Sonntags-Programm

Ich radele zum Gottesdienst – und bin ein bisschen schöner angezogen als an einem gewöhnlichen Wochentag. Das Wetter ist wunderbar; einige andere lockt es ebenfalls nach draußen. Viele von ihnen werkeln an und ihren Häusern und Gärten herum – und sind ein bisschen weniger schön angezogen als an einem gewöhnlichen Wochentag.

Mutig flüchten

Ertappe ich ein Kind bei einem Unrecht, kann es sich entscheiden:

Scheinbar leicht ist es, sich in eine (Not-)Lüge zu flüchten: alles abstreiten, um Ärger zu vermeiden. Meist klappt das nicht – Lügen haben kurze Beine. Kommt ein Unrecht samt der verbalen Ausflüchte nachträglich ans Licht, ärgere ich mich (vor allem über die Lüge) – und greife tendenziell zu einer schärferen Konsequenz.

Anstrengend (und mutig) ist es, die `Flucht nach vorn´ anzutreten: ehrlich dem eigenen Vergehen in die Augen schauen und das Unrecht zugeben. Dann ärgere ich mich nicht, sondern bin stolz auf mein Kind und zeige das auch. Es folgt trotzdem eine Strafe – aber diese fällt barmherziger aus.

Das Leben

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“
Johannes 6, 33

Ich liebe Pfingstrosen. Bevor meine im Garten blühen, kauft mir mein Mann ein paar für die Vase. Einige davon sehen nach zwei Wochen noch ebenso aus wie am Anfang. Die geschlossenen Knospen verändern sich nicht und wirken tot. Ich kann ihnen nicht helfen, sich zu entfalten. Diesen Lebensprozess muss Gott in Gang setzen, sonst passiert nichts.

Einige Zeit später bringt mir eine Freundin zwei Pfingstrosen aus ihrem Garten mit – anfangs mit fest verschlossenen Knospen. Drei Tage später sehe (und rieche) ich, was in einer Pfingstrose steckt, die lebt.

Funktional – gestern, heute und morgen?

„Mama, ein funktionaler Rock und eine schicke Sandale – das sind Widersprüche in sich!“, erklärt mir mein Sohn. 20 Jahre hätte ich mich nun in einem vor allem praktischen Stil gekleidet, das würde reichen. Die Zeit sei mehr als reif für schöne Dinge. „Aber ich finde das Funktionale doch schön“, versuche ich meine Sicht zu begründen. Er schüttelt mitleidig den Kopf: „Nein, Mama: Funktional ist funktional – und das kann ein Rock nicht sein. Sandalen dagegen sind ohnehin ein No-go und nie `schick´.“

Er ist ehrlich, und ich bin ein bisschen traurig. Natürlich werde ich weiterhin meinen Stil tragen. Dennoch hat mir das Gespräch eröffnet, wie sehr dieser wahrscheinlich bei vielen Menschen für ein inneres Stöhnen sorgt. Meine Unwissenheit war mir lieber als die Ignoranz, die ich mir künftig zulegen muss, wenn ich `wie auch immer´ angezogen unterwegs bin.

Praktikabel oder nicht?

In meiner Schulzeit durchlief ich das Fach ESP – Einführung in die sozialistische Produktion. Ich war dafür regelmäßig in einem Betrieb und sollte am Ende einen Bericht darüber schreiben. In meinem Fall ging es um Qualitätssicherung – genauer gesagt um Kontrollrichtlinien. Konkret kann ich mich an fast überhaupt nichts mehr erinnern. Ich war wochenlang damit beschäftigt, ein existierendes Papier zu überarbeiten, dessen praktischer Nutzen mir schon damals fraglich erschien. Nur eine Tatsache hat sich in mein Gedächtnis gebrannt – der Eindruck, etwas vollkommen Überflüssiges zu tun. Mir war schnell klar: Papier ist geduldig.

Natürlich muss es derartige Richtlinien geben – und einheitliche Standards. Trotzdem achtet der eine Mitarbeiter mehr auf gründliche und gewissenhafte Ausführung und der andere weniger. Nach kurzer Zeit wissen alle genau, was praktikabel ist und was nicht. Dem müssen die Vorgaben standhalten, sonst werden sie nicht umgesetzt – und nicht ernst genommen.

Seit Wochen erhalte ich als Mutter regelmäßig überarbeitete Hygienekonzepte für die Schule. Sie sind seitenlang, präzise und lesen sich wie Anweisungen für Menschen, die mit hochgefährlichen toxischen Substanzen arbeiten. Teilweise gehen sie jedoch an der Realität einer Schule mit mehreren hundert Schülern vollkommen vorüber. „Nach jedem Berühren der Maske sollen mindestens 20 Sekunden die Hände gewaschen werden“, steht da beispielsweise. Ich wage zu behaupten: DAS tut KEIN Schüler; auch der noch so vorsichtige wird nicht jedesmal, wenn er seine Maske berührt hat, zum Waschbecken rennen. Stattdessen wissen nach kurzer Zeit alle genau, was praktikabel ist und was nicht – egal, was im Hygienekonzept steht. Dem müssen die Vorgaben standhalten, sonst werden sie nicht umgesetzt – und nicht ernst genommen. Noch immer gilt: Papier ist geduldig.

(K)eine Tugend

Über die Masken und ihren Wert ist schon viel diskutiert und geredet worden. Die einen tragen sie bereitwillig, andere nicht. Dazwischen gibt es jede Menge Leute, die den Status quo akzeptieren, sich aber auf ein Leben „danach“ und ohne Maske freuen. Dachte ich – bis zu einem kürzlich veröffentlichten Leserbrief. Darin warnt ein besorgter Bürger vor zu starken Lockerungen, denn wir seien „noch nicht über den Berg“. Mutationen führt er an und Inzidenzzahlen, die schnell wieder steigen könnten. Er plädiert dafür, geduldig eine Herdenimmunität anzustreben: 80 Prozent von uns müssen dafür geimpft oder genesen sein. Eine durchaus realistische Alternative ist es in seinen Augen daher, uns auf „asiatische Tugenden“ wie Abstand und Mund-Nasen-Schutz zu besinnen – er hält diese auch „nach Corona“ für sinnvoll.

„Asiatische Tugenden“ sollen zur Dauerlösung werden für unseren Umgang miteinander? Die Angst hat sich erschreckend ausgebreitet in unserem Land – und unter dem Begriff Tugend verstehe ich noch immer etwas ganz anderes.

Liebe und Geduld

Mit Liebe und Geduld kann man seine Buchsbäume vor dem Zünsler retten – schreibt mein Bruder. Ach so? Ein Kontrollgang zeigt mir das wahre Ausmaß des Befalls: jede Menge abgefressene Blätter und viele lange grüne Raupen – offenbar nimmersatt. Ich denke: So viel Liebe und Geduld habe ich nicht. Dann geht es eben ohne Buchsbäume weiter. Viele andere Gärten kommen auch ohne sie aus – und meine Bekannte kann sich für ihre Weihnachtskränze eine andere Grünschnitt-Quelle suchen.

Zweiter Gedanke: Versuch macht klug – wohl dem, der viele Kinder hat! Den Heerscharen der Zünsler-Raupen ist nur mit verstärkter Man-Power beizukommen. Das Zurückschneiden der befallenen Buchsbäume erfordert schließlich kein Gartenbau-Diplom. Was wir zu sechst in drei Stunden schaffen, hätte mich allein mindestens zwei volle Arbeitstage gekostet – und meine Liebe und Geduld deutlich überstiegen.

Alles weitere überlasse ich (zunächst) der Natur: Die Pflanzen dürfen sich selbst wehren und leben wollen; ich wässere sie ausreichend und rede ihnen gut zu. Ein wenig helfen sicher auch meine gefiederten Freunde. Für Spatzen sind die Raupen ein Festmahl, von dem nach unserem Einsatz nur noch ein gut verzehrbarer Teil übrig ist. Ich erwarte sie mit Liebe und Geduld an meinem Garten-Buffet – und bin gespannt, ob unser gemeinsamer Einsatz sich am Ende auszahlen wird.

Zu guter letzt verbrennt mein Mann das, was wir abgeschnitten haben – und spielt sich damit in die Herzen der Nachbarn: Ein paar Stunden müssen sie sich zum frische Luft-Schnappen in ihre Häuser zurückziehen. Wir hoffen, sie reagieren darauf mit Liebe und Geduld.

Peinlich (1)

Ich denke immer weniger darüber nach, ob ich peinlich bin – und verdanke das meinem Alter. Unsere Kinder lernen in ihrer Jugendgruppe jetzt schon: Der beste Schutz vor Peinlichkeit ist, sich mutig zum Affen zu machen. Wer sich nicht vor allem danach richtet, was andere von ihm denken könnten, erntet eher Bewunderung als peinlich berührte Blicke.

Die entscheidende Frage ist, ob man sich in Gänze akzeptiert fühlt: Wenn ich mich angenommen weiß, so wie ich bin, verliere ich die Angst, abgelehnt oder belächelt zu werden. Der erste Schritt dahin könnte sein, dass ich mich selbst so annehme, wie ich bin.

Es ist schön, wenn man das mit dem Alter lernt; noch schöner ist es, wenn man viel früher dahinter kommt.

Standortbestimmung

Wenn ich meiner Familie glauben darf, bin ich geduldig, diszipliniert, meist zufrieden, impulsiv, überschreite manchmal Grenzen, verstehe Ironie nicht so gut, fühle mich schnell schuldig, reagiere auf Komplimente nicht mit einem Danke, sondern mit „Aber das ist gar nicht so toll“ und noch einiges mehr. Das meiste davon sehe ich genauso. Allerdings weiß ich nicht, inwieweit diese Eigenschaften unveränderlich in mir angelegt waren – also mein ICH sind. Ich schätze, zu einem beträchtlichen Teil ist dieses ICH die Summe meiner Lebensumstände:

Wie ich aufwuchs,
an wem ich mich orientiert und welche Ziele ich mir gesetzt habe,
was mir gelungen ist und woran ich gescheitert bin,
womit meine Tage seit Jahrzehnten angefüllt sind …

All das macht mich zu der, die ich heute bin. Es ist müßig darüber nachzudenken, wie mein ICH wäre, lebte ich in anderen Umständen. Nur manchmal frage ich mich, wer ich stattdessen sein könnte.

Unwort des Jahres

Mein Unwort des Jahres 2021 könnte „Buchsbaumzünsler“ werden. Das hat mehrere Gründe: 

Seine Entdeckung an unseren Buchsbäumen kommt unerwartet und versetzt mich kurzzeitig in eine Art Schockstarre. Auch meine zweite Reaktion ist erinnerungswürdig – ein für mich ungewohntes Schwanken zwischen Resignation und hektischer Betriebsamkeit.
Wahrscheinlich werde ich Stunden investieren, um unsere Buchsbäume zu retten: Stunden, die ich viel lieber anders nutzen würde.
Dieser kleine, zahlenmäßig überlegene, attraktive und gleichzeitig widerliche Feind ist kein schöner Anblick – und brennt sich in mein Hirn ein.
Eventuell gehe ich als Sieger aus diesem ungleichen Kampf hervor. Da ich (Stand heute) kein Gift verwenden möchte, werden die deutlich sichtbaren Fraß- und Schnittschäden noch lange Zeugnis davon geben.
Es kann natürlich sein, dass ich nach langem und zähem Einsatz doch den Kürzeren ziehe. In diesem Fall wird es NIE WIEDER Buchsbäume in unserem Garten geben – nach 20 Jahren `mit Buchs´ durchaus eine einschneidende Veränderung.

Wahrscheinlich ist „Buchsbaumzünsler“ als Unwort des gesamten Jahres vollkommen ungeeignet. Für den Moment passt es aber ganz gut.