Anders lesen

„Liest du keine Zeitung?“, fragt mich mein Mann mit einem ungläubigen Blick. „Doch“, will ich sagen, „ich lese Zeitung, aber anders als du.“ Mir bleibt der Artikel im Gedächtnis über die Frau in einem Altersheim. „Corona ist mir egal“, hatte sie gesagt und auch, dass sie nicht gefragt worden sei, ob sie davor geschützt werden wolle. Ihre Worte sind mir noch einige Wochen später präsent und machen mich nachdenklich.

Ich erinnere mich auch noch an die herrlich lustige Kolumne, in der ein Journalist aus Hannover sein Leben ohne Friseur schilderte: Mit einer Tube Gel am Tag würde er das nicht geschnittene Haupthaar bändigen, schrieb er, aber nach einigen Wochen könne er die Frisur abends abnehmen wie bei einem Playmobil-Männchen. Ich musste so intensiv lachen über seine Überzeichnung, dass ich noch heute schmunzele, wenn ich daran denke.

Was ich nicht weiß – was aber auch in der Zeitung steht -, sind die Informationen, die mein Mann darin findet: Welchem Unternehmen in der Region es gut geht und welchem nicht, zum Beispiel. Oder auch, welcher Politiker von welcher Partei sich gerade merkwürdig wozu auch immer geäußert hat. Wirtschaft und Politik interessieren mich nur sehr begrenzt.

Das große Bienen- und Insektensterben in Deutschland nehme ich schon eher wahr – auch davon berichtet unsere Tageszeitung. Ich bringe es jedoch nicht – wie mein Mann – mit den wenigen in unserem Lavendel herumschwirrenden Hummeln in Zusammenhang. Wespen, die unser Grillfleisch mögen, gibt es meinem Empfinden nach so viele wie letztes Jahr auch. Ich ärgere mich höchstens, wie ausschließlich die Landwirte verantwortlich gemacht werden für das Verschwinden der Artenvielfalt – und aber kaum jemand mehr Geld für Lebensmittel ausgeben möchte.

Ich lese auch Zeitung, aber anders.

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