„Euer Sohn ist ja auch verwöhnt“, sagt jemand zu mir; es klingt wie eine Schwäche. Ich bin nicht sicher, ob ich zustimmen kann. Der Sohn, um den es geht, ist gerade ausgezogen in ein Studentenwohnheim. Die Etagenküche ist schmuddelig, das Bad, das er mit einem Mitstudenten nutzt, ebenso. Der Kühlschrank funktioniert nicht richtig – in seinem Fach steht regelmäßig Wasser. Er verbringt die Tage in seinem Zimmer: Ein Mathe-Kurs findet online statt; andere Studienanfänger kennt er noch nicht. Am Telefon klingt er nach vier Tagen ein wenig traurig. Ich kann ihn verstehen: Dass er niedergeschlagen wirkt, hat meiner Meinung nach mit den suboptimalen Umständen zu tun und nicht damit, dass er `verwöhnt´ wäre.
Aber stimmt das? Oder will ich nur nicht die Mutter sein, die ihre Kinder verwöhnt? Denn `verwöhnt´ klingt negativ, `gut versorgt´ klingt besser – die Grenze dazwischen ist nicht einfach zu ziehen. Wann ist ein Mensch verwöhnt? Verwöhnen geschieht immer in Relation zu den Umständen, in denen man lebt: Es bedeutet in Deutschland etwas anderes als in Sambia und sieht heute anders aus als früher. Muss man völlig anspruchslos sein – nur weil wir heutzutage und hierzulande mehr haben als Generationen vor uns und Menschen in ärmeren Ländern?
Für deutsche Verhältnisse im Jahr 2021 wachsen unsere Kinder in Unbeschwertheit und Reichtum auf; dennoch denke ich, wir verwöhnen sie nicht: Wir geben ihnen viel, aber einiges nicht – sie wissen, dass nicht alles selbstverständlich ist. Wir helfen ihnen und muten ihnen auch etwas zu. (Nur in Sachen Liebe und Annahme versuchen wir, maßlos zu sein…)
Einen Tag später meldet sich das `Kind´ und klingt hoffnungsvoller. Mit Küche und Bad wird er sich arrangieren – und sich putzend einbringen. Aber zuversichtlich stimmt ihn etwas ganz anderes: Er hat durch den Online-Kurs Kontakt zu einem Mitstudenten bekommen, der `korrekt´ ist. „Wenn das Semester richtig losgeht und andere Erstsemester hier sind, wird es sicher besser“, weiß er. Unser Sohn kann seine Ansprüche nach unten korrigieren oder selbst für einen gewissen Standard sorgen; aber mit Einsamkeit kann er nur schwer leben. Ich weiß nicht, ob das eine Schwäche ist.