In der heutigen Zeit

Im Supermarkt an der Brot-Selbstbedienung liegt ein Einmal-Handschuh von meinem Vorgänger: Ich benutze ihn und lege ihn wieder hin – für meinen Nachfolger. Als ich weitergehe, spricht jemand hinter mir: „Man kann seinen Müll auch wegwerfen.“ Ich drehe mich um. Tatsächlich: Ich bin gemeint – also antworte ich: „Ich habe den Handschuh verwendet, der dort schon lag. Und ich habe ihn nicht weggeworfen, weil ich dachte, er könnte noch einmal benutzt werden.“ Der Mann hebt kaum den Blick: „In der heutigen Zeit?“ Ich bedanke mich für seinen Hinweis.

Die Begegnung ist kurz, trotzdem beschäftigt sie mich noch eine Weile. In der heutigen Zeit sollen wir uns möglichst voneinander fern halten und wahrscheinlich nicht dieselben Einmal-Handschuhe benutzen – es soll gut sein für uns alle. Außerdem achten wir in der heutigen Zeit wieder mehr darauf, was der andere tut – das ist gut bis umstritten. Offensichtlich üben wir uns in der heutigen Zeit auch verstärkt darin, anderen Anweisungen zu geben – das kann man für gut halten (Zivilcourage) oder für übergriffig.

Wir werden sehen, was davon typisch ist für die heutige Zeit und was uns in Zukunft noch begleiten wird. Auf jeden Fall wünsche ich mir, dass wir uns direkt ansprechen und in die Augen schauen, wenn wir etwas zu sagen haben. Von hinten und ohne Blickkontakt werde ich weder heute noch morgen gern kritisiert.

Nur für den Moment

Jemand, den wir schätzen, kann fast alles sagen – oder singen. Herbert Grönemeyers „Der Mond ist aufgegangen“ ist ein Beispiel dafür: Wenn er singt: „Verschon` uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen“, hören auch Menschen andächtig zu, die normalerweise mit Gott nichts am Hut haben und guten Schlaf für eine Selbstverständlichkeit halten. Aus seinem Mund klingt das Lied nicht nur schön und wahr, sondern sorgt bei den meisten für eine Gänsehaut.

Es ist aber auch ein wunderbarer Text: „Siehst du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen – und ist doch rund und schön. So sind gar manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht seh`n.“ `Stimmt´, denken die Zuhörer: `Ab morgen gehen wir mit offenen Augen und einem weiten Geist durch die Welt.´ Aber morgen werden die meisten vergessen haben, was Herbert heute so eindrücklich singt. Sie werden wieder belächeln, was sie nicht sehen, greifen oder erklären können – und Gott ist eben auch eine solche „Sache“… 

Heute

Heute Morgen fand ich auf unserer Terrasse einen Blumenstrauß, ein Fläschchen Löwenzahn-Sirup und einen langen Brief an mich. Eine Freundin hatte sich offenbar schon sehr früh auf den Weg gemacht, mir einen Gruß vorbeizubringen. Wie schön!

Heute Nachmittag war ich bei einer anderen Freundin zum Reden und Beten. Zum Abschluss legte sie mir ein warmes Körnerkissen auf meine Schultern, stellte mir eine aufgeschnittene Mango vor die Nase und sagte: „Dagmar, die isst du hier! Wenn ich sie dir mitgebe…“, und ich ergänzte, „… darf ich sie teilen.“ Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben schon einmal eine Mango ganz allein gegessen habe, noch dazu so eine leckere.

Heute Abend sprang mir die Kette vom Rad. Während ich mich vornüber beugte und mit einem stillen Seufzer die (natürlich frisch geölte) Kette wieder aufzog, liefen zwei schwarzbeschuhte Füße in mein Blickfeld. Abstands-, anstandslos und im Grunde wortlos griff ein freundlicher Spaziergänger – Sorte: älterer Herr mit Hund – zu, hob das Hinterrad an und belastete im richtigen Moment langsam die Pedale: Kette wieder drauf.

Heute war ein Tag wie jeder andere: Ich machte Essen, ging ein Brot holen, kümmerte mich um die Wäsche, half bei den Schulaufgaben …
Dazwischen gab es drei Geschenke nur für mich.

Heute war ein besonderer Tag!

Die Zeit vergeht

Wir waren in den vergangenen zwölf Monaten auf drei Silberhochzeitsfeiern; unser Ältester ist volljährig; und mir flatterte vor einigen Tagen eine Bescheinigung über meine künftig zu erwartende Rente ins Haus – inklusive der körperlichen Präventionsmaßnahmen, die man ergreifen kann und sollte, bevor das Alter zuschlägt…

Außerdem vorhin auf dem Parkplatz bei Edeka. Ein älterer mir bekannter Mann steigt aus seinem Auto und ruft mir zu: „Na, immer noch mit dem Fahrrad unterwegs.“ Ich erwidere, dass ich das wohl noch eine Weile so handhaben werde. Er entgegnet: „Das kann schneller vorbei sein, als man denkt.“

Jetzt erst recht, denke ich: Das Leben ist schön!

Muss ich oder kann ich?

Mein Leben besteht aus zwei Hälften. Sie sind nicht gleich lang, aber wahrscheinlich gleich wichtig: Die eine Hälfte endete gestern, die zweite Hälfte fängt morgen an. Die eine Hälfte liegt hinter mir und bereichert mein Heute mit Erfahrungen; die zweite Hälfte liegt vor mir und bereichert mein Heute mit Erwartungen. Jetzt könnte ich denken, der größere Teil ist schon vorbei und ich stelle mir den Rest meines Lebens wie einen sich verengenden Trichter vor. Die Möglichkeiten und Gelegenheiten werden weniger, weil mir weniger Zeit bleibt, sie zu tun, und weil ich älter und weniger leistungsfähig werde. Außerdem ziehe ich (scheinbar?) mit jeder getroffenen Entscheidung engere Grenzen, was noch erlebbar ist.

Aus anderer Perspektive betrachtet nehmen die Möglichkeiten und Gelegenheiten zu, weil ich weniger erledigen muss (Berufsausbildung, Familiengründung, sesshaft werden), ich älter (und weiser) werde und vielleicht ja auch vermögender.

Entscheidungen trifft man ja immer für eine und automatisch gegen mindestens 17 andere Sachen. Einerseits: Bestimmte Dinge kannst du nicht mehr machen. Noch ein Studium geht nicht, noch ein Kind geht nicht, noch ein halbes Jahr im Ausland geht nicht. Andererseits: Ich muss gewisse Dinge nicht mehr machen und kann die Zeit für anderes nutzen als für ein Studium, ein weiteres Kind, ein Auslandsjahr.

Solange ich entscheide, gestalte ich. Ich konnte das immer, und es war schon immer begrenzt – früher von anderen Dingen und Umständen als heute. Das stärkste Limit ist in meinem Kopf, das größte Hindernis ist mein nicht vorhandener Mut. Und: Letztlich ist mein Gestaltungsspielraum immer gleich – es ist immer nur der heutige Tag. Der heutige Tag ist der einzige, den ich wirklich besitze. Das war schon immer so und wird immer so bleiben.