Muss ich oder kann ich?

Mein Leben besteht aus zwei Hälften. Sie sind nicht gleich lang, aber wahrscheinlich gleich wichtig: Die eine Hälfte endete gestern, die zweite Hälfte fängt morgen an. Die eine Hälfte liegt hinter mir und bereichert mein Heute mit Erfahrungen; die zweite Hälfte liegt vor mir und bereichert mein Heute mit Erwartungen. Jetzt könnte ich denken, der größere Teil ist schon vorbei und ich stelle mir den Rest meines Lebens wie einen sich verengenden Trichter vor. Die Möglichkeiten und Gelegenheiten werden weniger, weil mir weniger Zeit bleibt, sie zu tun, und weil ich älter und weniger leistungsfähig werde. Außerdem ziehe ich (scheinbar?) mit jeder getroffenen Entscheidung engere Grenzen, was noch erlebbar ist.

Aus anderer Perspektive betrachtet nehmen die Möglichkeiten und Gelegenheiten zu, weil ich weniger erledigen muss (Berufsausbildung, Familiengründung, sesshaft werden), ich älter (und weiser) werde und vielleicht ja auch vermögender.

Entscheidungen trifft man ja immer für eine und automatisch gegen mindestens 17 andere Sachen. Einerseits: Bestimmte Dinge kannst du nicht mehr machen. Noch ein Studium geht nicht, noch ein Kind geht nicht, noch ein halbes Jahr im Ausland geht nicht. Andererseits: Ich muss gewisse Dinge nicht mehr machen und kann die Zeit für anderes nutzen als für ein Studium, ein weiteres Kind, ein Auslandsjahr.

Solange ich entscheide, gestalte ich. Ich konnte das immer, und es war schon immer begrenzt – früher von anderen Dingen und Umständen als heute. Das stärkste Limit ist in meinem Kopf, das größte Hindernis ist mein nicht vorhandener Mut. Und: Letztlich ist mein Gestaltungsspielraum immer gleich – es ist immer nur der heutige Tag. Der heutige Tag ist der einzige, den ich wirklich besitze. Das war schon immer so und wird immer so bleiben.

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