Gestört

Ich sitze auf dem Sofa, lese in meiner Bibel, bete und denke nach. Ein Sohn ist krank und kommt runter. Er setzt sich neben mich und erzählt mir kurz, wie es ihm geht. Als er aufsteht, sagt er: „Ich geh`wieder, entschuldige, dass ich dich gestört habe.“ „Alles gut“, sage ich, „du hast mich nicht gestört.“ Ich lese, bete und denke weiter.

Später fällt mir unser Gespräch wieder ein und ich frage mich: Hat mein Sohn mich gestört? Was er mir erzählte, war nicht besonders wichtig; was ich gerade las, betete und dachte, war nicht unwichtig. Er hat mich unterbrochen, ja; gestört hat er mich nicht.

Ein Schritt – ein Gang – ein Lauf? Geduld!

Nach zehn Tagen ohne Geh-Kompetenz aufgrund lädierter Ferse ging ich vorgestern das erste Mal wieder spazieren – und gestern gleich noch einmal. Es ging schon ganz gut; ich war guter Hoffnung, heute wieder laufen zu können. Heute aber spüre ich: Dafür ist es noch zu früh. Das macht der Fuß noch nicht wieder mit, er ist noch nicht wieder „wie neu“.

Nach erstem Gang folgt nicht erster Lauf, sondern zweiter, dritter, vierter … Gang: Trainingseinheiten für die Ferse – und für die Geduld. Spazierengehen ist auch schön.

Klima-Wandel

In meiner Jugend war das Wetter entweder gut oder schlecht und insgesamt eine gegebene Größe.

Aus Sicht meiner Kinder ist das Wetter heutzutage entweder gut – und eine gegebene Größe – oder eine Zumutung.

Reingewachsen

„Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen.
Prediger 1, 2-4

Mir haben bestimmte Verse aus dem Buch Prediger schon immer gefallen: Die „Alles hat seine Zeit“-Sätze aus dem dritten Kapitel zum Beispiel stimmen und passen zu Lebenssituationen im allgemeinen. Die vorab zitierten Verse über die Sinn- und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen – sie sprechen mich erst seit einigen Jahren an: Ich bin angekommen in dem Alter, in dem die im Prediger formulierten Gedanken und Erfahrungen auch meine eigenen sind.

Es ist nicht so, dass ich mich selbst nicht mehr so wichtig nehme. Aber die Vergänglichkeit des Seins hier auf der Erde, die alles Streben nach Bedeutung zumindest ein wenig relativiert, die ist mir heute deutlich stärker bewusst als früher. Mit Todessehnsucht oder einer Resignation am Leben an sich hat das nichts zu tun. Die Grenzen meiner eigenen Bedeutsamkeit entlasten und befreien mich eher, als dass sie mich frustrieren.

Ich muss weniger und darf mehr: Ich muss es niemandem beweisen; ich muss nicht mehr so viel Rücksicht nehmen und bin weniger besorgt wegen der Konsequenzen; ich muss auch nicht mehr jugendlich ambitioniert sein. Ich darf schon aus einem Vorrat an Erfahrungen schöpfen und weiß mehr als früher, was ich kann und will. Ich erlaube mir leichter, Dinge zu tun oder zu lassen; ich darf ganz ich sein – auch mit meinen Schwächen und meiner Unfähigkeit, Großartiges zu vollbringen.

Vielleicht bin ich auch nur reingewachsen in die Perspektive der Lebensmitte …

Eine Begegnung

Ich bin mit dem Rad unterwegs. Der schmale Feldweg steht streckenweise unter Wasser. Von vorn kommt eine Fußgängerin. Es ist genug Platz für uns beide. Aber da, wo wir uns treffen würden, verengt eine Pfütze den Weg so, dass wir nicht beide trockenen Fußes/Rades aneinander vorbeikommen können. Sie bleibt kurz davor stehen und lächelt mich an. Ich fahre weiter, lächle zurück und bedanke mich.

Manchmal gibt es das: ein stilles Einverständnis, eine unverdiente Freundlichkeit, eine nur angenehme Begegnung – und all das mit einer Unbekannten. Sehr schön.

Können reicht nicht

Unser jüngster Sohn ist elf Jahre alt. Unlängst verkündete er, sich eine PS4 kaufen zu wollen, das Geld habe er. Was er nicht hat, ist unsere Erlaubnis, sein Geld so zu investieren. Er findet das total blöd. Ich finde, es ist eine sehr greifbare Illustration des Unterschiedes zwischen Können und Dürfen.

Eine Frage der Perspektive

Einer meiner großen Söhne denkt laut nach: „Dorfkinder verhalten sich anders als die aus der Stadt. Die vom Dorf trinken kein Radler oder so etwas, die trinken nur „richtiges“ Bier. Ich schaue ihn kommentarlos und leicht verwirrt an. Er fügt hinzu: „`Vom Dorf´ heißt für mich – die aus dem Landkreis.“ Ach so, klar, einige seiner Mitschüler wohnen nicht direkt in Celle, sondern in den umliegenden Ortschaften. Nach einem Moment schiebt er hinterher: „Für die Hamburger sind wir Celler `vom Dorf´.“

Vieles ist eine Frage der Perspektive.

Paula Bonhoeffer

Die Bonhoeffer-Biographie von Eberhard Bethge ist komplex, umfassend, streckenweise hoch theologisch. Aber sie zeichnet Bonhoeffer eben nicht nur als den intellektuell und musikalisch besonders begabten Bildungsbürger und Theologen, sondern ebenso als den an Alltagsnähe und Praxis interessierten gläubigen Mann. Jahrelang machte er Kindergottesdienst und scharte junge Erwachsene um sich, um seinen Glauben in Gemeinschaft zu leben. Diese Alltagsnähe beeindruckt mich, sie ist es, was mich neben all seiner klugen Gedanken am meisten von ihm als Menschen überzeugt. Viel davon hat er seinem Elternhaus zu verdanken.

Sein Vater (Karl) war ein angesehener Psychiater, seine Mutter (Paula) Lehrerin, die vor allem ihre acht Kinder unterrichtete. Paula Bonhoeffer führte wahrscheinlich ein unspektakuläres Leben: Sie machte keine Karriere, schrieb weder Bücher noch Musikstücke. Sie widmete sich jahrelang der Familie, liebte und ermutigte ihre Kinder, prägte sie und gab ihnen Werte und Halt mit. Daraus gewachsen sind Persönlichkeiten, die klug und lebenstauglich waren, ausgestattet mit einer schier unfassbaren Stärke, zu den eigenen Überzeugungen zu stehen.

Ein Sohn der Bonhoeffers starb im ersten Weltkrieg, zwei Söhne und zwei Schwiegersöhne wurden von den Nazis ermordet. Wie hält man das aus? Karl-Friedrich Bonhoeffer, der einzige Sohn, der die Kriege überlebte, sagte in der Rückschau: „Was uns damals aufrecht hielt, war die geschlossene Front der Familie gegen die Nazis. Aber wir haben es schwer büßen müssen.“ Für mich klingt dieser Satz wie ein Vermächtnis. Eine derartige Familienkraft entwickelt sich nur unter Eltern, die ihren Kindern starke Wurzeln und kräftige Flügel mitgeben.

Wenn es eine Biographie über Paula Bonhoeffer gäbe – ich würde sie lesen. Aber wahrscheinlich lerne ich diese Frau auch ein wenig kennen durch das Buch über ihren Sohn Dietrich.

Reflexe

Vor fünf Tagen bin ich die Treppe hinunter gestürzt – naja, eher geholpert. Weil ich mich an beiden Wäschekörben festklammerte, die ich in den Händen hielt, konnte ich den Abgang nicht bremsen, sondern nahm jede Treppenstufe mit der Ferse zuerst. Entsprechend habe ich jetzt einen Bluterguss unter der Ferse und kann nicht gut auftreten; der Wäsche ist nichts passiert. Hätte ich nicht reflexartig entschieden, sondern klug, wären meine Hände von den Körben weg hin zum Geländer gewandert. Aber Reflexe sind stark und schneller vorbei, als eine wohl überlegte Entscheidung zustande kommt: Sie sollen in Gefahr für eine rasche gute Lösung sorgen – Ziel ist der Schutz des Lebewesens.

Entweder meine Reflexe funktionieren nicht mehr so gut oder „finden“ nach 20 Jahren Hausfrauendasein die Aufgabe schützenswerter als das Lebewesen, das die Aufgabe erledigt. Im Resultat ist die Wäsche unverändert zu waschen, nur ich bin nur noch eingeschränkt beweglich. Glücklicherweise sind für die Bewältigung des Alltags jetzt keine (eventuell schlecht ausgeprägten) Reflexe nötig, sondern meine Gaben der Improvisation und des in Jahrzehnten antrainierten „geht irgendwie trotzdem“.

Nur die Dinge, die Spaß machen, funktionieren momentan wirklich nicht – laufen oder spazieren gehen. Für Spaß sind Reflexe wahrscheinlich nicht zuständig. Mist.

Der frühe Bonhoeffer

In seiner Bonhoeffer-Biographie bezieht sich Eberhard Bethge vor allem auf Bonhoeffers veröffentlichte Schriften, seine erhaltenen Briefe und Tagebucheinträge. Die darin vertretenen Ansichten und Überzeugungen veränderten sich im Laufe der Jahre. Je mehr Bonhoeffer Erfahrungen machte und sich löste von der Prägung seines Elternhauses und der deutschen Gesellschaft seiner Zeit, wurden auch seine Gedankengänge weiter und ausgewogener.

Wir tendieren dazu, das zu vergessen: Alles, was wir tun und sagen, ist Produkt einer bestimmten Lebensphase. Vergeht diese, verändern sich auch unsere Standpunkte – zumindest teilweise. Es kann soweit kommen, dass wir uns vielleicht sogar distanzieren müssen von früheren Überzeugungen.

Hinzu kommt: Je älter wir werden, umso klarer wird uns, wie wenig wir wissen, dass „eindeutig und einfach“ nur selten zutrifft und wie berechtigt andere Perspektiven sind, wenn es um Meinungen geht. Das lässt uns hoffentlich vorsichtiger formulieren, ohne uns mit Phrasen zu begnügen. Nicht zu vergessen ist eine gewisse Altersmilde, die uns barmherzig umgehen lässt mit allzu enthusiastischen Verkündigungen.

Dietrich Bonhoeffer durchlief dies alles im Schnelldurchgang – er hatte nur ein halbes Leben Zeit …