Hingucker

In unserer Nachbarschaft wohnt eine Frau, die keinen Zaun an der Straße hat. Wer vorübergeht, kann seinen Blick frei in den Vorgarten schweifen lassen. Die Grenze ist dennoch klar: Ein kleines altes Mäuerchen steht da; momentan ist es dekoriert mit bepflanzten Gummistiefeln – es sieht sehr freundlich aus.

Andere Hausbesitzer sind offenbar Anhänger neumodischer Zäune: Metallgerüste mit Plastikplanen, knapp zwei Meter hoch und alles in dunkelgrau. Diese gewährleisten vollkommenen Sichtschutz – und sehen sehr steril aus. 

In beiden Fällen ziehen die markierten Grundstücksgrenzen die Blicke regelrecht an und doch unterscheiden sie sich – in Hingucker und kein Hingucker.

Was wir brauchen

Ich liebe Harald Martensteins wöchentliche Kolumnen in der ZEIT. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, schreibt dabei aber nicht arrogant, sondern freundlich. Sein Stil ist humorvoll und selbstironisch und trotzdem tiefgründig. Meist lese ich seine Zeilen lächelnd und nickend – ich sehe manches ähnlich. Vor einiger Zeit zum Beispiel schloss er mit den Worten: „Die Menschen, die vor uns gelebt haben, waren wie wir, die irrten sich ständig und dachten dabei, sie seien die Klügsten. Was man aus der Geschichte lernen kann, ist nicht die Arroganz, sondern eher der Zweifel an dem, was fast alle für die Wahrheit halten.“ Während die meisten Menschen zur Zeit vehement streiten und immer weitere Argumente suchen, bringt er auf den Punkt, woran es uns wirklich mangelt – an Demut.

Perspektive

Drei Verwandte haben Geburtstag – aber ich bin zu beschäftigt und schaffe keine analogen Grüße. Praktischerweise sind alle drei eine Woche später wegen einer Familienfeier bei uns: Ich schreibe nachträglich meine Wünsche auf Karten und will sie übergeben. Leider vergesse ich das ausgerechnet bei meiner Nichte, der ich auch ein Buch schenken möchte: Am Abend schicke ich ihr – digital – ein Foto von dem, was noch immer bei uns liegt, und kommentiere es mit: „Ich bin so doof – es ist wahrscheinlich das Alter.“ Sie antwortet umgehend: „Nein, du hast Post-Solidarität!“

Ich muss zweimal lesen, bevor ich verstehe, was sie meint. Dann kann ich lächeln und weiß mal wieder: Es ist alles eine Frage der Perspektive!

Zermürbungstaktik

Ein Hauptstadt-Korrespondent wettert in unserer Tageszeitung schon seit einiger Zeit gegen die Ungeimpften. Gestern las ich von ihm, dass offenbar nur noch diejenigen sich nicht impfen lassen, die sich `grundsätzlich verweigern, weil sie irren Verschwörungstheorien glauben oder Impfungen generell ablehnend gegenüber stehen´. Und bei denen helfe nur noch eins, nämlich eine Zermürbungstaktik– `als befänden wir uns im Krieg´, denke ich.

Drei Gründe führt er an: Die Geimpften fürchten sich vor einer Infektion durch die Ungeimpften. Die Ungeimpften verhindern, dass die Geimpften ihre Normalität wieder bekommen. Drittens müssen die Geimpften die `exorbitanten Kosten´ mittragen, die Ungeimpfte im Falle einer schweren Covid-19-Erkrankung verursachen.

Er findet daher, dass nicht weiter auf die Befindlichkeiten der Ungeimpften Rücksicht genommen werden könne. Es helfe nur, den Druck zu erhöhen – durch 2G, durch kostenpflichtige Tests, durchs Streichen der Lohnfortzahlung im Falle von Quarantäne. Zermürbungstaktik eben.

All das klingt, als würden sich Menschen nicht impfen, weil sie die Geimpften irgendwie ärgern wollen: Ließen sich mehr Leute impfen, ginge es den anderen Geimpften in jeder Hinsicht besser. Die Geimpften denken in dieser Diskussion offenbar sehr an sich – und die Ungeimpften sollten möglichst auch sehr an sie denken.

Es funktioniert: Mich zermürbt diese Denke, diese Schuldzuweisung, dieser ständig spürbare Druck, dieses Stigmatisieren. Ich bin ein bisschen wütend, aber – ganz ehrlich – eher traurig, dass wir hierzulande so mit Andersdenkenden umgehen. Die meisten Ungeimpften sind keine Verschwörungstheoretiker oder generelle Impfgegner. Sie haben andere Gründe, sich (vielleicht im Moment) nicht impfen zu lassen. Das scheint nicht mehr ihr gutes Recht zu sein, sondern Grund, sie fortwährend und immer massiver in die Ecke zu drängen. Es ist sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis der eine oder andere aufgibt – und sich doch impfen lässt. Das würde die Impfquote erhöhen, aber ich bezweifle, dass man das einen `Erfolg´ nennen sollte: Langfristig stärkt es eine Gesellschaft mehr, wenn man unterschiedliche Befindlichkeiten nicht ignoriert, sondern ernst nimmt.

PS: Unter `Zermürbungstaktik´ finde ich auf der Seite eines Anwalts folgende Sätze: „Sie glauben nicht, mit welchen Methoden man Arbeitnehmer zermürbt, sie bei der Arbeit solange madig macht, bis sie Fehler begehen, krank werden oder entnervt von selbst kündigen! Man nennt sie Zermürbungstaktiken, und sie sind im Standardrepertoire der fiesesten Arbeitgebertricks.“ (Alexander Bredereck, anwalt.de)

Vom Umziehen

Menschen zwischen 20 und 30 ziehen um: Das ist die Zeit, in der die Ausbildung endet, man den Job wechselt, heiratet oder Kinder bekommt. Umzugshelfer finden sich im Freundeskreis. Besonders beliebt sind die Zupackenden – und die mit einem großen Auto. Wir waren erst das eine, später beides; mittlerweile ist unser Freundeskreis sesshaft, das ist gut.

In meiner Erinnerung ist jeder Umzug anders: gut oder schlecht organisiert, ausreichend oder zu wenige Helfer, keine Treppenhäuser oder zu enge … Andererseits ist jeder Umzug gleich: Es ist dem Helfenden vorher nicht klar, ob er ein- oder auspacken muss, Kisten oder Möbel tragen wird, Autos fahren oder Stereoanlagen aufbauen soll. Währenddessen interessiert keinen, was man anhat: `alt und bequem´ reicht aus. Nach dem Umzug freut man sich auf die eigenen vier Wände – ohne Kisten und dafür mit eingeräumten Regalen und so weiter. 

Unser Sohn half gestern einer Freundin beim Umziehen; er wusste vorher nicht, was ihn erwartet und wie lange es dauern würde. Abends wurde es spät und er war dankbar für sein nicht-provisorisches Zuhause. `Manches ändert sich nicht´, dachte ich. Nur in `alt und bequem´ geht heute offenbar niemand mehr aus dem Haus – nicht einmal als Umzugshelfer. 

Das Wichtigste

An einem dieser Tage, an denen es mir `gerade nicht so gut´ geht:

Bei der Pfandflaschen-Rückgabe stockt es. Das passiert mir öfter; normalerweise hat hier niemand Zeit. Aber heute erklärt mir ein Mitarbeiter geduldig, dass der deutsche Automat die in Dänemark gekaufte Cola-Flasche nicht erkennt. Danach hilft er mir mit den Flaschen, die der Automat nicht akzeptiert, obwohl sie zum Sortiment gehören. 

Zu Hause schmettert mir der Älteste zum Abschied ein fröhliches „Bis später, hab dich lieb!“ entgegen.

Meine Nachbarn, aufmerksame Beobachter, laden mich spontan zu einem Sundowner ein – obwohl wir den letzten dieses Jahres schon vor vier Wochen getrunken haben. Als ich das kühle Wetter erwähne, überzeugen sie mich mit einem klaren: „Sundowner kann man auch drinnen genießen.“

Dietrich Bonhoeffer hat recht: „Schließlich sind eben die menschlichen Beziehungen doch einfach das Wichtigste im Leben …“ Freundliche Begegnungen streicheln die Seele.

Kurze Frage – lange Antwort

„Wie geht es dir?“ ist eine Frage, die ich mit einem Wort nur unzureichend beantworten kann. „Gut“, könnte ich sagen, und es wäre die Wahrheit: Wem geht es so gut wie mir? Ich habe von allem genug oder sogar mehr. Andererseits finde ich sicherlich immer etwas, was mir gerade nicht 100-prozentig behagt. Ebenso zutreffend wäre also: „Gerade nicht so gut.“ Ich nenne das dann zwar `Jammern auf hohem Niveau´, aber ein bisschen meine ich es doch auch ernst. Die Wahrheit liegt wie so oft irgendwo dazwischen. Wenn ich diese in einem Wort zusammenfassen soll, käme „Durchwachsen!“ heraus – treffend, aber nicht besonders aufschlussreich. Wer mehr wissen will, muss nachfragen und Zeit mitbringen.

Vertrauen

„Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat“, heißt es in der Bibel (Hebräer 10, 35). Es geht dabei NICHT um das Vertrauen in uns selbst, sondern in Gott. Theoretisch ist das klar, aber praktisch setze ich sehr auf meine eigenen Fähigkeiten. Erst wenn ich nicht weiterkomme, bitte ich Gott um Hilfe, aber selbst dann bleibt ein Rest von `ICH schaffe das´ – bis es wirklich nicht mehr geht.

Ich habe einen (Schreib-)Auftrag, der mich herausfordert. Soweit – so gut: Komfortzonen sind dazu da, sie zu verlassen. `Ich schaffe das schon´, denke ich, `ich kann ja was´. Weil ich zu wenig weiß, bitte ich jemanden um Hilfe, der sich besser auskennt. Nach unserem ersten Treffen habe ich mehr Fragen als vorher und bitte um ein zweites und drittes Gespräch. Ich bezahle für die Informationen mit Geld und Zeit – und öffne eine Art Pandora Box. Die schiere Menge an Fakten und Themen erschlägt mich und raubt mir meine innere Ruhe. Aus dem zuversichtlichen `ICH schaffe das schon.´ wird innerhalb von drei Tagen ein ohnmächtiges `ICH kann das nicht.´ Also bete ich: „Hilf mir, Gott, ich vertraue dir (dass ich etwas schaffe)“ – und mache trotzdem selbst weiter: Meine Gedanken sind beherrscht und getrieben von der Aufgabe. Ich bemühe mich und komme doch nicht weiter – und bin unfähig, ratlos, unsicher und nervös. Ich fühle mich überfordert und wie im `freien Fall´ – nicht schön.

Irgendwann kapituliere ich innerlich; ich lasse den Auftrag los – und gleichzeitig meine Angst zu scheitern. Ich bete: „Hilf mir, Gott, ich vertraue dir (dass du etwas schaffst).“ An den Fakten ändert sich nichts; aber ich denke wieder über andere Dinge nach und lebe in Ruhe mein normales Leben. Mein `Ich kann das nicht´ verliert seinen Schrecken. Ich `falle´ nicht mehr, sondern `halte´ mich fest an Gottes Zusage: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“ (Römer 8, 28)

Ich bin zwar der Lösung keinen Buchstaben näher und mir ist nicht klar, wie es weitergeht. Dennoch bin ich gelassen und innerlich befriedet – weil ich nicht auf meine Fähigkeiten vertraue, sondern auf Gott.

Ein Lächeln

Letzte Woche musste ich mich testen lassen und wartete zusammen mit einigen anderen auf das Ergebnis. Ich kannte niemanden von ihnen, aber mit einem älteren Herrn kam ich ins Gespräch. Es ging weniger um Corona oder DIE Impfung; es war einfach ein freundliches Allerwelts-Gespräch. Als wir unsere Bescheinigungen erhielten, sagte er zu mir: „Ich bin negativ – das ist ja positiv.“ Wir verabschiedeten uns mit einem Lächeln.

Abhängig

Ich schaue meiner Tochter beim Reiten zu. Das Pferd, das sie reitet, ist groß und kann etwas. Die beiden harmonieren gut miteinander: Schritt, Trab und Galopp im Wechsel, verschiedene Figuren – alles sieht geschmeidig aus. Gleichzeitig reitet eine junge Frau. Ihr Pferd ist ebenfalls groß und kann etwas; aber die beiden kämpfen miteinander: Im Schritt geht es, im Trab bricht das Pferd immer wieder aus, wechselt abrupt die Richtung, hält an oder steigt.

Beide Reiter sind ähnlich begabt, erfahren und versiert; beide Pferde sind ähnlich kräftig und gut ausgebildet. Der entscheidende Unterschied liegt im Wesen der Pferde: Das eine ist brav und willig; das andere ist frech und unwillig. „Sie kann reiten“ ist keine pauschale Aussage: Es hängt vom Pferd ab.

Ich kann erziehen – hängt vom Kind ab; ich kann regieren – hängt vom Volk ab; ich kann dirigieren – hängt vom Orchester ab; ich kann malen – hängt vom Geschmack des Betrachters ab; ich kann unterrichten – hängt von der Mitarbeit und dem Interesse der Schüler ab; ich kann lernen – hängt vom Lehrer ab und so weiter.

Gut dass es nicht vom anderen abhängt, ob ich lieben und verzeihen kann.