Elektro-Fahrräder – relativ betrachtet

Auf einer Radtour im Süden begegnen uns außergewöhnlich viele Menschen auf Elektro-Fahrrädern. In großem Tempo fahren sie an uns vorüber oder kommen uns entgegen. Wir scheinen diesen eiligen Verkehr zu behindern: zu langsam und zu wenig spritzig – vor allem bergauf. Elektro-Fahrräder stehen hier für viel Geld und Eile, für Dominanz auf den Wegen und für ein nicht ausgesprochenes `Aus dem Weg!´. Für Radfahren im `Normaltempo´ und aus eigener Kraft ist hier kein Raum – das gefällt mir nicht.

Daher lasse ich mich einen Tag später hinreißen zu der unbedachten und absoluten Aussage: „Elektro-Fahrräder mag ich nicht.“ Mein Gegenüber stutzt und fragt, warum – er hat selbst eins. Damit fährt er täglich die zehn Kilometer zur Arbeit, so dass für seine Familie ein Auto ausreicht. Meine kranke Freundin fällt mir ein: Sie leidet seit Jahren unter MS und käme ohne ihr Elektro-Fahrrad überhaupt nicht mehr selbstständig aus dem Haus.

Ich schäme mich für meine absolute Aussage und merke mal wieder: Wie `sinnvoll´ ich etwas finde, ist relativ und hängt stark davon ab, von wem und wozu es benutzt wird.

Umschalten

Vier von fünf Kindern waren unterwegs und kommen nach Hause zurück. Ich schalte sofort in den Funktionier-Modus und wasche mich durch die verschmutzten Klamotten der letzten Woche – und den täglichen Nachschub. `Nebenbei´ läuft der normale Alltag, nur ohne Schule. Die Kinder ruhen sich aus, sie sind im Ferien-Modus. Grundsätzlich gönne ich ihnen, dass sie nicht funktionieren müssen. Allerdings geht das auf meine Kosten: Ich halte unser Miteinander am Laufen und das Chaos in Grenzen. Ferien-Modus zu Hause funktioniert kaum für alle gleichzeitig.

Es sei denn, vier von fünf Kindern sind weg. Übermorgen ist es so weit – sie fahren noch einmal los: Dann schalte ich für eine Woche in den Ferien-Modus und mache Pause vom Funktionieren.

Ein flexibles `Wir´

„Wir nennen diese Landschaft hier das Alpenvorland“, bemerkt mein Mann auf unserer Autofahrt in den Süden. „Welches `Wir´ hast du da jetzt bemüht?“, frage ich zurück. Er lächelt: „Ach, da bin ich ganz flexibel.“

Es ist eine Gabe, wenn man sich – je nach Situation und Bedarf – flexibel zu denjenigen zählt, die Bescheid wissen.

Geographie: Theorie und Praxis

Wir fahren nach Süddeutschland – viele Kilometer auf der Autobahn. Das Navigationsgerät ist eingeschaltet; aber es widerstrebt mir, mich nur danach zu richten. Ich orientiere mich lieber (altmodisch) mit dem Atlas und an der ausgezeichneten Beschilderung hierzulande. Gleichzeitig tue ich etwas für meine Geographie-Kenntnisse. Theorie: Der `Süden´ liegt `nicht um die Ecke´, sondern weit entfernt und reicht vom Berchtesgadener Land bis nach Freiburg. Dazwischen befindet sich der Bodensee und in dessen `Nähe´ unsere drei Ausflugsziele – durch kurviges Auf und Ab miteinander verbunden. Praxis: Es dauert, von einem zum nächsten zu kommen. Nie wieder werde ich sagen: „Wenn wir schon mal da unten sind …“

Enttäuscht oder dankbar

Einen alten Freund will ich besuchen. Er wohnt weit entfernt am anderen Ende von Deutschland – in der Nähe von zwei anderen alten Weggefährten. Ich fahre nicht gern so weit, raffe mich aber dennoch auf und frage alle drei, ob sie Zeit haben: `Damit es sich lohnt´. Voller Vorfreude fahre ich los. Zwei Begegnungen werden wunderbar – vertraut, belebend, die Freundschaften auffrischend. Das dritte Treffen verläuft unter erschwerten Bedingungen. Es ist ausgerechnet die Begegnung, der ich am meisten entgegen gefiebert hatte. Die Bilanz könnte trotzdem positiv sein; aber zunächst bin ich eher enttäuscht als dankbar. Das ist schade, aber so muss es nicht bleiben: Es liegt an mir, welchem Gefühl ich langfristig mehr Raum gebe – und wie sich das Wochenende in meiner Erinnerung anfühlen wird.

Werben …

Der `Druck auf Ungeimpfte wächst´ lautet eine Zeitungsüberschrift. Das geschieht durch die neuesten Corona-Regelungen für den Herbst und die tägliche Berichterstattung: Wer sich nicht impfen lässt und dafür keinen triftigen medizinischen Grund hat, ist ein `verantwortungslos handelnder Impfverweigerer´. (Ich bin auch eine von denen.) Mit unserer Haltung belasten wir die Steuerzahler und gefährden unsere Mitmenschen, außerdem verlängern wir die Pandemie. Wir müssen unsere Entscheidung rechtfertigen, werden stigmatisiert und bald zur Kasse gebeten.

Angela Merkel sagt in diesem Zusammenhang in einer Pressekonferenz: „Wir müssen dafür werben, dass geimpft wird.“ Ich schlage das Wort `werben´ nach. Es bedeutet:

– jemanden für sich oder eine Sache gewinnen;
– sich um etwas oder jemanden bemühen
– etwas anbieten und seine Vorzüge lobend hervorheben, für etwas Anhänger suchen

Ich fühle mich zu Unrecht beschuldigt, massiv bedrängt und nicht akzeptiert – umworben fühle ich mich nicht.

Spricht mich (nicht) an

In den Fahrerhäusern großer Laster stehen häufig `Nummernschilder´ mit dem Namen des entsprechenden Fahrers: „Heinrich“ lese ich da oder „Klaus“, manchmal auch „Moni“. Egal wie ausgefallen die jeweiligen Namen sind – sie sprechen mich nicht an.

Manche T-Shirts `sagen´ mehr als ihre Träger: „Don`t ask me for sound, I am light“ lässt mich schmunzeln. Aber wieso trägt jemand ein T-Shirt mit der Aufschrift „Nothing to wear“? Ich vergesse solche Proklamationen schnell wieder – sie sprechen mich nicht an.

Manchmal höre ich halbe Telefongespräche fremder Leute: auf der Straße, im Zug, an der Bushaltestelle. Zwar kann ich fast jedes Wort dieser Telefonate verstehen – aber sie sprechen mich nicht an.

Zwei Männer stehen vor dem Supermarkt und unterhalten sich. „Seit du deinen Hauptschulabschluss an der Abendschule nachgemacht hast, bist du so viel selbstbewusster geworden“, höre ich im Vorbeigehen und lächle. „Ja, Sie lächeln!“, spricht der Mann daher mich an, und es ergibt sich eine ganz kurze, aber sehr fröhliche Unterhaltung. Die überhörte Information spricht mich vielleicht nicht an; die spontane und distanzarme Begegnung dagegen hat mich sehr angesprochen.

Selbstvertrauen

Kleine Kinder verlassen sich darauf, dass jemand anderes für sie sorgt: Dadurch lernen sie zu vertrauen. Je größer und älter sie werden, umso mehr wollen Kinder Dinge `allein machen´: Das stärkt ihr Selbstvertrauen. Wir als Eltern probieren und lernen, wann wir ein Kind und womit allein lassen sollte – Enttäuschungen gehören dazu.

Mein jüngster Sohn bekam vor einigen Jahren einmal unvermittelt Heimweh, als er bei einem Freund übernachten wollte. Damals mussten wir ihn abholen. Seitdem ist er verunsichert, wenn er einen längeren Ausflug mit Übernachtung vor sich hat. Sein Selbstvertrauen ist nicht so stark, seine Vorfreude getrübt. Am liebsten wüsste er im Vorfeld, dass wir im Zweifelsfall da sind. Das wäre in mancher Situation keine große Sache – aber nicht förderlich für sein Selbstvertrauen. Daher nehmen wir seine Ängste ernst und muten sie ihm doch zu: Angesichts einer bevorstehenden Freizeit-Woche (ganz in der Nähe) ermutigen wir ihn, bieten ihm aber nicht an, gegebenenfalls zu kommen. Wir glauben, dass er stärker wird, wenn er sein Heimweh allein durchsteht und merkt: Irgendwie schaffe ich das.

Auch mir tut es gut, mich ab und zu herauszufordern. Egal, wie ich damit zurechtkomme – mein Selbstvertrauen wächst. Ich weiß hinterher, was ich mir zutrauen kann und was nicht. Und ich merke: Irgendwie schaffe ich das.

Mein Mann und mein Puls

„Dir kriecht da etwas Schwarzes aus dem Ohr“, sagt mein Mann. Er sitzt mir gegenüber auf der Terrasse und schaut mich an. WAS? Mein Puls geht hoch, ich erschrecke und fasse mir ans Ohr. Ist es eine Spinne, ein Ohrenkneifer oder was sonst? Ich spüre nichts, nach kurzer Zeit ertaste ich nur einen Fussel. Erleichtert zeige ich ihn meinem Mann. Er lächelt wissend: „Ich hätte auch sagen können: `Da hängt etwas Schwarzes an deinem Ohr.´, aber ich wollte es ein bisschen dramatischer machen.“ Mein Puls geht hoch …

Selbstsicher

Immer wieder bin ich erstaunt, wie selbstsicher manche Menschen auftreten: Gerade mache ich ein Online-Training in englischer Sprache zum Thema `Handstand´ bei einer jungen deutschen Frau. Soweit ich es einschätzen kann, ist sie fachlich gut: Ich schätze ihre Übungsaufgaben und vertraue ihrer Vorgehensweise. Ihr Englisch dagegen ist nicht so überzeugend; außerdem ist sie ein wenig `verpeilt´ – so würde ich keinen Online-Kurs anbieten. Das hängt weniger mit ihrer Kompetenz zusammen als damit, welchen Anspruch ich an einen eigenen Internet-Auftritt hätte.

Diese Frau ist selbstsicher und dabei sehr unbekümmert; was sie nicht gut kann, stört mich wenig: Ihre Selbstsicherheit bewundere ich.

Ein Arzt, den ich manchmal (selten) aufsuche, tritt mir gegenüber ebenso selbstsicher auf. Soweit ich es einschätzen kann, ist er fachlich gut: Ich schätze seine Diagnose und vertraue seiner Therapie. Seine Erklärungen sind jedoch völlig emotionslos, fast unfreundlich. Dadurch komme ich mir jedesmal abgefertigt vor – so würde ich an seiner Stelle nicht mit Patienten kommunizieren. Auch das hängt weniger mit seiner Kompetenz zusammen als damit, welchen Anspruch ich an mich als Ärztin hätte.

Dieser Mann ist selbstsicher und dabei sachlich-distanziert; was er nicht gut kann, stört mich sehr: Seine Selbstsicherheit ist mir unangenehm.