Abgekoppelt?

Eine Hausaufgabe meines Sohnes – dritte Klasse – machte mir in erschreckender Weise bewusst, dass wir unsere Kinder abkoppeln vom deutschen Allgemein-Bildungsgut. Märchen finden bei uns nicht statt. Demnach erkannte er auch nur Hänsel und Gretel anhand von „zwei Geschwister begegnen im Wald einer Hexe“; bei Rotkäppchen war er trotz „ein Mädchen mit einem roten Käppchen will seine Großmutter besuchen und trifft auf einen Wolf“ ahnungslos, der „Frosch, den die Prinzessin gegen die Wand warf“, tat ihm eher leid… Bildungsauftrag nicht erfüllt, würde ich sagen. Dabei liegt dem gar keine bewusste Entscheidung gegen Märchen zugrunde: Ich fand und finde einfach andere Geschichten schöner zum Vorlesen. Kann ich und muss ich da etwas nachholen? Kommt man auch ohne Märchen-Wissen durch ein deutsches Leben? Was ist das überhaupt, was macht ein deutsches Leben aus? Was gehört traditionellerweise noch dazu?

Heute beim Abendbrot kam das Gespräch auf Tanzstunde. In den Klassen der beiden großen Jungen (neunte und zehnte Klasse) gehen ihrer Einschätzung nach „ganz viele“ zur Tanzstunde. Der Älteste: „Ich habe dazu keine Lust, denn ihr würdet mich da sicher in Jeans und Turnschuhen hinschicken, keinen Anzug oder so, ihr seid minimalistisch.“

Abgehängt? Sind unsere Kinder abgehängt, weil uns derartige Dinge nicht wichtig sind? Sind wir abgehängt? Unsere eigenen Tanzstunden-Erinnerungen sind – verglichen mit heutigen Standards – eher schräg: tatsächlich Jogginghose und Turnschuhe beziehungsweise ein Tanzpartner, der zu musikalisch für den Viervierteltakt war… Außerdem lässt sich mittlerweile eine gewisse Hüftsteife nicht leugnen; und so viel Gelegenheit, unsere vor Jahrzehnten gelernten Tanzschritte regelmäßig zu üben, bietet sich in unserem Alltag nicht. Lieber machen wir etwas anderes… Laufen, lesen, spazieren gehen.

Das Thema scheint uns nun doch einzuholen: In ein paar Jahren – wenn nichts dazwischen kommt – macht der Große Abitur. Heutzutage muss man beim Abiball mindestens einen Walzer hinlegen, wenn nicht drei Viertel des Abends als Paar auf der Tanzfläche verbringen können. Oje! Davon sind wir weit entfernt; und wir sind ihm ohnehin schon oft peinlich, weil wir angeblich so anders ticken als die normalen Eltern seiner Freunde.

Eine Lösung muss her – aber nicht jetzt. Wir schieben das auf: Ein Crashkurs zwei Wochen vor dem Ereignis muss reichen. Improvisation passt besser zu uns als das mühselige Herumgequäle in einem Tanzkurs für alte Anfänger. Einen Abend schaffen wir dann schon.

Tod – Juni 2016

Ganz plötzlich und – für mich – unerwartet ist einer meiner ältesten Freunde gestorben. Im Frühjahr noch habe ich dem Drang nicht nachgegeben, ihm einfach mal so zu schreiben, sondern habe mich auf den Sommer vertröstet – auf seinen Geburtstag. Im Juni erreichte mich die Todesanzeige; und ich frage mich, warum ich einen Anlass brauchte, mich zu melden? Zu spät, unwiderruflich zu spät. Wie schade!

Im Lesen seiner alten Briefe (unsere Kommunikationsebene) von vor knapp dreißig Jahren lebt die Zeit wieder auf, treffe ich das Mädchen wieder, das ich damals war. Ein bisschen ist dieses Mädchen, das so nur er kannte, mit verschwunden und nicht mal mehr in meiner Erinnerung präsent.

Warum weine ich – um seinetwillen, um meinetwillen, um der verpassten Gelegenheiten willen, um seiner Familie willen, die ohne ihn weiter leben muss? Für wen sind meine Tränen? Und: Was tue ich, wenn ich das nächste Mal den Impuls verspüre, mich bei einem alten Freund zu melden?

Juni 2018: Ich vermisse ihn noch immer – besonders im Sommer. Aber vor allem bin ich dankbar für die Freundschaft, die uns verband, für die Briefe, die gemeinsame Zeit. Meine Dankbarkeit überlebt seinen Tod, mein Freund bleibt Teil meines Lebens.

Es gibt immer ein Aber?

Stimmt, habe ich gesagt, aber das war vielleicht ein bisschen vorschnell. Im Hebräischen gibt’s nämlich keins, die sagen einfach immerzu „und“. Das wirbelt mein Denken durcheinander und (nicht aber!) kann die Schwere aus manchen Sätzen nehmen. Ein „aber“ relativiert nicht nur, es schwächt ab: „Es war ein wunderbarer Tag, aber es hat geregnet.“ Also war der Tag wohl doch nicht ganz so wunderbar? Dagegen: „Es war ein wunderbarer Tag, und es hat geregnet“, heißt dann wohl, der Regen war Teil des wunderbaren Tages, er hat diesen nicht geschmälert.

Im Alltag bin ich sicherlich zu un-hebräisch für ein Leben ganz ohne „aber“ – und zu spontan, zu relativierend, zu vorsichtig. Wenn ich mir Zeit lasse, ganz sicher bin und mutig, kann ich´s ab und an weglassen.

Es gibt immer ein Aber!

Als junge Frau dachte ich – ganz intuitiv -, es gäbe immer ein Aber. Drei Jahrzehnte später weiß ich, dass diese Ahnung stimmt, weil man alles von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Es stellt sich jeder Sachverhalt anders dar, wenn man ihn durch eine andere Brille anschaut. Wie sagen die Indianer? „Du kannst jemand anderen erst kennen, wenn du eine Weile in seinen Mokassins gelaufen bist.“

Ein Nachteil ist, dass sich dadurch alles endlos zerreden lässt und daraus folgend – niemand hört mehr richtig zu. Plus: Mutig geäußerte Meinungen und Überzeugungen werden immer seltener.

Als mittelalte Frau frage ich mich noch dazu, warum das so ist, warum es immer ein Aber gibt. Wollen wir tolerant und liebevoll sein? Geht es uns in erster Linie darum, den anderen zu verstehen und so stehen zu lassen, wie er denkt und argumentiert? Vielleicht haben wir auch nur ganz viel Angst, bei einer „Falschaussage“ erwischt zu werden und relativieren deshalb alles und immerzu. Wie sagte schon mein hoch verehrter Dietrich Bonhoeffer: „Den größten Fehler, den man im Leben machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.“

Also lasse ich manche meiner Gedanken einfach so stehen, auch wenn sie ein Thema dann eben nicht erschöpfend abhandeln, sondern (relativ) einseitig und subjektiv. Ich habe vielleicht nicht recht, aber ich liege auch nicht ganz falsch.

Zeitsprung

Vor einigen Wochen bin ich mit meinen beiden älteren Söhnen (16 und 15 Jahre alt) spazieren gegangen. Nicht ganz freiwillig (ihrerseits), sondern verordnet. Vor etwa zehn Jahren haben wir das auch öfter gemacht: `Kinder lüften´ habe ich das genannt. Sie sind damals gern mitgekommen, aber zum Zeitvertreib war eine ausgedachte Geschichte von Mama eine willkommene Zugabe. Einen hatte ich mindestens an der Hand, und die beiden jüngeren Schwestern waren sicherlich auch dabei.

Letztens waren sie weder an einer Geschichte noch am Handhalten interessiert – wie peinlich. Sie sind zehn Jahre älter und gefühlt einen Meter größer als damals. Aber – bin ich auch zehn Jahre älter? Ich kann es nicht glauben! Wir machen dasselbe, aber es fühlt sich ganz anders an.

Aufmerksamkeit

Letztens las ich einen Artikel, der besagte, die Aufmerksamkeitsspanne von Menschen sei unter die von Goldfischen gesunken – von zwölf Sekunden im Jahr 2000 auf acht Sekunden in 2016; Goldfische können sich neun Sekunden auf eine Sache konzentrieren. Das heißt, dass spätestens an dieser Stelle in meinem Text ein verbaler Höhepunkt folgen sollte, damit Sie überhaupt weiter lesen. Aber vielleicht habe ich Sie schon verloren, weil es ihnen von vornherein nicht gefällt, über derartige Dinge nachzudenken? Oder Ihr Handy geklingelt hat? Oder sich die Frage nach den Wetteraussichten für die nächsten zwei Stunden in ihr Gehirn schleicht. Dagegen habe ich schlechte Karten, zumal ich Ihnen nichts zu bieten habe – außer verständlich (und eventuell interessant) geschriebene Texte.

Dabei stellt sich doch ganz offensichtlich vor allem die eine Frage: Woher wissen wir, wie lange sich ein Goldfisch konzentrieren kann? Wer untersucht so etwas und warum? In derselben Studie hieß es, ein Goldfisch könne sich zwölf Tage lang an eine Futterquelle erinnern. Da ich nicht weiß, wo ich vor anderthalb Wochen unser Mittagessen gekauft habe, bin ich also mit einem schlechteren Erinnerungsvermögen ausgestattet als ein Goldfisch? Diese haben als Haustiere, die gefüttert werden, einen gewissen Vorteil mir gegenüber – in einem Gartenteich gibt es schließlich nur einige Orte, an denen Futter auf der Oberfläche landet. Ich dagegen kann wählen zwischen Supermarkt, Bauer um die Ecke, Markt in der Stadt… , eventuell eigener Garten???

Wenn Sie bis hierher gelesen haben: Ist Ihre Aufmerksamkeitsspanne deutlich höher als die des Durchschnittslesers? Sind Sie besonders an Goldfischen und ihrem Fressverhalten interessiert? Oder ist dieser Text so toll geschrieben, dass Sie begeistert gern noch weiter lesen würden? Wenn ja, ist das dann auch der Beweis dafür, dass der Inhalt weniger wichtig ist als die Schreibe? Lass ich mich mal in dem (Irr-) Glauben!

In Kontakt bleiben

In den 80er Jahren im ländlichen Raum nahe Potsdam: Wir haben Telefon, aber das nutzt einem manchmal gar nichts, weil so viele andere kein Telefon haben. Briefe von Kleinmachnow nach Ziesar brauchen circa fünf Tage – in der Zeit könnte man die Strecke auch zu Fuß zurücklegen. Mehrmals. Wir schreiben trotzdem Briefe.

1991 in Australien: Überall Telefonzellen; mit einer Visa- oder Mastercard kann man sich um die Unmengen an Kleingeld drücken, die man bräuchte, um nach Deutschland zu telefonieren. Nach 50 Dollar wird man automatisch unterbrochen – gut für den Geldbeutel. Meine vollfotografierten Filme habe ich mit der Post unentwickelt nach Deutschland geschickt – die lieben Verwandten haben dann mit leichter Verzögerung nacherleben können, was mir so passiert ist.

1994 in Tansania – Dar-es-Salaam: Irgendwo in einer Art Telefoncenter morgens ein Gespräch nach Deutschland angemeldet, stundenlang auf ein Durchkommen gewartet, abends wieder abgemeldet. Briefe dauern drei Wochen. Als ich in Tegel lande, erwarten meine Eltern eine zum Skelett abgemagerte Afrika-Reisende, dabei war mein vor Wochen im Brief erwähnter Durchfall schon längst wieder Geschichte.

1998 in Deutschland: „Fernbeziehung“ zwischen Heidelberg und Celle. Briefe dauern in der Regel einen Tag (und man schreibt sie immer noch), Telefonieren ist vergleichsweise teuer – Telefonkarten für die noch existierenden Telefonzellen sind in verschiedenen Preis-Kategorien erhältlich: Ich nehme immer die `ganz teuren´ für 50 DM und verbrauche mehrere im Monat.

2017 in Deutschland: Telefonzellen sind über die Jahre verschwunden. Manche Leute haben überhaupt keinen Festnetzanschluss mehr! Postboten bringen hauptsächlich Rechnungen oder Werbe-Dinge, selten Postkarten – gehäuft meist um Geburtstage oder Weihnachten herum. Briefe brauchen noch immer einen Tag – wenn nicht, regen wir uns auf. Telefone sind weniger zum Telefonieren da als zum Kommunizieren in anderer Form. ALLES wird geteilt, sofort und immerzu, meist mit Foto. Haben wir deshalb jetzt mehr Kontakt?

Heiliger Rasen

Einer unserer entfernten Nachbarn pflegte letztens seinen Rasen, ganze 30 Quadratmeter. „Mein Rasen ist mir heilig, da investiere ich richtig, da wächst kein Unkraut drin…“ Aha.

Eine Freundin von mir findet Kochen kreativ und entspannend. Macht sie ab und an mal am Wochenende, dann aber richtig.

Und ich? Mähe unsere 500 Quadratmeter Rasen oder lasse sie von den Söhnen mähen – jedesmal unter sportlichen Gesichtspunkten, um mich oder sie zu motivieren. Mehr Pflege bekommt der Rasen nicht: Ich bin froh über jede Ecke, die nicht englisch ist und schnell nachwächst, sondern vermoost und bei wenig Regen von allein kurz bleibt.

Ich koche auch, manchmal sogar gern. Jeden Tag für sieben Personen, fünf davon noch im Wachstum. Manchmal habe ich mehr Lust, manchmal weniger. Meist geht es darum, in weniger als einer Stunde ein Essen zu kreieren, das alle satt macht, den meisten schmeckt, mehr oder weniger gesund ist und nicht Unmengen kostet. Kreativ? Weniger, eher pragmatisch.

Was schließe ich daraus? Wir sind, was wir sind, und wir gewichten, wie wir gewichten, weil unsere Umstände uns dazu bringen. Ein geringer Teil ist die Persönlichkeit, die wir mitbringen; der wahrscheinlich deutlich größere Aspekt wird bestimmt von den Gegebenheiten, in und mit denen wir leben. Das zu wissen, könnte relativieren, wie absolut die Aussagen sind, die wir treffen.

Lachen

Es gibt unterschiedliche Versionen von Lachen. Schon durch die verbale Unterscheidung in Lächeln, Lachen, Gelächter, Kichern, Erheiterung, Glucksen etc. wird deutlich, dass Lachen nicht gleich Lachen ist – und auch nicht dasselbe mit uns macht.

Es gibt eine Sorte, die mag ich besonders: Das ist ein Lachen, gegen das man sich nicht wehren kann, das den ganzen Körper erfasst und einen hilflos zurück lässt. Ich habe das selten, meist auch nicht besonders vorhersehbar, aber jedes Mal genieße ich es – und fühle mich darin total jung, wie ein Kind. Vielleicht ist es deshalb so schön, weil es beinhaltet, dass man nicht zuständig, nicht vernünftig, nicht kontrolliert, sondern reichlich enthemmt und unbeherrscht ist.

Meine eigenen Kinder betrachten mich, wenn es soweit ist, immer mit einer gewissen Skepsis – wie Mama im Rausch oder so. Passt irgendwie nicht zu einem Erwachsenen und würde auch nicht zu einem 16-Jährigen passen: Der hätte sich besser im Griff, das würde ihm nicht passieren, so weit würde er es nicht kommen lassen. Vielleicht ist dieses ganz bestimmte, infantile, ungebremste Lachen in einem Menschen das beste Zeichen, dass er Kindheit und Jugend und auch frühes Erwachsenenalter erfolgreich abgeschlossen hat. Ab Mitte 40 (oder wann auch immer) ist einem nicht mehr so viel peinlich.