Das Leben

Gibt es noch ein anderes Thema als die Pandemie? Darf es noch ein anderes Thema geben? Das Leben ist doch mehr als ein temporär durch ein Virus bedrohter Zustand. Unser Leben besteht normalerweise aus Geburt und Tod und jeder Menge dazwischen: Freude und Traurigkeit, Gelingen und Versagen, Dankbarkeit und Frust, Alleinsein und Gemeinschaft, Überzeugung und Glauben, Anspannung und Entspannung, Zwang und Freiheit, Genuss und Abscheu, Mut und Angst, Verstand und Gefühl, Kämpfen und Aufgeben, Interesse und Ignoranz, Kopf und Herz, Körper und Geist, Anstrengung und Pause, Reden und Hören, Heilung und Zerbruch, selbst bestimmen und hinterher trotten …

Momentan nimmt Corona unfassbar viel Raum ein und drängt alles in den Hintergrund. Das darf nicht zur neuen Normalität werden.

Ostern

Pünktlich zu Ostern las ich einen Artikel in der Zeitung, in dem es um zwei Wissenschaftler ging und ihre These, dass Jesus wahrscheinlich gar nicht tot war nach der Kreuzigung. Laut dieser These war er wahrscheinlich „nur“ in ein Kohlendioxid-Koma gefallen, die Aufbewahrung in der kühlen Gruft tat ihm dann gut. Daraufhin versteckte er sich ein paar Wochen, um nicht noch nachträglich gefangengenommen und hingerichtet zu werden. Und seine Himmelfahrt machte dann möglich, dass er unter neuer Identität den Rest seines Lebens irgendwo ganz nicht-öffentlich verbringen konnte.

Natürlich ist die These schöner formuliert und begründeter ausgeführt; aber darum geht es jetzt nicht. Ich war erstaunt, was dieser Artikel alles in mir ausgelöst hat:

Anfangs ärgerte ich mich, dass jemand sich auf die Fahnen schreibt, DIE zentrale Wahrheit und Botschaft des Christentums anzuzweifeln und dann auch noch – 2.000 Jahre später – wissenschaftlich zu begründen. Der Autor des daraus hervorgegangenen Buches bezeichnete dieses angeblich selbst als „Schriftchen“ – auch das hat mich geärgert. Schriftchen. Das klingt so harmlos. Dabei sind die Zweifel, die er sät, keineswegs harmlos. Die Verunsicherung, die er stiftet, ist nicht harmlos: Sie kann für Menschen folgenschwer sein, Menschen in eine Krise führen. Solange das Schriftchen behauptet, die Wahrheit zu kennen, und nicht gleichermaßen Offenheit für eigenen Irrtum demonstriert, sind die geäußerten (wissenschaftlich begründeten) Vermutungen eine Herausforderung für jeden ernsthaft an Jesus glaubenden Menschen auf dieser Welt.

Weiter habe ich mich gefragt, ob ich nicht froh sein müsste über derartige Thesen. Ich bin doch auch an Wahrheit interessiert, ich möchte mich dem nicht sperren: Zweifel an etwas zu haben, ist nicht per se schlecht. Meine Wahrheitssuche geht jedoch nicht soweit, dass ich Lust hätte, das Buch zu lesen. Mit dieser Art Zweifeln möchte ich mich nicht auseinandersetzen, da hinein möchte ich meine Energie nicht investieren. Ehrlich gesagt? Interessiert mich nicht. Die historische Glaubwürdigkeit Jesu stellt heutzutage kaum jemand in Frage; ich habe in diesen Fragen nicht den Anspruch, auf dem neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu sein. Ich bin ein Schaf in der Masse der Gläubigen und überlasse derartige Untersuchungen und ihre Auswertung, Bestätigung oder Widerlegung gern anderen.

Meine abschließenden Gedanken gingen zu Gott selbst. Ich kenne ihn als einen liebenden Vater und einen eifernden Gott, der auch zornig sein kann. Um Menschen, die seinen Namen in den Schmutz ziehen, kümmert er sich selbst. Er will nicht, dass wir verurteilen und richten. Jesus selbst hat uns das vorgelebt. Als Petrus dem Soldaten des Hohepriesters ein Ohr abschlug, weil dieser Jesus verhaften wollte, da heilte Jesus dieses Ohr: „Lasst ab! Nicht weiter!“ (Lukas 22, 51) Oder: „Steck dein Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ (Johannes 18, 11)

Gott hatte schon immer Widersacher. Gott hat seine eigene Art, mit ihnen umzugehen: Für sie – wie auch für mich – hat er seinen Sohn auf diese Welt geschickt, durch die Kreuzigung sterben und nach drei Tagen auferstehen lassen. Das ist Ostern – auch wenn viele Menschen es feiern, ohne die Wahrheit dahinter zu verstehen oder zu glauben.

Vom Leben vor dem Sterben

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Wenn ich wüsste, wann ich sterben muss – würde ich dann anders leben? Ich weiß, dass ich sterben muss. Ich weiß auch, dass die Zeit bis dahin höchstens in Jahrzehnten zu zählen ist. Und ich empfinde die Zeit als immer schneller vergehend, je älter ich werde. Müsste ich nicht viel bewusster im Wissen um dieses Sterben leben?

Ich wäre (noch) ehrlicher. Ich würde noch mehr von den Aktionen und Aufgaben streichen, die ich für entbehrlich halte. Ich würde mich noch mehr auf die Beziehungen in meinem Leben konzentrieren. Ich würde versuchen, alles zu genießen und bewusst zu gestalten – auch die Dinge, die mir nicht so gut gefallen. Mir mehr Zeit nehmen, abzuwägen, ob etwas wirklich dran ist oder nicht.

Meine Umstände würde ich nicht ändern, keine besondere Reise machen oder noch einen Paragliding-Flug, auch keinen Marathon oder eine Solo-Umseglung der Welt. Ich würde versuchen, den einzelnen Tag zu nehmen, wie er ist, und in ihm Gott suchen. Und ich würde nicht immerzu darüber nachdenken, dass es bald vorbei ist. Im Grunde lebe ich das – in Ansätzen – schon jetzt. Wachstumspotential gibt es immer: Ich halte mich noch nicht für besonders klug.

Tod – Juni 2016

Ganz plötzlich und – für mich – unerwartet ist einer meiner ältesten Freunde gestorben. Im Frühjahr noch habe ich dem Drang nicht nachgegeben, ihm einfach mal so zu schreiben, sondern habe mich auf den Sommer vertröstet – auf seinen Geburtstag. Im Juni erreichte mich die Todesanzeige; und ich frage mich, warum ich einen Anlass brauchte, mich zu melden? Zu spät, unwiderruflich zu spät. Wie schade!

Im Lesen seiner alten Briefe (unsere Kommunikationsebene) von vor knapp dreißig Jahren lebt die Zeit wieder auf, treffe ich das Mädchen wieder, das ich damals war. Ein bisschen ist dieses Mädchen, das so nur er kannte, mit verschwunden und nicht mal mehr in meiner Erinnerung präsent.

Warum weine ich – um seinetwillen, um meinetwillen, um der verpassten Gelegenheiten willen, um seiner Familie willen, die ohne ihn weiter leben muss? Für wen sind meine Tränen? Und: Was tue ich, wenn ich das nächste Mal den Impuls verspüre, mich bei einem alten Freund zu melden?

Juni 2018: Ich vermisse ihn noch immer – besonders im Sommer. Aber vor allem bin ich dankbar für die Freundschaft, die uns verband, für die Briefe, die gemeinsame Zeit. Meine Dankbarkeit überlebt seinen Tod, mein Freund bleibt Teil meines Lebens.