sitzt im Buggy – alle wirken ganz entspannt. Später erfahre ich, wie alt sie sind: sieben Monate und zwei beziehungsweise vier Jahre. `Fast so dicht wie unsere´, denke ich jetzt – und staune: Was von außen betrachtet nach `Wahnsinn´ aussieht, fühlt sich innen drin meist normal und wunderbar an.

Regional und saisonal

Auf einer Laufrunde am Nachmittag halte ich kurz an, um meine Freundin die Bäuerin kurz zu umarmen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Zum Abschied erzählt sie von ihren Plänen fürs Abendbrot – sie wollen grillen. „Bei uns gibt es Kohlrabi-Gemüse“, sage ich. Sie hebt die Hand und zeigt eine runde Form in Größe eines kleinen Hühnereis: „Meiner ist noch nicht so weit.“ Ich schmunzele und laufe amüsiert weiter: Supermärkte und Gaststätten werben mit `regional und saisonal´. Meine Freundin redet nicht über Nachhaltigkeit, sie geht einfach in ihren Garten …