Verfügbare Zeit

„Du hast doch Zeit“, höre ich oft und denke: `Du doch auch!´ Wir haben alle dieselbe Menge verfügbarer Zeit, wir füllen sie nur unterschiedlich:

Wer feste Arbeitszeiten und einen Chef hat, kann nur über einen Teil seiner Stunden frei verfügen.

Ich arbeite zu Hause und habe keinen Chef. Allein mein eigener Anspruch treibt mich durch meine Tage. Termine kann ich deshalb besser einrichten als andere. Aber auch ich verfüge nur über eine begrenzte Anzahl an Stunden. Sie vergehen unaufhaltsam – ob ich `arbeite´, lese, Sport treibe oder mich mit einer Freundin treffe.

Ich kann schieben, einrichten und mich verfügbar machen. Ganz frei verfügen kann ich über meine Zeit trotzdem nicht – auch wenn es von außen betrachtet so wirken kann.

Keine Zeit

Ein Bekannter ruft an, er hat einen Schreib-Auftrag für mich. Normalerweise habe ich spontan Zeit und seine Projekte sind nicht eilig. Dieses Mal ist es anders: Ich habe spontan keine Zeit, sein Projekt ist eilig. Schlechtes Timing – wie schade!

Die Zeit

Die Zeit stoppt nicht, sie vergeht: Ich werde jedes Jahr älter und verändere mich sehr langsam – im Tagesverlauf kaum wahrnehmbar. Bei anderen Ereignissen – Katastrophen oder Erfolgen – ist von jetzt auf gleich alles anders. Aber die Zeit hält trotzdem nicht an und lässt sich erst recht nicht zurückdrehen. Das kann ich als gnädig oder erbarmungslos empfinden – je nachdem, was passiert und wie ich damit zurechtkomme.

Die Zeit interessiert sich nicht für uns; die Zeit heilt nicht alle Wunden und lässt sich nicht besitzen. Wir haben keine Zeit; die Zeit hat uns – fest im Griff.

Eine Frage – zwei Antworten

Können all diejenigen, die jetzt mehr Zeit haben, sich auf Vorrat erholen? Erste Antwort: Ich befürchte, nein.

Erstens: Die gewonnene Zeit wird durch Sorgen um die Zukunft getrübt.
Zweitens: Das Mehr an frei verfügbarer Zeit wird ausgefüllt durch die Dinge, die vorher liegengeblieben sind oder sowieso schon „immer mal“ erledigt werden mussten.
Drittens: Erholungseffekte funktionieren nicht auf Vorrat, sondern sind schnell wieder vorbei.

Können all diejenigen, die jetzt mehr Zeit haben, sich auf Vorrat erholen? Zweite Antwort: Ich schätze, ja.

Erstens: Die gewonnene Zeit kam so unerwartet und hinsichtlich ihrer Dauer unklar, dass sie nicht wirklich verplant werden konnte und kann.
Zweitens: Das Mehr an frei verfügbarer Zeit kommt den Arbeiten zugute, die einem zukünftig den Alltag erleichtern.
Drittens: Ein paar Wochen erzwungener Einschränkung – Termine, Kontakte, Beschäftigungen – erzeugen einen Erholungseffekt, der sich langfristig auswirkt.

Welche Antwort wir persönlich als „unsere“ empfinden, entscheidet darüber, wie wir diese Zeit bewerten und welche Erfahrungen wir aus ihr mitnehmen.

Die Zeit vergeht

Wir waren in den vergangenen zwölf Monaten auf drei Silberhochzeitsfeiern; unser Ältester ist volljährig; und mir flatterte vor einigen Tagen eine Bescheinigung über meine künftig zu erwartende Rente ins Haus – inklusive der körperlichen Präventionsmaßnahmen, die man ergreifen kann und sollte, bevor das Alter zuschlägt…

Außerdem vorhin auf dem Parkplatz bei Edeka. Ein älterer mir bekannter Mann steigt aus seinem Auto und ruft mir zu: „Na, immer noch mit dem Fahrrad unterwegs.“ Ich erwidere, dass ich das wohl noch eine Weile so handhaben werde. Er entgegnet: „Das kann schneller vorbei sein, als man denkt.“

Jetzt erst recht, denke ich: Das Leben ist schön!

Begegnung und Zeit

Meine Busreisen-Erfahrung ist limitiert. Während einer Flixbus-Fahrt nach Berlin bekam ich vor kurzem trotzdem einen interessanten Einblick in diese Form des Unterwegs-Seins. Man sitzt dicht zusammen in einem Bus und kann nicht – wie im Zug – in ein anderes Abteil wechseln oder allein im Gang stehen. Während der viereinhalb Stunden wechselten meine Mitreisenden: Da gab es einen, der an der Uni Zürich promoviert, aber gerade die alte Heimat besuchte. Weltoffen, alternativ und gesprächig – der Typ Mensch, mit dem ich in meinem Umfeld selten in Berührung komme. Außerdem mit uns im Bus reiste eine Oma (mit Handy) mit ihrem Enkel (eindeutig von ADHS betroffen). Ich fragte mich, welche Zuwendung für das Kind noch besser wäre und ob es für ihn jemals eine Ruhepause gibt. Eine etwas über 70-jährige Witwe fing jeden zweiten Satz mit „Ich bin der Meinung“ an – auch sehr gesprächig. Ein jüngerer Mann dagegen sprach kein Wort, sondern hatte mit seinen digitalen Medien zu tun. Alle Begegnungen ließen die Zeit schneller vergehen.

Wegen eines Staus auf der Autobahn fuhr unser Busfahrer von dieser ab sowie zielsicher und zügig durch das Hinterland von Sachsen-Anhalt und brachte uns mit nur wenig Verspätung nach Berlin. Als ich mein Gepäck auslud, bedankte und verabschiedete ich mich bei ihm. Vielleicht war ich die Einzige? Er lächelte erstaunt und sah mich an, wir wünschten uns einen guten Tag. Diese Begegnung ließ die Zeit für einen Moment stillstehen.

Der Wert meiner Zeit

Gestern war ich effektiv, schwungvoll und habe viel geschafft. Ich konnte einige Dinge von der dauerhaften To-Do-Liste streichen. Was zurückblieb war ein angenehmes Gefühl von „erledigt“.

Der heutige Tag fordert vor allem meine Präsenz bei verschiedenen Terminen meiner Kinder und von Freunden, die Pausen dazwischen sind nur schwer nutzbar. Kaum etwas bekommt heute den Stempel „erledigt“. Was zurückbleibt ist eine Art innere Unruhe, weil ich „zu nichts gekommen bin“.

Beide Tage waren gleich lang, beide Tage haben mich erschöpft – welcher Tag ist mehr wert? Und aus wessen Perspektive?

Warten im Supermarkt

Letztens habe ich viel eingekauft. Die Kasse war leer, ich konnte gleich alles aufs Band legen. Die Kunden nach mir – ein älteres Ehepaar im Rentenalter – riefen umgehend nach einer zweiten Kasse. Es dauerte ein bisschen. Eine zweite Kassiererin kam nicht so schnell wie von den Kunden gewünscht. „Welche Kasse öffnen Sie denn?“, in der Frage schwang einiges mit: Eile, Hektik, Ungeduld.

Ich kann es verstehen, ein bisschen: Auch für mich gibt es Schöneres als einzukaufen. Ich lese lieber ein Buch oder gehe eine Runde joggen. Andererseits ist das Einkaufen von Lebensmitteln keine Strafe, sondern ein Privileg: Es gibt ALLES! Das Endergebnis ist wunderbar, denn ich hole nach Hause, was uns schmeckt und satt macht. Wahrscheinlich ist es gar nicht das Einkaufen selbst, was die Leute schnell hinter sich bringen wollen. Die Eile kommt erst in dem Moment, in dem es ans Warten geht. Warten an der Käse- oder Fleischtheke, warten an der Kasse.

Ich möchte diese Wartezeit an sich nicht als „verbrannte Lebenszeit“ verstehen. Manchmal rede ich mit einer Verkäuferin, einer anderen Kundin oder der Frau an der Kasse. In aller Ruhe – ich hatte schon sehr freundliche Begegnungen mit Menschen, die dort arbeiten oder selbst einkaufen. Es ist nicht schlimm, dass wir uns treffen; es kann sogar schön sein. Und selbst wenn ich nur warte, empfinde ich die Zeit nicht als verloren. Ich erlebe sie als einen Moment des Innehaltens. Das bekommt mir besser, als wenn ich der Ungeduld in mir Raum gebe.

Ich schätze, ich brauche kaum länger fürs Einkaufen als diejenigen, die schnell nach einer zweiten Kasse rufen. Letztlich ist es mir egal: Einkaufen und das damit verbundene Warten gehören zu meinem Leben dazu – wie lesen und joggen.

Zeit sparen – aber wofür

Mähroboter, automatische Sprenganlagen und Saugmaschinen ersetzen in vielen Haushalten die früher noch überall von Hand erledigten Routine-Arbeiten, die in jedem Haus mit Garten anfallen. Arbeitserleichterung und Zeitersparnis – super. Ich frage mich aber, was mit der ersparten Zeit gemacht wird! Gefaulenzt? Nachgedacht? Erholung? Fehlanzeige. In der „freien“ Zeit kann man etwas anderes erledigen, sich anders beschäftigen: Sich mit Freunden zu treffen (sehr schön, ohne Zweifel), ist noch die beste Alternative. Vielleicht wird aber auch statt der anfallenden Alltagsaufgaben mehr für den Job getan, noch schnell eine Mail geschrieben, ein Film geschaut – was weiß ich. Wir fluten den Geist mit neuen Reizen, zur Ruhe kommt er – und wir – nicht:. Dass die gewonnenen Stunden tatsächlich Erholung ermöglichen und entspannende, freie Zeiträume schaffen, wage ich zu bezweifeln.

Als ich letztens im Garten stand, meine Pflanzen wässernd, habe ich das genossen: Nachdenken und dennoch etwas tun, mein Hirn hat sich ganz von allein fokussiert (aufs Gedanken-Schweifen-Lassen): Die Hände waren beschäftigt. Der Schlauch hat die Unruhe aufgefangen, die mich sonst leicht beim Stillsitzen erfasst. Um mich herum das Rauschen des Wassers, abendliche Wohnsiedlungsgeräusche aus den Nachbargrundstücken, Grillengezirpe, die Familie zum Teil noch auf der Terrasse, aus der Ferne Straßenlärm – und trotzdem war ich ganz mit mir allein. Schön war das. Geht einem verloren, wenn ein Sprengsystem diese Arbeit erledigt und man sich stattdessen anders beschäftigt. Kann auch schön sein, ist wahrscheinlich aber für den Geist nicht so erholsam.

Routineaufgaben sind nicht das, was mein Leben „busy“ macht.