Lesen – theoretisch und praktisch

Leseanfänger setzen mühselig Buchstaben zusammen und staunen am Ende jeden Wortes über das Ergebnis.

Geschultere Jung-Leser kommen mit bekannten Texten hervorragend, mit unbekannten gut zurecht.

Auf der nächsten Stufe klingt das Gelesene nicht nur flüssig und verständlich, sondern wird auch angemessen betont.

Oben auf dem Lese-Thron sitzt der Vielleser. Er kann Worte selbst dann noch lesen, wenn die Reihenfolge der Buchstaben nicht mehr stimmt oder sie teilweise durch Zahlen ersetzt werden.

Aber egal, wie gut es geht: Lesen entführt uns in andere Welten, erfreut unsere Seele, schult unseren Geist und macht uns glücklich.

Lesen

„Lesen – wozu braucht man das? Es soll ja klug machen, aber das braucht doch kein Mensch“, sagte mein jüngster Sohn gestern Abend, als er an seiner Ferienlektüre saß. Ich lächelte, er grinste. Er weiß, wie gern wir lesen und wie sehr wir uns wünschen, er täte es ebenso gern. Seinem eigenen Widerwillen gegen das Lesen kann das jedoch bisher nichts anhaben – und wird es vielleicht nie tun. Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden.

Ich bedauere die Horizonterweiterung, die ihm entgeht; es tut mir leid, dass er sich nicht für schöne Formulierungen begeistern kann; und ich ahne, dass ihm auch Bücher in anderen Sprachen verschlossen bleiben werden. Wie viel Schönes entgeht ihm, wie viel mehr muss er sich den Umgang mit Sprache selbst erarbeiten – nur weil er nicht liest.

Andererseits: Wieso ist mir sein Interesse fürs Lesen so viel wichtiger als beispielsweise die Fähigkeit, ein Instrument zu spielen? Vielleicht kann ich mir nicht vorstellen, dass er quietschfidel durchs Leben kommt, ohne Bücher zu lesen. Ich sollte mich mit dem Gedanken anfreunden, er ist elf und in dieser Frage sehr entschieden.

Anders lesen

„Liest du keine Zeitung?“, fragt mich mein Mann mit einem ungläubigen Blick. „Doch“, will ich sagen, „ich lese Zeitung, aber anders als du.“ Mir bleibt der Artikel im Gedächtnis über die Frau in einem Altersheim. „Corona ist mir egal“, hatte sie gesagt und auch, dass sie nicht gefragt worden sei, ob sie davor geschützt werden wolle. Ihre Worte sind mir noch einige Wochen später präsent und machen mich nachdenklich.

Ich erinnere mich auch noch an die herrlich lustige Kolumne, in der ein Journalist aus Hannover sein Leben ohne Friseur schilderte: Mit einer Tube Gel am Tag würde er das nicht geschnittene Haupthaar bändigen, schrieb er, aber nach einigen Wochen könne er die Frisur abends abnehmen wie bei einem Playmobil-Männchen. Ich musste so intensiv lachen über seine Überzeichnung, dass ich noch heute schmunzele, wenn ich daran denke.

Was ich nicht weiß – was aber auch in der Zeitung steht -, sind die Informationen, die mein Mann darin findet: Welchem Unternehmen in der Region es gut geht und welchem nicht, zum Beispiel. Oder auch, welcher Politiker von welcher Partei sich gerade merkwürdig wozu auch immer geäußert hat. Wirtschaft und Politik interessieren mich nur sehr begrenzt.

Das große Bienen- und Insektensterben in Deutschland nehme ich schon eher wahr – auch davon berichtet unsere Tageszeitung. Ich bringe es jedoch nicht – wie mein Mann – mit den wenigen in unserem Lavendel herumschwirrenden Hummeln in Zusammenhang. Wespen, die unser Grillfleisch mögen, gibt es meinem Empfinden nach so viele wie letztes Jahr auch. Ich ärgere mich höchstens, wie ausschließlich die Landwirte verantwortlich gemacht werden für das Verschwinden der Artenvielfalt – und aber kaum jemand mehr Geld für Lebensmittel ausgeben möchte.

Ich lese auch Zeitung, aber anders.

Vorlesen – zuhören – selber lesen

Ich liebe Bücher und lese sehr gern. Solange unsere Kinder es wollten, habe ich ihnen vorgelesen – immer hoffend, dass auch sie das Lesen für sich entdecken.

Es gab Bücher, die mich weniger, und andere, die mich mehr begeisterten: Meinen Kindern zuliebe las ich fast alles – inklusive Comics.
Am besten gefielen und gefallen mir die Bücher, bei denen ich als mit- oder vorlesende Mutter ebenso auf meine Kosten komme wie das mitlesende und zuhörende Kind. Von dieser Sorte gibt es nicht so viele; wenn mein Jüngster und ich so eins entdecken, bringt es uns beide zum Lächeln.
Als besonderes Geschenk empfinde ich es, wenn unsere Kinder gern lesen.

Ebenso muss es Lehrern gehen:
Unterricht, in dem Schüler etwas lernen, ist gut.
Unterrichtsstunden, die Schülern und Lehrer gleichermaßen Spaß machen, bringen ein Lächeln hervor.
Schüler, die sich für das Unterrichtsfach ihres Lehrers begeistern, sind für diesen ein besonderes Geschenk.

Durststrecke

Ich liebe Bücher – sie erweitern meinen Horizont und regen meine Phantasie an. Außerdem lese ich gern – und begeistere mich für schöne Formulierungen. In unserem Regal stehen Romane und Sachbücher in Deutsch und Englisch. Viele davon habe ich gelesen, einige gehören meinem Mann und sind für mich eher uninteressant.

In einem extra Fach liegen Bücher „in der Pipeline“, die ungelesenen. Ich habe sie selbst gekauft oder geschenkt bekommen. Manchmal rutscht ein Buch in den Hintergrund, weil mich das Thema jetzt doch nicht mehr so brennend interessiert wie noch vor Wochen. Oder ein anderes drängt sich wie von selbst in den Vordergrund – als hätte es einen eigenen Willen. Es gibt keine richtige oder falsche Reihenfolge: Ich lese einfach eins nach dem anderen, parallel lesen ist schwierig.

Momentan stauen und stapeln sich die ungelesenen Bücher, ich komme mit dem Lesen nicht hinterher: Meine Lesezeit wird durch Aufgaben und die ständige Gemeinschaft mit gesprächsbereiten Personen eingeschränkt. Meine Leselust kämpft mit meinem Bedürfnis nach frischer Luft und Bewegung. Solche Phasen gibt es. Wenn die derzeitige Durststrecke vorüber ist, gilt wieder: Ich liebe Bücher…, außerdem lese ich gern.

Mittagsstunde

Bücher begeistern aus den unterschiedlichsten Gründen. Sie können alles mögliche sein: informativ, spannend, unterhaltsam, erschütternd, anrührend – und sind hoffentlich gut geschrieben. Manche mag man gar nicht wieder weglegen, wenn man einmal angefangen hat. Ich glaube, bei vielen guten Büchern ist der Inhalt ein bisschen wichtiger als die Sprache: Wenn man fertig gelesen hat, tut es einem leid, dass die Geschichte vorbei ist.

Seltener sind die Bücher, die man vor allem deswegen nicht weglegen mag, weil sie so schön geschrieben sind. In denen ist die schöne Sprache ein bisschen wichtiger als der Inhalt. So ein Buch ist für mich „Altes Land“ von Dörte Hansen. Die Frau benutzt wunderschöne Sätze, um eine Geschichte zu erzählen. Ich habe das Buch sogar ein zweites Mal gelesen, mit Begeisterung – und das ist wirklich sehr besonders.

Im vergangenen Herbst ist Dörte Hansens zweites Buch erschienen – „Mittagsstunde“. Weil meine Schwester weiß, dass ich immer auf die Taschenbuchausgabe warte, hat sie mir das Buch einfach mal so geschenkt. Meine Erwartungen waren hoch, daher habe ich mit dem Lesebeginn ein wenig gezögert. Vor ein paar Tagen habe ich angefangen und lese „Mittagsstunde“ nun in meiner persönlichen Mittagsstunde. Die ist lang genug, um ein bisschen in Dörte Hansens schönen Formulierungen zu versinken, und kurz genug, um nicht so schnell fertig zu werden. Denn: Die Frau benutzt wieder wunderschöne Sätze, um eine Geschichte zu erzählen.

Was man in der Schule lernt – und was nicht

Mein jüngster Sohn kann sprechen und zuhören. Das hat er zu Hause gelernt, neben vielen anderen Dingen, die nichts mit der deutschen Sprache zu tun haben. Er weiß, dass man miteinander reden kann – direkt oder per Telefon. Für andere Kommunikationswege und auch, um noch mehr zu lernen, muss man schreiben und lesen können. Das – und viele andere Dinge – lernt er in der Schule, er ist in der vierten Klasse. Deutschunterricht ist wichtig, aber auch mühsam, denn unsere Sprache hat viele Worte und ein kompliziertes Regelwerk. Wir helfen ihm, indem er zu Hause redet, liest und manchmal etwas schreibt.

Heute kam er aus der Schule nach Hause und sagte als erstes: „Mama, das war so cool – wir hatten keinen Deutschunterricht.“ „Wieso? Kannst du schon alles oder war die Lehrerin krank?“ „Nein, wir hatten stattdessen Klassenrat, weil XY gemobbt wird. Über WhatsApp, da werden von anderen Mitschülern blöde Sachen über sie ins Internet gestellt. Das kann jetzt die ganze Welt sehen – naja, vielleicht nicht die GANZE, aber doch ziemlich viele Leute. Und die Dinge bleiben ja da stehen, weißt du?“

Ja, weiß ich. Noch bevor die Kinder heutzutage wissen, wie man richtig Schreckschraube schreibt, bezeichnen sie einander so und schlimmer – aber nicht mehr direkt von Angesicht zu Angesicht, sondern von einem mobilen Handgerät zum nächsten. Und „alle Welt“ kann daran teilhaben. Es ist wichtig, dass die Kinder darüber sprechen – keine Frage. Aber ich denke, für diese Lernfelder sind die Eltern zuständig. Deutschunterricht hilft Kindern, gut mit ihrer Muttersprache umzugehen. Eltern helfen ihren Kinder, gut miteinander umzugehen. Wenn es sein muss auch mittels eines Gerätes, das Kinder bedienen können, ohne lesen und schreiben zu können.

Schule kann sich nicht um die gesamte Erziehung kümmern – auch wenn wir gern jemanden hätten, den wir für alles verantwortlich machen können.

Ich lese viel und trotzdem …

Im Gespräch mit einer Freundin ging mir (und ihr) kürzlich auf, dass ich Wolfgang Herrndorf nicht kenne. Der Name sagte mir nichts. Der Blick meiner Freundin war deutlich: „Das kann nicht wahr sein, die kennt den nicht.“ Der Titel seines bekanntesten Buches „Tschick“ sagte mir dann doch etwas, aber ich hab´s nicht gelesen. Und nur vom Reinschauen – Schullektüre meiner Tochter – habe ich den Autorennamen nicht behalten.

Mir geht’s jetzt gar nicht darum, ob mir durch meine Ignoranz etwas entgangen ist oder nicht. Lektüre ist ohnehin Geschmackssache. Mir geht’s um etwas anderes: Was muss ich gelesen haben als Deutsche in Deutschland im 21. Jahrhundert? Welchen Autor muss ich kennen? Gibt es einen aktuellen Buch-Kanon, der Kulturgut ist, wird, sein sollte?

Grundsätzlich halte ich mich für eine Viel-Leserin – ohne dass ich weiß, wo beim Lesen der Durchschnitt liegt. Ich lese weder Arzt-Romane noch die Gala, auch Fantasy-Bücher sind nicht so meins, ich lese nur selten Krimis und kaum Sachbücher. Und doch lese ich relativ viel – vor allem Romane, gern auch Biografien und geistliche Bücher, am regelmäßigsten Bücher der Bibel. Und: Ich lese gern auf Englisch. Das schränkt mein Wissen um deutsche Literatur natürlich ein. Ob ein Buch auf der Spiegel-Bestseller-Liste steht oder nicht, interessiert mich nicht und ist kein ausschlaggebendes Kriterium. Auch beobachte ich nicht die aktuellen Neuerscheinungen oder die Frankfurter Buchmesse. Von daher bin ich wahrscheinlich nicht up to date, was „man“ so liest.

Viel zu lesen, ist nicht dasselbe wie Belesensein. Viel zu lesen, sorgt nicht dafür, dass ich die wichtigen Autoren kenne. (Wer auch immer festlegt, welcher Autor wichtig ist und welcher nicht.) Viel zu lesen, macht mich wahrscheinlich noch nicht einmal besonders schlau. Höchstens rechtschreibsicher, aber auch das ist nicht garantiert. Viel zu lesen macht mir Spaß, entspannt mich und erweitert meinen Horizont. Was ich lese, entscheidet darüber, in welche Richtung er erweitert wird. Dass ich Wolfgang Herrndorf nicht kenne, heißt nicht, dass ich die falschen Bücher lese. Auch wenn ich das einen klitzekleinen Augenblick gedacht habe.