Zwischen Mit- und Schuldgefühl

Eine meiner Töchter macht ein Praktikum; sie fährt daher jeden Tag 14 Kilometer mit dem Rad.

Einerseits: Es ist klirrend kalt; sie wird einen festsitzenden Husten nicht los; das Praktikum ist vor allem langweilig und dadurch anstrengend; ihr neues gebrauchtes Fahrrad hat (noch) einen unpassenden Sattel und dadurch einen ungünstigen Winkel für ihre Körpergröße.

Andererseits: Die Luft ist klirrend kalt und klar, der Himmel ein wunderbares Spektakel der aufgehenden Sonne; durch das Praktikum merkt sie, was sie nicht machen will; unser Flachland ist optimal fürs Radfahren; weil ich sie nicht mit dem Auto bringe, bewegt sie sich (und ich spare insgesamt 28 Kilometer und eine Stunde mit dem Auto im Stadtverkehr).

Jeden Morgen ist meine Tochter angesichts der vor ihr liegenden Fahrt schlecht gelaunt; jeden Morgen empfinde ich deswegen – irgendetwas zwischen Mit- und Schuldgefühl: SIE kann sich an der klaren Luft nicht so erfreuen wie ich; außerdem bleibe ICH in der warmen Küche sitzen, wenn sie sich auf den Weg macht.

Dass ihr das Praktikum keinen großen Spaß macht, dass das Rad (noch) nicht optimal eingestellt ist, dass sie der klaren Luft nichts abgewinnen kann, dass ihr Husten davon nicht besser wird: Es ist alles nicht meine Schuld, und dennoch habe ich nicht nur Mitleid, sondern auch ein kleines schlechtes Gewissens. Ich weiß nicht, warum. Mein Trost: Einerseits würde ich ihr gönnen, dass das Gesamtpaket Praktikum für sie leichter und angenehmer wäre. Andererseits weiß ich, dass es eine wunderbare Schule ist, sich in suboptimalen Umständen zu bewähren und dabei zu merken: Ich schaffe das!

Nervig

In einem Magazin finde ich eine Fotostrecke zum Thema Hochzeits-Outfits. Acht Ehepaare sind dargestellt, die Hochzeitsmode ist vorn im Heft als `ungewöhnlich´ angekündigt. Das ist sie, nämlich nicht klassisch und auf keinen Fall weiß. Acht Liebespaare sind dargestellt, viele in Neon und Rosa. Die meisten der Kleidungsstücke sind nicht mein Geschmack – weder für eine Hochzeit noch für den alltäglichen Gebrauch. Aber das ist nicht das, was mir am meisten hängenbleibt. Von den acht Paaren sind zwei ausschließlich weiblich, eins männlich. Es scheint heutzutage immerzu darum zu gehen, die sexuelle Orientierung von Menschen abzubilden. Drei von acht, das sind mehr als ein Drittel dieser Paare – und spiegelt keineswegs einen realistischen Querschnitt unserer Gesellschaft wider. Wenn es schon gerecht zugehen soll, hätte man zur Abwechslung mal ein Pärchen mit Handicap wählen können: Mich hätte zum Beispiel ein Mann im Rollstuhl oder eine sehbehinderte Frau deutlich mehr beeindruckt.

Egal, wie ich zu Fragen der sexuellen Orientierung stehe: Es geht mir auf den Keks, welchen Raum diese im öffentlichen Bewusstsein offenbar einnehmen soll.

Wenn schon, denn schon … 

Nicht immer habe ich Lust zu dem, was ich tun muss. An solchen Tagen entscheide ich mich deshalb für einen Kompromiss: Ich bügele heute nur die Hälfte der Bügelwäsche, ich putze heute nur eins der beiden Badezimmer, ich wasche heute nur das Bettzeug der Kinder, ich gehe heute nur eine kleine Runde laufen … Eine überschaubare Aufgabe bringt mich verlässlicher in Bewegung als ein großer Berg. Fast immer kommt es dann dazu, dass ich denke: Jetzt bügele ich auch noch den Rest, das zweite Badezimmer geht auch noch, lieber alle Betten auf einmal, so viel weiter ist die große Runde auch nicht …: Wenn schon, denn schon!

Es scheint zunächst ein attraktiver und ausreichender Kompromiss zu sein, mir nur einen Teil der Aufgabe vorzunehmen. Aber wenn ich mich schon mal auf den Weg gemacht habe, gehe ich ihn meistens bis zu Ende. Und obwohl ich mittlerweile aus Erfahrung weiß, dass ich ein `Wenn schon, denn schon´-Typ bin, kann ich mich mit dem `heute nur´ fast jedesmal reinlegen.

Erwartungen und Wünsche

Erwartungen darf man spüren, zur Kenntnis nehmen und dann erfüllen oder auch nicht. Das klingt ganz einfach, ist es aber nicht – je nachdem, um wessen Erwartungen es geht und in welcher Beziehung wir zu der Person stehen. Dasselbe gilt, wenn jemand sich etwas von uns wünscht. Auch Wünschen kann man sich verweigern, aber das ist meist noch schwerer …

Mehr als nötig

Um mein Potential zu erweitern, muss ich mich mehr fordern als nötig: Für eine bessere Laufzeit über fünf Kilometer muss ich ab und zu mehr als fünf Kilometer laufen. Will ich sicher 20 Liegestütze schaffen, muss ich – wenn möglich – ab und zu mehr als 20 Liegestütze machen. Ich brauche mehr als rudimentäre Kenntnisse in einer Fremdsprache, um mich entspannt darin unterhalten zu können. Und auch Kopfrechnen funktioniert erst dann anstrengungsarm und fehlerfrei, wenn ich vorher schon öfter ohne Zettel und Stift addiert und subtrahiert habe. Und so weiter. Will ich erleben, was möglich ist – reicht `nur das Nötigste´ als Einsatz einfach nicht aus.

Zwischen den Zeilen

Manche Menschen sagen, sie könnten zwischen den Zeilen lesen. Aber das ist doch Quatsch, oder? Denn: Zwischen den Zeilen steht – nichts. 

Ich habe einige Briefe von einem alten Freund aufgehoben; frühe standen wir uns nahe und schrieben uns regelmäßig. Später hatten wir seltener Kontakt; mittlerweile ist er verstorben. Obwohl er damals sehr lustige Briefe schrieb, wusste ich, wie sehr ihn vor allem sein Job langweilte. Die Aussichten, daran etwas zu ändern, waren im Osten nicht besonders rosig. Wenn ich diese alten Briefe heute lese, spüre ich förmlich seinen Frust – und bewundere, wie er trotzdem fröhlich bleiben und sich eine humorvolle Sicht auf ALLES erhalten konnte. Ich meine, seine Stimme zu hören und verstehe so viel mehr als nur die Tatsachen, die er beschreibt. Denn: Zwischen den Zeilen steht – viel mehr als nichts!

Was ist schon klug?

Ein Freund eines Freundes ist ein paar Jahre jünger als wir, verheiratet, lebensfroh, besonnener Lebensstil. Trotzdem ist er schwer erkrankt. Mit `seinem´ Krebs lebt man maximal noch zwölf Monate, sagt das Internet. Genau weiß es kein Mensch. Wir sind schockiert und betroffen und können uns nicht vorstellen, wie es ihm und seiner Frau geht. Stattdessen fragen wir uns: Was würden wir tun? Chemotherapie – ja oder nein? Wie würden wir unsere Tage, Wochen und Monate gestalten; was wäre uns wichtig für die begrenzte Zeit, die uns (wahrscheinlich) noch bliebe.

Allerdings bleiben diese Gedankenspiele rein theoretisch und nicht real. Sie werden schnell wieder zugeschüttet vom prallen Leben und der trügerischen Gewissheit, es ginge noch sehr lange so weiter wie bisher. Wir verdrängen das Ende des Lebens so weit in die Zukunft, das es mit unserer Gegenwart nichts zu tun hat. Dadurch leben wir vielleicht unbeschwert; weise scheint es laut Bibel aber nicht zu sein: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“, heißt es im Psalm 90, Vers 12. Klug werden wir, wenn wir den Gedanken an den Tod Raum geben in unserem Heute. Denn dann werden wir das tun, was uns wirklich wichtig ist: Zeit mit unseren Liebsten verbringen, auf Reisen gehen, unsere Memoiren verfassen oder, oder, oder. Der eine oder andere käme vielleicht sogar auf die Idee, Lotto zu spielen oder vierzehn Stunden am Tag zu arbeiten. Nur zu! Hauptsache, jeder lebt bewusst so, als hätte er nicht alle Zeit der Welt – unabhängig davon, wie andere ihre Tage füllen. Denn: Unser Leben ist begrenzt. Es kann morgen zu Ende sein, nächste Woche, in ein paar Jahren oder erst, wenn wir alt und lebenssatt sind. Genau weiß es kein Mensch.