Jesus sehen

In einem Theaterstück ging es kürzlich darum, wie wir Jesus wahrnehmen können. „Siehst du Jesus jetzt direkt vor dir?“, lautete die Frage, „Ich sehe ihn nicht.“ Die Antwort: „Nicht mit diesen Augen, du musst die anderen nehmen!“

Natürlich fällt mir da die Stelle aus dem „Kleinen Prinzen“ ein, in der es heißt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Jesus ist für die Augen allzuoft unsichtbar – und trotzdem ist er da. Nur mit den anderen Augen nehmen wir ihn wahr.

Welche anderen Augen sind das? Wie kann ich sie nehmen? Manchmal ist das echt schwierig. Da möchte ich Jesus gern sehen in dem Wunsch, den er mir erfüllt, in der Krankheit, die er heilt, in der Veränderung, die ein Mensch erfährt – der sie aus meiner Sicht so nötig hatte. Wahrscheinlicher ist, dass ich Jesus sehe in einer tiefen Zufriedenheit, die mich staunen lässt. Ich kann Jesus erleben in der echten Aussöhnung mit einem Menschen oder wenn ich menschlich versage und mich dennoch geliebt weiß. Jesus ist es auch, der mir inneren Frieden schenkt, wenn eine Krankheit nicht verschwindet oder eine Bewerbung fehlschlägt. Jesus ist wahrnehmbar – nicht in der Veränderung unangenehmer Umstände, sondern mitten in ihnen. Die Augen dafür sind nicht die in meinem Kopf.

Abschied von zwei Seiten

In dem Lied „Je vole“ aus dem Film `Verstehen Sie die Beliers´ geht es um den Abschied einer Tochter von ihren Eltern – ein bewegendes Lied mit einem bewegenden Text: „Liebe Eltern, ich gehe. Heute Abend werdet ihr kein Kind mehr haben. Ich fliege, ich fliege (davon).“ Es ist der Tochter Paula schwergefallen, sich zum Weggehen zu entscheiden: Für ihre taubstummen Eltern war sie das Sprachrohr zur hörenden Umwelt war. Aber letztlich tut Paula es doch, sie zieht weg, nach Paris und geht dort auf eine Schule für Gesang. Das erwähnte Lied singt sie bei der Aufnahmeprüfung. Ihre Eltern sind dabei, verstehen „Je vole“ aber erst, als Paula es in Gebärdensprache übersetzt. Paula singt ernsthaft und mit Herzblut, aber man spürt ihr die Freude ab: Der Abschied ist nötig, sie nimmt ihn gern in Kauf.

Ich erinnere mich selbst noch sehr gut an meinen eigenen Auszug von zu Hause und an das Gefühl von Vorfreude auf das Neue, auf das Alleinsein, auf die Selbständig- und Unabhängigkeit. Es war auch ein wenig Unsicherheit im Spiel, aber vor allem das Gefühl von Freiheit: Dass der Auszug des jüngsten Kindes bei meinen Eltern sicherlich auch für Schmerz gesorgt hat – es war mir nicht bewusst.

Die Filmszene ist besonders und geht mir ans Herz. Ich kann sie nicht anschauen, ohne mit den Eltern zu weinen, auch wenn diese den Schritt ihrer Tochter letztlich gutheißen. Und es ist ja so, dass es für beide Seiten Trennung bedeutet, für beide hört das Vertraute auf – und doch ist das Abschiednehmen verschieden.

Paula verlässt, sie ist mutig und entschlossen. Vor allem fühlt sie: Vorfreude, Zuversicht und positive, spannende Erwartung.

Die Eltern werden verlassen. Für sie ist der Abschied mit Trauer verbunden und mit viel Zurückschauen.

Es gibt bei dem Abschied zwischen Kinder und Eltern immer zwei Seiten – verlassen und verlassen werden. Ich stand schon auf der einen, bald stehe ich auf der anderen Seite.