Nur für den Moment?

Zur Ruhe und zu reflektierenden Gedanken komme ich am besten, wenn ich allein bin. Darum verlasse ich in diesen speziellen Zeiten regelmäßig unser Zuhause – dort ist „immer wer da“. Auf meinen Spaziergängen lasse ich meinen Gedanken freien Lauf, bete oder erfreue mich am Gezwitscher der vielen Vögel, die sich über das Ende des Winters zu freuen scheinen. Vor einigen Tagen hatte ich eine besonders gute Zeit: Im Gebet fühlte ich mich Gott nah, inspiriert und voller Frieden. Was genau mir klar geworden war, konnte ich schon direkt danach nur schlecht in Worte fassen. Manchmal geht es nur um den Moment und nicht um das, was man daraus lernt.

Vertrauen

Beim Blick auf Corona gibt es zwei Sichtweisen:

Das Corona-Virus ist gefährlich. Fast noch gefährlicher ist die schnelle und flächendeckende Ausbreitung desselben. Es gibt eine hohe Dunkelziffer an Infizierten und die Symptome sind nicht so leicht von denen einer „ganz normalen“ Erkältungskrankheit zu unterscheiden. Außerdem gibt es (relativ viele?) schwere Fälle, teilweise mit tödlichem Ausgang: Immer wieder geht es in den Nachrichten um den Bedarf an Beatmungsbetten. All das verunsichert und kann Angst machen.

Dennoch kann es nicht das Ziel sein, dass sich möglichst niemand mit dem Virus infiziert. Wenn ich es richtig verstehe, haben wir als ganzes Volk nur eine Chance, wenn wir aufgrund durchgemachter Erkrankungen bei vielen jungen und gesunden Menschen eine sogenannte Herden-Immunität entwickeln können. Die Gefährdeten – Alte, Immunschwache, Grunderkrankte – müssen solange geschützt werden, bis wir einen Impfstoff haben. Daher soll die Infektionsrate durch die laufenden Maßnahmen nicht gestoppt, sondern möglichst verlangsamt werden.

Es ist also gut und wichtig, das Virus ernst zu nehmen, ohne Angst zu haben – denn das ist weniger gut, wenn nicht sogar gefährlich für die Psyche. Die Grenze dazwischen ist ein schmaler Grat, ich will sie nicht überschreiten. Verdrängung erscheint mir keine gute Methode zu sein. Stattdessen kann man sich informieren und befolgen, was unsere Politiker empfehlen. Aber das einzige wirklich hilfreiche Mittel gegen Angst ist Vertrauen. Ich kann der Regierung vertrauen oder darauf, dass ich schon nicht schwer erkranken werde. Ich persönlich vertraue Jesus als letzter Instanz; denn ich weiß, dass es auch in dieser Situation eine dritte Perspektive gibt:

„Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
Johannes 16, 33

Einsetzen, was wir haben

„So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid, in aller Demut und Sanftmut, in Geduld.“
Epheser 4, 1

Eugene H. Peterson, ein inzwischen verstorbener Theologe, den ich sehr schätze, sagt zu diesem „würdig leben“, dass es einer Waage gleichkommt: Gott beruft uns zu einer Aufgabe und stattet uns aus mit dem, was wir dafür benötigen. Unserer Berufung würdig zu leben bedeutet, unsere Gaben einzusetzen und unseren Platz gut auszufüllen. Dabei ist es egal, was uns gegeben wurde oder wie viel; wichtig ist, dass wir einbringen ins Leben, was Gott uns anvertraut hat. Das kann alles mögliche sein. Neben den sogenannten eher geistlichen Gaben wie Lehre, Prophetie, Unterscheidung der Geister sind meiner Meinung nach auch ganz praktische Fertigkeiten gemeint: Hilfsbereitschaft, Gasfreundschaft, Freundlichkeit, Zuhören-Können, Organisationstalent, praktisches Geschick und all dieses.

Vor einigen Tagen hörte ich eine Rede von Denzel Washington, die er vor Jahren auf der Abschlussfeier eines Colleges hielt. Darin sagte er unter anderem: „It`s not how much you have, it`s what you do with what you have.“ (Es geht nicht darum, wie viel du hast; es geht darum, was du damit tust, was du hast.)

Genau. Mit dem, was wir haben, sollen wir freigebig umgehen und nicht hinter dem Berg halten. All unsere Fähigkeiten entfalten erst dann ihre Wirkung, wenn wir sie anwenden und die Menschen um uns herum teilhaben lassen daran.

Reingewachsen

„Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen.
Prediger 1, 2-4

Mir haben bestimmte Verse aus dem Buch Prediger schon immer gefallen: Die „Alles hat seine Zeit“-Sätze aus dem dritten Kapitel zum Beispiel stimmen und passen zu Lebenssituationen im allgemeinen. Die vorab zitierten Verse über die Sinn- und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen – sie sprechen mich erst seit einigen Jahren an: Ich bin angekommen in dem Alter, in dem die im Prediger formulierten Gedanken und Erfahrungen auch meine eigenen sind.

Es ist nicht so, dass ich mich selbst nicht mehr so wichtig nehme. Aber die Vergänglichkeit des Seins hier auf der Erde, die alles Streben nach Bedeutung zumindest ein wenig relativiert, die ist mir heute deutlich stärker bewusst als früher. Mit Todessehnsucht oder einer Resignation am Leben an sich hat das nichts zu tun. Die Grenzen meiner eigenen Bedeutsamkeit entlasten und befreien mich eher, als dass sie mich frustrieren.

Ich muss weniger und darf mehr: Ich muss es niemandem beweisen; ich muss nicht mehr so viel Rücksicht nehmen und bin weniger besorgt wegen der Konsequenzen; ich muss auch nicht mehr jugendlich ambitioniert sein. Ich darf schon aus einem Vorrat an Erfahrungen schöpfen und weiß mehr als früher, was ich kann und will. Ich erlaube mir leichter, Dinge zu tun oder zu lassen; ich darf ganz ich sein – auch mit meinen Schwächen und meiner Unfähigkeit, Großartiges zu vollbringen.

Vielleicht bin ich auch nur reingewachsen in die Perspektive der Lebensmitte …

Lektüre

Grundsätzlich macht es mir Spaß zu lesen. Dennoch gibt es Lektüre, die mich anstrengt – nicht mein Thema, langatmiger oder komplizierter Schreibstil, intellektuell zu herausfordernd etc. Die Bonhoeffer-Biographie von Eberhard Bethge ist so ein Buch: Es ist scharf an der Grenze dazu, dass es mich geistig nicht nur heraus-, sondern überfordert. Noch bleibe ich dran, noch kann ich dem Inhalt grob folgen, wenn auch nicht bis ins Detail. Ich lese über die Passagen hinweg, die ich nicht ganz verstehe, und merke – es entsteht ein Bild dieses Menschen, das immer mehr Gestalt gewinnt.

So geht es mir ehrlich gesagt auch oft mit der Bibel: Darin stehen Geschichten, die einfach und klar sind und schön. Andere „malen“ einen Gott, an dem ich mich reibe, und „gefallen“ mir nicht ganz so gut. Und dann sind da noch die Texte, die mich vom theologischen Denken her überfordern – dicht geschriebene Abschnitte im Römerbrief zum Beispiel oder im Hebräerbrief.

Es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Ich kann Verse einzeln lesen, genau hinschauen und darüber nachsinnen. Diese Form der Schriftmeditation hat ihre Berechtigung; aber sie macht mir oft nicht so viel Spaß. Für mich habe ich entdeckt, dass ich derartige Bücher der Bibel lese wie die Bonhoeffer-Biographie – einfach immer weiter. Ich will den Text als Ganzes auf mich wirken und mich nicht bremsen lassen von Ungereimtheiten und Versen, die kompliziert formuliert sind. Ich akzeptiere „das Wort“ als von Gott inspiriert und lebendig. Und dann vertraue ich, dass es in mir eine Wirkung entfaltet, die sich meinem Verstand entzieht und mich trotzdem prägt und verändert.

„So soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“
Jesaja 55, 11

Kapitulation und Vertrauen

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
2. Korinther 12, 9

Ich habe es schon erlebt, dass Gottes Kraft wirksam wird, wenn meine eigene versagt. Das zu erfahren, ist kostbar. Es passiert nicht oft – und das liegt nicht an einem „zu wenig“ von Gottes Kraft. Der Grund ist, das zuerst etwas anderes geschehen muss – Kapitulation. Ohne diese geht es nicht. Sie fällt schwer, weil sich Schwäche nicht gut anfühlt und weil wir es gewohnt sind, Dinge selbst im Griff zu haben. Kontrolle loszulassen erfordert Vertrauen: Irgendwer muss schließlich eingreifen, oder? Gott sehe ich nicht, Gottes Pläne kenne ich nicht – meine eigenen schon. Vielleicht kommt Gott mit zu wenig Kraft oder zu spät? Weiß ich`s?

Wahrscheinlich ist Schwachsein leichter, wenn ich mich selbst nicht so wichtig nehme, flexibel hinsichtlich meiner Pläne bin, vertrauensvoll jemand anderem die Letztverantwortung überlasse und zugebe, dass ich weder alles kann noch alles weiß. Kurz gesagt – wenn ich werde wie ein Kind:

„… Jesus … sprach zu ihnen: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.“
Markus 10, 14

Zungenmächte

„So ist auch die Zunge ein kleines Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet`s an!“
Jakobus 3, 5

In der Bibel steht einiges über die Macht der Zunge: Worte kann man nicht wieder einfangen, sind sie einmal ausgesprochen. Noch dazu sind es vor allem die negativen Kommentare, die hängenbleiben: Es mag stimmen, dass ich jemanden als selbstgefällig empfinde oder ihn mit „eitler Fatzke“ sehr treffend beschreibe. Allerdings besteht die Gefahr, dass diese Einschätzung alle anderen (ebenso wahren) Aspekte seiner Persönlichkeit überlagert. Den Schwerpunkt auf nur eine Nuance zu legen, ist immer unklug – sicher ist es aber besser, wenn so etwas wie „blitzgescheiter Kopf“ oder „ausgesprochen geduldig“ hängenbleibt.

In der Familie versuchen wir, einem „Du bist…“ immer etwas Positives folgen zu lassen oder es durch ein „Du verhältst dich…“ zu ersetzen. Mein Verhalten kann unfair oder dumm sein; mein Wesen machen diese Attribute deshalb noch lange nicht aus. Unfaires und dummes Verhalten lassen sich ändern. Ob ich mich aber um Fairness bemühe und mir etwas zutraue, wenn ich weiß, dass ich unfair und dumm bin? Ich bezweifle es.

„Tod und Leben stehen in der Zunge Gewalt…“
Sprüche 18, 21

Von Zebrastreifen und Rechtsabbiegern

„Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“
1. Korinther 15, 10

Mir nahm heute eine Autofahrerin den Schwung und die Vorfahrt und schnitt mir den Weg ab: Sie bog rechts ab, ich war geradeaus unterwegs und musste bremsen. Ich hatte es schon eine Millisekunde vorher geahnt, denn sie schaute nicht nach hinten und reduzierte nicht die Geschwindigkeit. Ich war vorbereitet und konnte abbremsen. Lächelnd (weil dankbar) fuhr ich weiter. Warum lächelnd? Weil ich weiß, dass solche Fehler passieren können:

Mit unserem Auto überfuhr ich einmal völlig in Gedanken versunken einen Zebrastreifen. An der Seite stand eine Frau mit Kinderwagen und wartete darauf, dass ich anhalten würde – vergeblich. Meine Augen hatten die Frau gesehen, aber mein Gehirn nicht. Im Gehirn wäre die Entscheidung fürs Bremsen gefallen, Augen können das nicht.

Ich übersah auch schon einmal jemanden, als ich rechts abbog. Vielleicht schaute ich zu flüchtig oder auch gar nicht über meine Schulter; Fakt ist, dass ein Fahrradfahrer meinetwegen bremsen musste.

Ich weiß, wie es ist, wenn man beim Autofahren Fehler macht, die nicht passieren sollten. Sie sind mir unterlaufen, obwohl ich keine besonders übermütige Fahrerin bin und schon lange meinen Führerschein besitze. Vielleicht ärgerte sich die Mutter mit Kinderwagen, der Radfahrer tat es sicherlich. Mir selbst waren die zwei Ereignisse vor allem peinlich – auch weil sie keine schlimmen Folgen nach sich zogen: Die beiden Leute landeten nicht unter meinem Auto. Das war nicht mein Verdienst; man könnte sagen, es war Glück. Ich würde sagen: Das war Gnade.

Sicher gab es noch andere Situationen, in denen eine Unachtsamkeit von mir nicht in einem Schaden für andere endete. Ich registriere nicht alle meine Fehler. Das ist auch Gnade.

Inspiration (3): You never know!

„Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.“
Sprüche 16, 9

Abenteuerlust und „Schritt für Schritt“ sind nur zwei Stichworte im Zusammenhang mit dem Buch-Geschenk, die mich bisher ins Nachdenken gebracht haben. Eine weitere Erkenntnis ist die, das suboptimale Lebensvoraussetzungen nicht das Leben definieren müssen: Du weißt nie, durch wen oder was eine Wendung eintreten kann. Das kann eine menschliche Begegnung sein, sich überraschend verändernde Umstände, das Zusammentreffen von „zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ oder eine eigene mutige Entscheidung – aus dem Bauch heraus oder gut überlegt. Auch in der Lebensmitte hört das nicht auf: Ich kann noch immer Chancen nutzen, für Veränderungen offen sein und mich dem, was kommt, zuversichtlich stellen. Anders als der Autor des Buches glaube ich, dass all diese Erfahrungen, Begegnungen und Führungen ihren Ursprung in Gott haben. Letztlich definiert er mein Leben. Das kann mich dann doch mutig und abenteuerlustig machen.

Hin und her

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Dieser Vers zwingt zu einem ernsthaften Realisieren der Vergänglichkeit des Lebens, obwohl sich der Gedanke an das Ende gut verdrängen lässt – auch, weil ich nicht weiß, wann das Ende da sein wird. Ich weiß nur: Dieses Leben geht vorüber.

Sollte ich also oft an den Tod denken, stets mit ihm rechnen, mir selbst und meinen Lieben täglich mein drohendes Sterben in Erinnerung rufen? Ich glaube nicht. Wir können nicht mit der ständigen Perspektive der Endlichkeit durch unsere Tage gehen: „Es könnte das letzte Mal sein, dass wir in der Runde so zusammenkommen; vielleicht werde ich nie wieder so etwas Tolles erleben; was, wenn das mein letzter Sommer wäre?“ Das Ziel ist weder ein Gefühl der Traurigkeit oder gar Ohnmacht noch depressiver Fatalismus. Ich soll nur nicht verdrängen oder ignorieren, dass meine Tage begrenzt sind. Es ist klug, wenn ich dieser Wahrheit Raum gebe in meinem Denken.

Dem gegenüber steht ein anderer Vers, der mich gedanklich auf das Heute fokussiert. Aus seinen Zeilen klingt Leichtigkeit:

„Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“
Matthäus 6, 34

Wie beruhigend: Der morgige Tag muss mich heute noch gar nicht interessieren. Den Herausforderungen von heute kann ich mit Schwung und Kraft begegnen, das Glück von heute darf ich mit allen Fasern genießen. Morgen ist heute zweitrangig, morgen kommt mit seinen eigenen Überraschungen – vielleicht positiv, vielleicht negativ.

Zwischen diesen beiden Versen schwingt mein Bewusstsein hin und her. Eine gute Balance habe ich, wenn ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite verharre. Gedankliche Weite zulassen, die Spannung aushalten, aktiv Schwung holen und immer wieder die Mitte suchen – ausgewogenes Leben ist wie schaukeln.