Was willst du mir damit sagen?

„Du siehst blass aus mit der Mütze“, habe ich beim Laufen meinem Mann zugeraunt. Warum? Ich weiß es nicht. Es war mir schon vor ein paar Tagen aufgefallen, als wir uns anzogen: Die schwarze Mütze macht ihn blass, zumal er mitten im Winter ohnehin nicht soviel Farbe im Gesicht hat.

Seine Reaktion: „Aha. Interessant. Was willst du mir damit sagen? Es könnte sein, dass du mich motivieren möchtest, mir eine andersfarbige Mütze zu kaufen. Vielleicht sollte ich auch – um der Optik willen – ganz auf eine Kopfbedeckung verzichten? Was – und vor allem wen!!! – interessieren meine abgefrorenen Ohren! Oder aber du wunderst dich, dass ich überhaupt blass bin, und machst dir Sorgen? Es könnte auch sein, dass du mir mitteilen möchtest, dass ich wirklich nicht gut aussehe und doch mal etwas dagegen tun könnte – was auch immer das sein könnte.“

Abgesehen davon, dass ich während des Laufens – im Gegensatz zu sonstigen Gelegenheiten – nur höchst selten zu langen Debatten aufgelegt bin, glaube ich: Mein Satz war eine lapidar dahingeworfene Bemerkung, ganz ohne Sinn und Verstand und vor allem ohne ein anvisiertes Ziel. Aus Sicht meines Mannes gibt es das nicht – zweckfreie Kommentare. Irgendeine Motivation steckt hinter jeder Aussage. Wenn das stimmt, muss ich bekennen: Ich kenne meine Motive nicht, ich werde aus mir selbst nicht schlau. Und obwohl ich weiß, welches Gedankenkarussell ich bisweilen bei meinem Mann auslöse, schwappen derartige Sätze immer wieder aus mir heraus. Ohne dass ich genau weiß, was ich mit ihnen sagen will. Wahrscheinlich vor allem dieses: „Du siehst blass aus mit der Mütze!“

Tutorials

Manchmal brauchen wir Hilfe. Wir können jemanden fragen, in Lexika schauen und seit einigen Jahren vermehrt „das Internet befragen“. Dort gibt es Antworten auf alle möglichen Fragen, Gebrauchsanweisungen zu allen möglichen Themen. Diese heißen Tutorials und es gibt sie gesprochen oder schriftlich. Wenn man etwas nicht weiß, sucht man sich eins und schwups – versteht man hinterher mehr. An sich ist das eine super Sache: Du kannst irgendwo am Rechner sitzen und dich schlau machen darüber, wie man bestimmte exotische Früchte aufschneidet, wie sich aus einer Aloe vera eine Hautlotion herstellen lässt, wie die Nabenschaltung am Fahrrad wieder zusammengebaut wird oder wie Computerprogramme funktionieren. Einige aus unserer Familie haben schon oft auf diese Form der „Nachhilfe“ zugegriffen – mit guten Erfolgen, vor allem was die Zeitersparnis angeht: Sich Dinge selbst beizubringen oder alles auszuprobieren, dauert einfach länger.

In letzter Zeit bin ich selbst des öfteren auf der Suche nach Informationen, die nicht im Lexikon stehen: Internetprogramme zum Beispiel ändern sich so schnell, dass man häufig nur im Netz aktuelle Gebrauchsanweisungen findet. Zudem ist meine persönliche Verständnis-Grenze (von wegen „selbsterklärend“) in technischen Fragen schnell erreicht. Also habe ich gegoogelt, meine Fragen in Chatrooms gestellt und Tutorials angeklickt. Leider musste ich feststellen, dass es Menschen gibt, die ihre Erklärungshilfe anbieten, obwohl sie nicht gut erklären können. Sie mögen sich auskennen auf „ihrem“ Gebiet, aber sie können ihre Ratschläge entweder nicht in Worte fassen oder bereiten sich nicht vernünftig darauf vor. Und das ärgert mich. Ich habe kein Recht, mich zu ärgern – die Informationen sind kostenlos und frei verfügbar. Aber dieser Dilettantismus im Internet, der geht mir auf den Keks. Da dreht jemand ein Video, der schlecht organisiert ist, zu schnell oder zu langsam redet, sich verzettelt und mich am Ende ähnlich ratlos entlässt, wie ich aufgeschlagen bin… (Und, nein, es hilft auch nicht, mehrmals dasselbe zu schauen!)

Die Zeit, die ich sparen will, muss ich dahinein investieren, das Tutorial zu finden, das mir tatsächlich weiterhilft.

Da müssen wir ran: Erdkunde

Das Abendbrot ist fast schon beendet. Unser jüngster Sohn schreibt bald eine Sachkunde-Arbeit und lässt sich abfragen. Es geht um die Bundesländer Deutschlands und ihre Hauptstädte. Er kann alle benennen, nur bei Mainz zögert er ein wenig. Ich bin ganz erstaunt und sehr zufrieden. Im weiteren Gespräch kommen wir auf Erdkunde im allgemeinen – und unsere beiden Töchter offenbaren eklatante Schwächen: „Die Louvre fließt durch Paris“, hört man da; und nicht nur Isar, Lech, Iller und Inn, sondern auch die Ulm fließt rechts der Donau hin. Spätestens bei der Frage „Wann steigen die USA jetzt aus der EU aus?“, merken wir: Da müssen wir ran. Es hilft alles nichts, da müssen wir ran. Gleich als erstes haben wir – statt Gute-Nacht-Geschichte – Stadt, Land, Fluss gespielt…

Auch wenn es dramatisch und erschreckend ist: Ich habe lange nicht mehr so gelacht.

Wiedererkennen

Gesichtserkennung zur Sicherheit, Biometrische Authentifizierung, Iris-Erkennung – all dieser Kram in Sachen Kontrolle und Beobachtung soll uns nutzen, hat aber auch etwas Bedrohliches. Es gibt Heerscharen von Menschen, die sich damit befassen, diese Möglichkeiten heutiger Technik positiv – oder negativ – zu nutzen. Ebenso wie andere Menschengruppen versuchen, dieselben Hilfsmittel erfolgreich zu umschiffen. Ich habe davon wenig Ahnung, die technische Entwicklung in dem Bereich ist faszinierend und erschreckend gleichzeitig – und mir vor allem ein Buch mit sieben Siegeln. Ich habe meine eigenen Wiedererkennungsmechanismen…

Für mich sind Vögel schwer zu unterscheiden. Auf Fotos würde ich nur wenige von ihnen, die „gebräuchlichen“, erkennen und das war´s. Aber ich weiß, dass alle Vögel fliegen – so, wie alle Menschen (bis auf wenige Ausnahmen) gehen. Das Flugverhalten ist sehr individuell, so dass selbst ich Unterschiede wahrnehme, obwohl ich sie nicht konkret beschreiben könnte: Ich sehe, wenn ein Greifvogel seine Runden segelt oder Zugvögel mit langen, ausladenden Flügelbewegungen zielstrebig von Nord nach Süd fliegen. (Wenn sie dann noch schreien, kann ich sogar zwischen Kranichen und Gänsen unterscheiden, aber das nur am Rande.) Das Auf-der-Stelle-Rütteln eines Falken erfreut mein Herz und lässt mich innehalten und gespannt auf den Sturzflug warten. Und mich begeistert es, wie ein Schwan sich scheinbar mühsam, aber doch erfolgreich von der Wasseroberfläche erhebt. Spatzen und all die anderen kleinen flattern eher hektisch durch die Gegend, selbst in der Luft und weit weg von mir angstvoll darauf bedacht, nicht zu lange an einem Ort zu verweilen oder vorhersehbare Flugbahnen zu ziehen. Und die Mauersegler über den Dächern von Heidelberg fliegen und segeln und stürzen wieder anders und – wie ich weiß – nahezu unablässig: Sie schlafen sogar im Flug. Tauben lassen sich ziemlich einzigartig fallen, um dann wieder aufzusteigen; und die bei uns in der Gegend zahlreichen Krähen haben ihren ganz eigenen Stil, sich in der Luft zusammenzurotten.

Ebenso charakteristisch unterschiedlich gehen Menschen. Mein Mann sagt, einer meiner Söhne habe denselben Laufstil wie ich. Die Eigenarten seines (und meines) Ganges könnte ich nicht beschreiben, wiedererkennen würde ich sie aber. Selbst in vielen Jahren noch, da bin ich mir sicher, denn: Ich habe so etwas schon einmal erlebt, vor Jahren bei einem Klassentreffen. Ich war als Organisatorin ziemlich pünktlich, fast alle kamen nach mir an. Alle mussten einen mittellangen Weg zurücklegen zu dem Tisch unter dem Sonnenschirm, an dem ich saß und wartete. Ich hatte alle über zehn Jahre nicht gesehen. Bevor sie nah genug ran waren für die Gesichtserkennung, hatte ich sie schon identifiziert – am Gang.

Wenn wir aus irgendwelchen Gründen nicht erkannt werden wollen, sollten wir neben aller Verkleidung vor allem auf eins achten: Nicht bewegen!

Zuhause – unvollständige Listen

Ein Bekannter von uns hat in seiner Küche ein Schild, auf dem steht: „Zuhause ist da, wo ich meinen Bauch nicht einziehen muss.“ Schön, habe ich gedacht, das ist schön. Nicht dass es bei uns in der Familie viele Bäuche gäbe, die eingezogen werden müssten, aber die Idee dahinter finde ich gut. Für uns wären andere Sätze treffender:
Zuhause ist da,
wo ich meine Muskeln spielen lassen kann
wo ich mit ungewaschenen Haaren frühstücken kann
wo jeder weinen darf, wenn ihm danach zumute ist, und so laut lachen, wie er will
wo Morgenmuffel sich nicht zusammenreißen müssen
wo ich mich freuen darf wie ein Kind, auch wenn ich schon lange keins mehr bin
wo ich nicht verurteilt werde, wenn ich ehrlich bin
wo ich unsicher sein kann, ohne belächelt zu werden
Letztlich heißt das „Zuhause ist da, wo ich sein darf“, und das ist großartig.

Aber etwas fehlt mir:
Zuhause ist da,
wo Menschen mich daran hindern, mich selbst aufzugeben
wo wir geprägt werden, ohne es zu merken
wo „intern“ bleibt, was „intern“ ist
wo wir mehr ermutigen als korrigieren und uns trotzdem manchmal kaum ertragen können
wo wir verstehen lernen, dass Stärken und Schwächen immer zusammen gehören
wo wir konkurrieren und alle Heimvorteil haben
wo wir Verlieren lernen können – wenn wir wollen
wo es wahrscheinlich genauso viele Grenzen wie Freiräume gibt – für Leib, Geist und Seele
Zuhause ist da, wo ich mich entwickeln darf.

Alltag ist genau richtig

Die Tage, an denen unsere Kinder geboren wurden, sind mir im Gedächtnis wie der Grand Canyon sich in die Landschaft Amerikas gegraben hat: Unvergesslich, unübersehbar, tiefe Einschnitte in meinem Leben. Besondere Tage.

Dann sind da noch die Tage, an denen Dinge passiert sind, die besonders traurig, schwierig, anstrengend waren. Todesfälle oder die bedrohliche Krankheitszeit eines mir sehr nahestehenden Menschen. Bedenkenswerte und nachdenklich machende Tage sind das, von denen einige mir noch Jahre danach sehr gegenwärtig sind.

Die meisten meiner Tage verlaufen jedoch unspektakulär. Sie sind in der Überzahl, und meine Erinnerungen kann ich nur selten an konkreten Daten festmachen. Dennoch machen gerade diese Alltags-Tage mein Leben aus. Die besonderen Momente sind – eben besonders, aber nicht das Eigentliche: Weder dauerhafte Höhenflüge noch dauerhaftes Leid könnte ich gut aushalten. Ich bin für Alltag geschaffen.

Gesprächig

Unser ältester Sohn macht momentan ein Praktikum und geht morgens als Letzter aus dem Haus. Dementsprechend sitzt er allein – mit mir – am Frühstückstisch. Es interessiert mich, wie ihm sein Praktikum gefällt, wie lange er arbeiten muss, ob er nächste Woche tatsächlich die Abteilung noch einmal wechselt und warum er heute Obst mit Müsli isst. Er: „Mama, ich will dir mal was erklären. Es gibt Menschen, die morgens schon sehr gesprächig sind. Zu dieser äh … Sorte Menschen gehöre ich nicht. Wenn die gesprächigen die nicht so gesprächigen morgens ansprechen, ist es für beide anstrengend. Da wäre es dann besser, wenn man einfach mal den Mund hält.“

Ich muss lächeln, denn eine Erinnerung zieht durch mein Hirn: Studienzeiten in Freising. Ich habe nicht nur studiert, sondern auch gearbeitet. Meist bin ich morgens mit einer befreundeten WG-Mitbewohnerin aufgebrochen in unseren Gartenbaubetrieb zum „Schaffen“. Später, als ich geheiratet habe, hat sie mir ein selbst gedichtetes Lied vorgesungen. Auf Schwäbisch, denn sie „schwätzt halt so“. Eine Strophe darin lautet:

„Woisch no, wia mir boide zamma on Jaibling zum ersten Mal gfrühstück hend – es war so gega dreiviertel sechse, dass mir morgens do gsessa send.
Wia an Wasserfall hosch do scho gschprudelt, noch ra Frag aber glei erkennt, dass morgens früh zo sora Uhrzeit net alle Leit so gschprächig send.“

Der Kern der Persönlichkeit ist unveränderlich, vielleicht sogar genetisch. Allerdings scheint Gesprächigkeit nicht dominant vererbt zu werden.

Blamieren – wie geht das?

„Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. … Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.“
Psalm 139, 1+2, 4-6,

Letztens in einem Theaterstück die Frage: „Wie geht denn blamieren?“ Ja, wie geht das? Ein kleines Kind blamiert sich nicht – zumindest merkt es nichts davon. Blamieren ist ein Erwachsenengeschäft, das in jeder Kultur anders aussieht und sich im Laufe der Zeit verändert. Nehme ich an. Während es vor 30 Jahren noch blamabel war, durch eine Prüfung zu fallen oder verdreckte Klamotten zu tragen, sind es heute andere Dinge, die einer Blamage gleichkommen. Nackt durch die Innenstadt zu laufen zum Beispiel, fällt wohl darunter – oder ist das schon wieder mutig?

Für das gesellschaftliche Blamieren haben sich die Grenzen verschoben in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten, das ist wohl normal. „Das macht man nicht“, sah früher anders aus als heute. Aber obwohl wir geprägt werden von der sich wandelnden Gesellschaft, in der wir leben: Im Persönlichen bleibt es eine Blamage, wenn jemand das in mir erkennt, was ich verbergen möchte. In demselben Theaterstück sagt die Person etwas später: „Ich will durchschaut werden. Wer dann trotzdem bei mir bleibt, mag mich wirklich.“ Genau. Obwohl Gott ALLES von mir kennt, bleibt er bei mir. (Kleine) Kinder begreifen das besser als Erwachsene.

Wie viele sind zu viele?

Ich war mit zwei Kindern unterwegs. Wir kommen zurück und werden herzlich empfangen. Beim Abendbrot geht es trubelig und eher laut zu – wie immer. Mein ältester Sohn: „Es war echt wohltuend, als ihr nicht da wart! Keiner hat Klavier gespielt oder Fußball im Wohnzimmer, keiner gesungen. Wir haben auch nicht um Quatsch gestritten oder provoziert.“

Mir fällt der Titel eines Buches ein, der lautet: „Wir waren immer viele“. Es geht darin um die geburtenstärksten Jahrgänge in Deutschland, um 1964 bis 1967. Irgendwie passt er auch zu unserer Familie. Allerdings ist er derzeit eher negativ besetzt: weil man nicht ohne weiteres zu Wort kommt, die letzte Tomate erstritten, viel geteilt und die anderen manchmal einfach nur ertragen werden müssen. Dass eine Familie mit „vielen“ Kindern bereichernd ist und der Einzelne Streiten und Versöhnen täglich einüben kann – das erleben die Kinder momentan noch nicht nur als positiv. Aber vielleicht später in der Retrospektive – wie in dem Buch.

Haustiere mit Gefühlen

Eine Freundin von mir hat Kühe, Rinder und Kälber. Nicht irgendwelche. Ihre Tiere sind in der Lage, Gefühle zu zeigen: Freude über frische Einstreu, Frust über unangenehme Fress-Nachbarn und – wie ich beobachtet habe – Neugier. Letztere Gefühlslage betrifft vor allem die Halbwüchsigen, die altersgemäß noch neugierig sind.

Dieselbe Freundin hat kürzlich schlau festgestellt, dass wir in unserer Gesellschaft heutzutage zwei Dinge tun: Haustiere vermenschlichen und Nutztiere versachlichen. Ich kann nur zustimmen. Auf der einen Seite gibt es Adventskalender für Hunde und Geburtstagskuchen für Katzen; auf der anderen Seite wollen wir zwar Milch trinken, aber weder mit den Gerüchen eines Kuhstalles noch mit den Geräuschen bäuerlicher Landwirtschaft konfrontiert werden.

Die Kühe meiner Freundin haben Ohrmarken – wie alle anderen Kühe in Deutschland – und Namen – wie nur vergleichsweise wenige andere Kühe in Deutschland. Sie erhalten keine Geburtstagstorte, aber die neu geborenen Kälber werden nicht sofort von der Mutter getrennt. Meine Freundin will eine gute Milchleistung. Sie weiß, dass ihre Kühe dafür artgerecht gehalten werden müssen und sorgt dafür. Aber sie behandelt ihre Kühe eben nicht nur wie Unternehmenskapital, sondern gesteht ihnen eine Würde zu. Sie hat ihre Kühe im Blick. Wie sie das macht? Es ist nicht zu beschreiben, aber sie kann gar nicht anders. Und ihre Kühe können nicht anders, als sich würdevoll zu verhalten – sichtlich froh über neue Einstreu, stur, wenn es um Fress-Nachbarn geht und in jungen Jahren eben auch altersgerecht neugierig…