Vom Fasten

Ich friere, bin müde und habe Kopfschmerzen – und das nur, weil ich seit ein paar Stunden auf Nahrung verzichte: Ich bin erstaunt, wie schnell mein Körper auf diesen Entzug reagiert. Mein Mann und eine meiner Töchter fasten auch. Das hilft mir ebenso wie die Tatsache, dass ich mich normal beschäftige und zeitig schlafen gehe. Außerdem denke ich in kurzen Etappen – 36 Stunden würde ich gern schaffen. Der erste Tag fällt mir am schwersten; abends gehe ich mit einer Wärmflasche ins Bett – und schlafe glücklicherweise wie ein Stein. Also entscheide ich mich für weitere zwölf Stunden: „Jetzt bin ich schon so weit, da geht noch mehr.“ Am zweiten Tag lässt der nagende Hunger ein wenig nach, die Kopfschmerzen ebenso; nur die folgende Nacht ist unruhig und nicht erholsam. Tag drei wird dennoch am besten: Ich fühle mich wunderbar, habe keine Kopfschmerzen und kaum Hunger. Gedanklich bin ich hellwach und kann mich gut konzentrieren. Am späten Nachmittag esse ich ein Brot mit Butter und einen Apfel; beides schmeckt besonders. So verwandelt sich eine Anstrengung in eine gute Erfahrung, aus einer Nacht und einem Tag werden schließlich drei Nächte und (knapp) drei Tage. 

Zu fasten ist anstrengend und tut trotzdem gut. Für einen überschaubaren Zeitraum stelle ich fest: Wenn der Körper verzichtet, gewinnt der Geist. 

Zu schön, um wahr zu sein

Sport stärkt das Immunsystem. Auch deshalb gehen wir regelmäßig laufen – sogar während wir ein paar Tage fasten. „Wenn man fastet – etwa nach 42 Stunden – verstärkt sich die Wirkung, die Sport auf das Immunsystem hat, und zwar exponentiell“, erzählt mir mein Mann. Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Aber ich bin müde, kämpfe mit dem Wind – und glaube alles, was er sagt. Zu Hause frage ich nach, woher er das weiß. Mein Mann schaut mich ungläubig an: „Das war doch Quatsch, mein Schatz, ich wollte dich nur ein bisschen motivieren.“ Schade, denke ich, noch im Nachhinein hätte mich diese Tatsache mental für die kraftzehrende Lauf-Einheit entschädigt. Stattdessen überrascht es mich wieder einmal, wie gutgläubig ich bin. Mir kann man echt fast alles erzählen – vor allem Dinge, die zu schön klingen, um wahr zu sein.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint

Wir haben einen Ficus „Benjamini“ im Wohnzimmer; er ist etwa 25 Jahre alt. Im Winter kommt er oft „in die Mauser“ und verliert ein paar Blätter. Das hört nach einer Weile wieder auf – und hinterher treibt er neu aus und wirkt schließlich üppiger als vorher. Zwei Umzüge hat er problemlos überlebt, ebenso einige Umtopf-Aktionen und meine wohldosierte Pflege in den letzten Jahren.

Jetzt scheint sein Lebensende gekommen zu sein: Die diesjährige „Mauser“ erstreckt sich schon über einige Wochen; von neuen Trieben und üppigem Gesamteindruck sind wir weit entfernt. Bei näherer Inspektion fand ich vor einigen Tagen viel Wasser im Übertopf – die weniger wohldosierte Pflege der Kinder: Sämtliche „Wasserreste“ aus Trinkflaschen oder Gläsern sind zwar gut gemeint, aber offensichtlich nicht gut für einen in die Jahre gekommenen Ficus „Benjamini“. Radikales Trockenlegen hatte bisher noch keinen Erfolg, er verliert munter weiter seine Blätter. Es wäre schade, wenn er einginge – wir wüssten jetzt alle, welche Pflege ihm wirklich gut tut!

Das letzte Wort

Paul Gerhardt (1607-1676) erlebte den 30-jährigen Krieg, verlor seine Eltern im Teenageralter, musste vier seiner fünf Kinder begraben und schließlich auch seine Frau. Er studierte Theologie, arbeitete als Pfarrer und schrieb viele Kirchenlieder. Das sind die Eckdaten seines Lebens – die Fakten. Sie erzählen von einem Menschen, dem das Leben übel mitgespielt hat. In seinen Liedtexten wird deutlich: Er nahm sich selbst anders wahr – weil er den Fakten seines Leben nicht das letzte Wort überließ, sondern Gott:

„Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt,
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden gibt Wegen Lauf und Bahn;
der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.

Dem Herren musst du trauen, wenn dir`s soll wohlergeh`n;
auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll besteh`n.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein
lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbeten sein.

Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst
und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst,
wenn er, wie ihm gebührt, mit wunderbarem Rat
das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.“

Über langgezogene norddeutsche Winter

In unserer Gegend ziehen sich die Winter meist bis Ende April. Zwischendurch mag es ein paar warme Tage geben; aber das ist alles Spaß. Ja, es ist abends schon wieder viel länger hell; die Bäume haben in den letzten paar Tagen ihr Outfit von blattlos-grau zu austreibend-grün verändert. Tatsache ist: Ich sehe, aber ich fühle nicht, dass Frühling ist. Denn bei uns wird es erst im Mai zuverlässig wärmer.

Mir dauert das viel zu lange: Diese langgezogenen norddeutschen Winter gehen mir jedes Jahr im April gehörig auf die Nerven und bringen meine Geduld an ihre Grenze. Warm will ich`s haben, angenehm warm. Es darf erstmal lau sein am Abend, nachts nicht mehr frieren und auf dem Rad gut ohne Handschuhe machbar. Mehr will ich gar nicht – an sommerlich heiß bin ich noch nicht interessiert. Stattdessen bekomme ich frostig anmutende Temperaturen, die sich hartnäckig halten. Ich habe viel Gelegenheit, meine Wintergarderobe weiter zu tragen, und finde es auf der Terrasse noch zu ungemütlich.

Das Wetter ist ein sehr undankbares Thema – wir haben keinerlei Einfluss darauf. Ich sollte lernen, mich einfach damit abzufinden. Diese langgezogenen norddeutschen Winter könnten dahingehend eine gute Schule sein – bei mir bisher ohne Erfolg.

Vögel sichten

Vor Jahren ging ich spazieren mit einem meiner Schwäger. Wir sahen eine Gans auf der Wiese – beziehungsweise ich sah eine Gans und er sah einen Reiher. Erst als das Tier Geräusche machte, gab mein Schwager zu, dass eventuell mit SEINER Sicht etwas nicht ganz stimmen könnte. Restlos überzeugt war er nicht.

Seither schicke ich ihm gelegentlich eine Motiv-Karte mit irgendwelchem Federvieh: Störche, Lerchen, Kraniche, aber auch Gänse oder – Reiher. Auch selbst fotografierte Gänse und Reiher habe ich ihm schon zugesandt – meist jedoch in minderer Qualität, weil ich eine langsame Fotografin bin und diese Vögel scheu und schnell sind. Nichtsdestotrotz bleibt mein Schwager standhaft: Verbal geschickt kontert er meine „Angriffe“ und zweifelt auch nach fast zwei Jahren noch, dass wir damals eine Gans gesehen haben.

Heute beim Spazierengehen sichtete ich einen Falken – gut erkennbar am typisch rüttelnden Flügelschlag –, viele Elstern und Krähen, zwei Gänse (ziemlich sicher sogar Kanada-Gänse mit dem charakteristischen schwarzen Hals) und einen Reiher. Leider hatte ich keinen Fotoapparat und nicht einmal ein Handy dabei. Ich könnte meinem Schwager eine Mail schreiben, was es hier bei uns auf den Wiesen alles gibt – und wie gut sich die einzelnen Vögel optisch voneinander unterscheiden. Aber ich kann meine Beobachtungen nicht visuell belegen. Mein Schwager weiß, dass ich nicht lüge. Dennoch bin ich mir sicher: Meine Schilderungen würden seine Zweifel nicht zerstreuen. Er wäre wohl selbst dann nicht von meiner Sicht zu überzeugen, wenn er persönlich neben mir stände.