Efeu häckseln

Im Herbst beschneiden wir die Büsche und Sträucher in unserem Garten und häckseln, was dabei anfällt. Es ist eine Menge; wir sind jedes Jahr einige Nachmittage damit beschäftigt. Bei gutem Wetter macht diese Arbeit sogar Spaß: Man bewegt sich und ist an der frischen Luft. Kinder und Jugendliche verstehen unter Spaß etwas anderes …

Manche Äste lassen sich problemlos häckseln – gerade Weidenruten, gern leicht verholzt. Andere stellen höhere Ansprüche an die Leistungsfähigkeit des Häckslers und die Geduld der Häckselnden: Stark verzweigte, sehr dicke Äste eignen sich zum Beispiel nicht besonders gut. Ausgesprochen mühsam ist es mit Efeu: Die Ranken sind einfach zu weich und die Blätter sehr saftig – beides verstopft schnell den Häcksler.

Während ich Zweiglein für Zweiglein in unseren zuverlässigen Häcksler stopfe, denke ich: Das Leben ist ebenfalls unterschiedlich `schön´ – manche Phasen sind leichtgängig, manche mühselig. Dazwischen eingestreut liegen Zeiten, in denen man Rückenwind hat, die perfekte Welle erwischt oder alles `wie ein Länderspiel läuft´, wie mein Vater sagen würde.

Obwohl sie so verschieden sind wie Efeu und Weidenruten, ähneln sich die Phasen unseres Lebens: Sie gehen vorbei, entweder quälend langsam oder wie im Flug. Und sie lassen uns alle irgendwie reifen – wahrscheinlich je mühseliger desto deutlicher. (Trotzdem bin ich froh, dass nicht nur Efeu in unserem Garten wächst.)

Vorbei

Nach dem Regen der vergangenen Tage wächst der Löwenzahn am Wegesrand ganz wunderbar: `Super Stelle, um Kaninchenfutter zu flücken´, schießt es mir aus alter Gewohnheit durch den Kopf – obwohl wir schon seit einigen Monaten keine Kaninchen mehr haben. Vorbei, … die Kaninchenphase ist vorbei.

Wir verschenken die Roller, die keiner mehr benutzt; und der Garten ähnelt weniger einem Spielplatz als noch vor drei Jahren: Weg sind das Trampolin, der Sandkasten, die Reckstange und im Sommer der Pool. Mit den beiden Fußballtoren können wir leben – und rücken sie zur Seite, wenn sie keiner braucht. So gefällt uns die Aussicht von der Terrasse besser. Vorbei, … die Kinder-Tobe-Phase ist vorbei.

Die wenigsten Kontakte halten über Jahrzehnte. Im Laufe unseres Lebens verlieren wir Menschen wieder aus den Augen – weil sie wegziehen, die Kinder nicht kompatibel sind oder es doch nicht so gut passt … Vorbei, … manche Beziehungsphasen gehen vorbei.

Alles hat seine Zeit; auch der jetzige Status quo hat sicherlich einige (materielle oder andere) Eigenheiten, die irgendwann der Vergangenheit angehören werden. Vorbei, … das Leben geht vorbei. Uns gehört nur der Moment … 

Leben in der Bude – zwei Seiten

Vier Kinder kommen (nach einer Woche) wieder nach Hause. Die Freude ist groß, wir hatten sie vermisst. Einerseits: Plötzlich ist wieder Leben in der Bude – das Kochen lohnt sich, das Waschen auch. Von Stille und Langeweile sind wir weit entfernt.

Andererseits: Das Leben in der Bude ist laut und wuselig – zum Teil reden alle durcheinander; überall liegt Zeug herum. Die Halbwertzeit des Putzens hat sich dramatisch verkürzt. Von Ordnung und Muße sind wir weit entfernt.

Das Leben

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“
Johannes 6, 33

Ich liebe Pfingstrosen. Bevor meine im Garten blühen, kauft mir mein Mann ein paar für die Vase. Einige davon sehen nach zwei Wochen noch ebenso aus wie am Anfang. Die geschlossenen Knospen verändern sich nicht und wirken tot. Ich kann ihnen nicht helfen, sich zu entfalten. Diesen Lebensprozess muss Gott in Gang setzen, sonst passiert nichts.

Einige Zeit später bringt mir eine Freundin zwei Pfingstrosen aus ihrem Garten mit – anfangs mit fest verschlossenen Knospen. Drei Tage später sehe (und rieche) ich, was in einer Pfingstrose steckt, die lebt.

Nicht nur ein Kalb

Ich gehe über die Felder und sehe meine Freundin winken: „Komm her, ich muss dir etwas zeigen!“, ruft sie mir zu – und strahlt über das ganze Gesicht. Sie klingt, als wäre etwas Besonderes passiert. Dabei erlebt sie jedes Jahr mindestens 50 Geburten; aber auch über die von heute freut sie sich sehr. Im Stall darf ich es bewundern, das neugeborene Kalb. Da liegt es im Stroh, ganz frisch und feucht – und winzig im Vergleich mit seiner 600 Kilogramm schweren Mama. Alles ist super gelaufen bei dieser Geburt; das ist oft so, aber nicht immer. Dieses Mal werden sehr sicher beide überleben, Kuh und Kalb. Das ist natürlich eine schöne Bestätigung für die Bäuerin – die Umstände in diesem Stall sind lebensförderlich. Noch dazu ist ein gesundes Kuh-Kalb ein finanzieller Gewinn. Aber für meine Freundin ist es eben nicht nur das: Sie erlebt ein fröhliches Staunen, die beiden da so liegen zu sehen. Und es ist völlig egal, ob sie das schon hunderte Male miterlebt hat: Für sie bleibt es etwas Besonderes.

Zwei Stunden später bekomme ich eine Nachricht: „Übrigens, Dagmar, da kam noch ein zweites hinterher, noch ein Kuh-Kalb.“ Aber es ist nicht nur ein Kalb, denke ich. Es ist auch schwarz-weiß gefleckte Bestätigung ihrer Arbeit, finanzieller Gewinn – und Anlass zu großer Freude über das Leben.

Das Leben

Das Leben ist kurz und geht schnell vorüber.

Früher waren wir „jung und unerfahren“; heute sind wir plötzlich „die Älteren mit Lebenserfahrung“. Die Jahre dazwischen verliefen unter dem Motto „Versuch macht klug“. Es wird genauso weitergehen. Das Leben bleibt ein Übungsfeld: schwer plan- und nicht vorhersehbar – es hilft, flexibel zu bleiben.

Jüngere dagegen nehmen uns anders wahr – und halten uns vielleicht sogar für klug. Dabei sind wir nur ein bisschen abgeklärter: Heute können wir besser einschätzen als früher, was geht und was nicht. Wir wissen, was wir können und wollen – und wovon wir lieber die Finger lassen. In uns wichtigen Fragen nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund; über Oberflächliches reden wir ungern. Wir halten das Schweigen aus, denn fürs Drumherumreden ist uns unsere Zeit zu schade.

Das Leben ist kurz und geht schnell vorüber.

Vorbereitung (3)

Die Schwester eines Freundes ist an Krebs verstorben. Von der Diagnose bis zum Tod dauerte es nur ein halbes Jahr – das Ende war von Anfang an absehbar. „Da bekommst du eine solche Diagnose, und alles, was dir für die „letzte“ Zeit bleibt, ist, dich auf den Tod vorzubereiten“, sagt mein Mann. Manche nutzen die Zeit anders: Sie verdrängen das Ende bis zum Schluss. Denn es ist schwer, Abschied zu nehmen von Menschen, Orten, Dingen und dem Leben selbst.

Auch ohne Diagnose hat meine „letzte“ Zeit schon angefangen – ich weiß nur nicht, wie lange sie dauert. Ich kann mich nicht jahrzehntelang täglich auf mein Sterben vorbereiten. Aber ich kann täglich versuchen, das Wichtige nicht auf morgen zu verschieben:
um Entschuldigung zu bitten und zu verzeihen,
ehrlich zu bleiben,
mir einen offenen Geist zu bewahren,
Menschen ernst zu nehmen,
Pausen zu machen,
die Stille zu suchen und auszuhalten,
das Gelingen zu sehen und aus dem Scheitern zu lernen,
der Freude Raum zu geben – und der Traurigkeit.

Das Leben

Gibt es noch ein anderes Thema als die Pandemie? Darf es noch ein anderes Thema geben? Das Leben ist doch mehr als ein temporär durch ein Virus bedrohter Zustand. Unser Leben besteht normalerweise aus Geburt und Tod und jeder Menge dazwischen: Freude und Traurigkeit, Gelingen und Versagen, Dankbarkeit und Frust, Alleinsein und Gemeinschaft, Überzeugung und Glauben, Anspannung und Entspannung, Zwang und Freiheit, Genuss und Abscheu, Mut und Angst, Verstand und Gefühl, Kämpfen und Aufgeben, Interesse und Ignoranz, Kopf und Herz, Körper und Geist, Anstrengung und Pause, Reden und Hören, Heilung und Zerbruch, selbst bestimmen und hinterher trotten …

Momentan nimmt Corona unfassbar viel Raum ein und drängt alles in den Hintergrund. Das darf nicht zur neuen Normalität werden.

Ostern

Pünktlich zu Ostern las ich einen Artikel in der Zeitung, in dem es um zwei Wissenschaftler ging und ihre These, dass Jesus wahrscheinlich gar nicht tot war nach der Kreuzigung. Laut dieser These war er wahrscheinlich „nur“ in ein Kohlendioxid-Koma gefallen, die Aufbewahrung in der kühlen Gruft tat ihm dann gut. Daraufhin versteckte er sich ein paar Wochen, um nicht noch nachträglich gefangengenommen und hingerichtet zu werden. Und seine Himmelfahrt machte dann möglich, dass er unter neuer Identität den Rest seines Lebens irgendwo ganz nicht-öffentlich verbringen konnte.

Natürlich ist die These schöner formuliert und begründeter ausgeführt; aber darum geht es jetzt nicht. Ich war erstaunt, was dieser Artikel alles in mir ausgelöst hat:

Anfangs ärgerte ich mich, dass jemand sich auf die Fahnen schreibt, DIE zentrale Wahrheit und Botschaft des Christentums anzuzweifeln und dann auch noch – 2.000 Jahre später – wissenschaftlich zu begründen. Der Autor des daraus hervorgegangenen Buches bezeichnete dieses angeblich selbst als „Schriftchen“ – auch das hat mich geärgert. Schriftchen. Das klingt so harmlos. Dabei sind die Zweifel, die er sät, keineswegs harmlos. Die Verunsicherung, die er stiftet, ist nicht harmlos: Sie kann für Menschen folgenschwer sein, Menschen in eine Krise führen. Solange das Schriftchen behauptet, die Wahrheit zu kennen, und nicht gleichermaßen Offenheit für eigenen Irrtum demonstriert, sind die geäußerten (wissenschaftlich begründeten) Vermutungen eine Herausforderung für jeden ernsthaft an Jesus glaubenden Menschen auf dieser Welt.

Weiter habe ich mich gefragt, ob ich nicht froh sein müsste über derartige Thesen. Ich bin doch auch an Wahrheit interessiert, ich möchte mich dem nicht sperren: Zweifel an etwas zu haben, ist nicht per se schlecht. Meine Wahrheitssuche geht jedoch nicht soweit, dass ich Lust hätte, das Buch zu lesen. Mit dieser Art Zweifeln möchte ich mich nicht auseinandersetzen, da hinein möchte ich meine Energie nicht investieren. Ehrlich gesagt? Interessiert mich nicht. Die historische Glaubwürdigkeit Jesu stellt heutzutage kaum jemand in Frage; ich habe in diesen Fragen nicht den Anspruch, auf dem neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu sein. Ich bin ein Schaf in der Masse der Gläubigen und überlasse derartige Untersuchungen und ihre Auswertung, Bestätigung oder Widerlegung gern anderen.

Meine abschließenden Gedanken gingen zu Gott selbst. Ich kenne ihn als einen liebenden Vater und einen eifernden Gott, der auch zornig sein kann. Um Menschen, die seinen Namen in den Schmutz ziehen, kümmert er sich selbst. Er will nicht, dass wir verurteilen und richten. Jesus selbst hat uns das vorgelebt. Als Petrus dem Soldaten des Hohepriesters ein Ohr abschlug, weil dieser Jesus verhaften wollte, da heilte Jesus dieses Ohr: „Lasst ab! Nicht weiter!“ (Lukas 22, 51) Oder: „Steck dein Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ (Johannes 18, 11)

Gott hatte schon immer Widersacher. Gott hat seine eigene Art, mit ihnen umzugehen: Für sie – wie auch für mich – hat er seinen Sohn auf diese Welt geschickt, durch die Kreuzigung sterben und nach drei Tagen auferstehen lassen. Das ist Ostern – auch wenn viele Menschen es feiern, ohne die Wahrheit dahinter zu verstehen oder zu glauben.

Vom Leben vor dem Sterben

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Wenn ich wüsste, wann ich sterben muss – würde ich dann anders leben? Ich weiß, dass ich sterben muss. Ich weiß auch, dass die Zeit bis dahin höchstens in Jahrzehnten zu zählen ist. Und ich empfinde die Zeit als immer schneller vergehend, je älter ich werde. Müsste ich nicht viel bewusster im Wissen um dieses Sterben leben?

Ich wäre (noch) ehrlicher. Ich würde noch mehr von den Aktionen und Aufgaben streichen, die ich für entbehrlich halte. Ich würde mich noch mehr auf die Beziehungen in meinem Leben konzentrieren. Ich würde versuchen, alles zu genießen und bewusst zu gestalten – auch die Dinge, die mir nicht so gut gefallen. Mir mehr Zeit nehmen, abzuwägen, ob etwas wirklich dran ist oder nicht.

Meine Umstände würde ich nicht ändern, keine besondere Reise machen oder noch einen Paragliding-Flug, auch keinen Marathon oder eine Solo-Umseglung der Welt. Ich würde versuchen, den einzelnen Tag zu nehmen, wie er ist, und in ihm Gott suchen. Und ich würde nicht immerzu darüber nachdenken, dass es bald vorbei ist. Im Grunde lebe ich das – in Ansätzen – schon jetzt. Wachstumspotential gibt es immer: Ich halte mich noch nicht für besonders klug.