Ostern – sehr real

Ferien sind Pausenzeiten. Noch dazu sind für ein verlängertes Wochenende nur drei von uns zu Hause. Ich tauche ab in nicht strukturierten relativ freien Tagen, rede wenig und lasse mich treiben. Dann nimmt der Alltag langsam wieder Fahrt auf: Das Auto muss in die Werkstatt; Familienmitglieder kommen zurück beziehungsweise für Ostern nach Hause; das Wetter eignet sich plötzlich (endlich?) doch für Gartenarbeit. Am Ostersonntag habe ich alles da fürs Frühstück – aber wenig Osterfreude im Herzen und auch nicht österlich dekoriert. In den Losungen lesen wir einen Vers, der mich trifft: „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ (Offenbarung 1, 18) Mal wieder erlebe und spüre ich: Egal, wie ich mich fühle, Jesus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden! Heute Morgen (mehr als sonst) ist das Trost und Hoffnung zugleich.

(Als wäre das nicht genug, steht vor der Tür ein Korb, großzügig gefüllt mit hartgekochten bunten Eiern und schokoladigen Freundlichkeiten. Gott sorgt für die Seele und den Leib.)

Die Chance einer leeren Seite

In einer kürzlich erschienenen Ausgabe der ZEIT waren zwei Seiten nahezu leer, auf der ersten stand lediglich: `Was ist jetzt noch unvorstellbar?´ In einer darauffolgenden Ausgabe erschienen einige Leser-Reaktionen darauf. Manche fanden die Aktion gut und beantworteten die Frage; andere ärgerten sich: Für eine derartige `redaktionelle Entgleisung´ würden sie kein Geld bezahlen wollen.

Ich musste nicht lange über die Frage nachdenken – für mich ist fast alles vorstellbar. Die weiße Seite selbst war in meinen Augen ein interessanter Gedankenanstoß: Vielleicht ist es heutzutage gut, ab und zu NICHTS zu lesen, KEINEN Input zu haben und KEINEN Außenreiz. Das hilft mir dabei, die Fülle der Gedanken und Gefühle zu sortieren, die mich täglich umtreiben. Manche Leute fahren dafür ins Kloster oder nehmen sich eine Auszeit – und geben eine Menge Geld dafür aus. Damit verglichen ist eine leere Zeitungsseite eine günstige Gelegenheit, während eines vollen Tages innezuhalten und bei sich selbst zu sein.

Ganz schön schnell!

Viele finden es gut, dass man auf deutschen Autobahnen teilweise so schnell fahren darf, wie man will. Ein Tscheche fuhr vor kurzem kurzzeitig mehr als 400 Stundenkilometer – und brachte die Gemüter in Wallung. Einige staunten, andere schüttelten den Kopf. Es hängt sehr vom Auto ab, wie schnell man etwas empfindet: In unserem Auto reichen mir 160 Stundenkilometer, um mich `ganz schön schnell´ zu fühlen: Unter Kontrolle habe ich auch das nur, wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht und alle anderen mit aufpassen. 400 sind mehr als doppelt so viel – was ziemlich abstrakt klingt: Konkret sind es 111,11 Meter pro Sekunde. Das bedeutet, dass dieser Tscheche einmal durch unsere Straße rast, während ich die ersten zwei Schritte mache, um sie zu überqueren. Das ist nicht nur ganz schön schnell, sondern meiner Meinung nach zu schnell – auch auf einer leeren Autobahn. Nicht alles, was man darf, ist auch gut.

Von Kindern und Müttern

Wir fahren selten mit dem Auto durch die Waschanlage, sehr selten. Daher war ich gestern ehrlich überrascht, wie laut es da drin ist – und erinnerte mich an eine ähnlich einprägsame Erfahrung vor einigen Jahren. Damals war mein jüngster, etwa dreijähriger Sohn dabei. Er saß ruhig und erwartungsvoll in seinem Kindersitz, allerdings nur wenige Sekunden. Mit diesem Lärm hatte er nicht gerechnet und fing an zu weinen. Ich nahm ihn auf den Schoß – sofort wurde er wieder still: Kleine Kinder haben kleine Sorgen, gegen die mütterlicher Trost und körperliche Nähe wie eine Wunderwaffe wirken.  Das ist super – auch für die Mutter.

Heute kam meine fast 16-jährige Tochter aufgewühlt nach Hause. Sie hat seit Monaten Stress mit einer Person: Manchmal ist diese freundlich, oft aber unberechenbar unfreundlich, genervt und vorwurfsvoll. Meine Tochter belastet diese gestörte Beziehung mal mehr, mal weniger – heute brach sie deswegen in Tränen aus. Ich nahm sie in den Arm, aber ihr Frust und ihre Trauer blieben: Große Kinder haben große Sorgen, gegen die mütterlicher Trost und körperliche Nähe leider nur wenig ausrichten können. Das ist höchst bedauerlich – auch für die Mutter.

Nicht mehr `im Westen´

Ich bin im Osten aufgewachsen; eine meiner Tanten lebte in der Nähe von Braunschweig. Das hieß: räumlich, aber vor allem ideologisch `im Westen´ – unerreichbar und fremd, immer verbunden mit einer gewissen Sehnsucht. Heute liegt Braunschweig in erreichbarer Entfernung; ich fahre aber fast nie hin. Die Stadt ist mir ebenso fremd wie früher, ihr Name klingt für mich noch immer ein wenig nach dem Zauber des Westens.

Seit kurzem studiert mein Sohn in Braunschweig; für ihn ist es eine Stadt wie jede andere in Deutschland. Sie ist nicht unerreichbar oder fremd und auf keinen Fall `im Westen´ – weder räumlich noch ideologisch. Vielleicht werde ich jetzt ab und an mal dort sein und die Stadt ein bisschen kennenlernen; der Zauber wird verfliegen. Die gewisse Sehnsucht nach der fremden Stadt `im Westen´ wird der Realität weichen: Braunschweig liegt mittendrin in Deutschland, von Celle aus gesehen im Süd-Osten.

Wie geht es dir?

Eine kurdische Frau in der Nachbarschaft grüßt immer freundlich und erkundigt sich im Vorbeifahren immer nach meiner Familie: „Wie geht es dir und den Kindern?“, ruft sie mir fast immer hinterher; aber so `richtig´ haben wir noch nie miteinander geredet. Seit einigen Monaten sieht sie krank aus. Oft trägt sie ein enges Tuch um den Kopf und ist langsam und mit Rollator unterwegs. Ich bin unsicher, ob ich sie ansprechen soll – und tue es irgendwann doch. Wie es ihr gehe, frage ich, und erfahre, dass sie Magenkrebs hat(te), inklusive Chemotherapie: „Seit viereinhalb Monaten kann ich nicht richtig essen“, sagt sie. Daher werde sie künstlich ernährt und fühle sich kraftlos – kein Wunder. Wir reden ein paar Minuten, dann zieht sie weiter. Zum Abschied erkundigt sie sich – natürlich – nach den Kindern und schiebt hinterher: „Danke, dass du gefragt hast!“ Ich schäme mich, dass ich das nicht schon viel früher getan habe.

Privilegiert

„Meine privilegierte Lage ist mir bewusst, ich lebe allein und darf von zu Hause aus arbeiten“, lese ich in einem Artikel. Ein Mann beschreibt seine Situation während der Pandemie; aber eigentlich geht es um die Zeit danach und den Umgang mit Ängsten: Nach zwei Jahren selbstgewählter Isolation fürchtet sich dieser Mann vor persönlichen Kontakten. Also lässt er sich beraten und tastet sich langsam wieder heran an das `normale´ Leben außerhalb seiner Ein-Mann-Blase.

Ich merke, dass ich solcherart Ängste nur schwer nachvollziehen kann – aber natürlich tut der Mann mir leid. Was mich aber gedanklich stolpern lässt, ist sein Verständnis von `privilegiert´. Allein zu leben und weder für die Arbeit noch in anderer Mission aus dem Haus zu kommen – in meinen Augen ist das eine Strafe. Als Privileg erlebe ich stattdessen: Ich teile meinen Alltag mit Menschen und pflege darüber hinaus weitere persönliche Kontakte. Genau das hat mir während der Pandemie gut getan – und eine eventuelle Angst vor dem `normalen´ Leben im Keim erstickt.

Abschied

Von allen menschlichen Beziehungen verändert sich die zwischen Eltern und Kindern wahrscheinlich am stärksten: Es ist für beide großartig, wenn Kinder klein sind – absolut vertrauensvoll und neugierig. Die Pubertät ist herausfordernd für alle; aber ein paar Jahre später ist das Miteinander neu sortiert, geklärt und wunderbar! Dann trennen sich die Wege – und es wird wieder alles anders.

Unser ältester Sohn ist 20. Er ist schon lange ein Gegenüber, geistig ernst zu nehmen, körperlich sowieso. Vor einem halben Jahr ist er ausgezogen. Das war vorher klar und an der Zeit – trotzdem war dieser Abschied nicht leicht. Der Verstand lässt sich kontrollieren; die Gefühle machen, was sie wollen. Wie man sich auf das Leben mit Kindern nur schwer vorbereiten kann, so ist auch der Abschied von ihnen ein Lernprozess. `Scheiden tut weh´, heißt es – das stimmt, vor allem am Anfang. Mit der Zeit lässt der Schmerz nach; und die Beziehung erfährt eine neue Qualität. Das ist eine tolle Phase – ich könnte mich daran gewöhnen. Allerdings liegen unsere Kinder vom Alter her dicht zusammen: Diesen Sommer verlässt uns das zweite. Der nächste Abschied lauert schon `hinter der nächsten Ecke´ … 

Ultimativ

„Was kann ich ihr schenken, Mama?“, fragt mich meine Tochter schon zum dritten Mal. `Das weiß ich doch nicht!´, möchte ich ihr am liebsten entgegen schmettern – aber damit würde das Fragen nicht aufhören. Stattdessen überlege ich mit ihr zusammen: Diese Freundin ist erwachsen, hat alles, ist meiner Tochter gegenüber sehr großzügig und liebt (und besitzt) Pferde. Mehr weiß ich nicht; mehr scheint auch meine Tochter nicht zu wissen. Normalerweise bin ich ein ausgesprochener Bücher-Schenker; aber ich habe keine Ahnung, ob sie liest – geschweige denn, was. Ein Buch funktioniert also nicht. Geht irgendetwas für Pferde? Das wäre zwar praktisch – aber auch ein bisschen einfallslos.

Erst zwei Stunden später (beim Staubsaugen) fällt mir etwas ein, worüber ich mich auch freuen würde. Es ist praktisch und gleichzeitig besonders – das ultimative Geschenk schlechthin: Kürbiskernöl.

Natürlich kann es sein, dass sie keinen Salat mag oder allergisch gegen Kürbisse ist. Dieses Risiko nehme ich billigend in Kauf: Kürbiskernöl lässt sich gut weiter verschenken. Was meine Tochter davon hält, weiß ich nicht. Aber von mir wird sie keine bessere Antwort auf ihre Frage bekommen.

Beziehungen

Beziehungen schaden nur dem, der keine hat, sagt man. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Klar, ich bekomme etwas, worauf andere verzichten müssen. Einige werden neidisch sein auf meine Privilegien – darauf würde ich gern verzichten.