Zeit für Abschied

Ich bin kein Freund langer Abschiede, aber diesmal geht es nicht anders – leider. Nach drei Wochen im Busch bin ich zurück in der Nähe von Brisbane. Zu dritt hatten wir klar strukturierte Tage und immer etwas zu tun in Haus und Garten. Hier erlebe ich über anderthalb Tage Kontrastprogramm: Wir sind zehn, alle reden durcheinander, beschäftigen sich, hängen ab … Ich gehe spazieren, aber selbst der kleine Park hier um die Ecke ist am Wochenende voller Menschen. Die nächsten (und meine letzten) beiden Tage werden wir auch hier in kleinerer Runde verbringen. Dennoch ist es anders: chaotischer und gesprächiger; ich fühle mich mehr wie ein Gast, ein Fremdkörper.

Vielleicht ist es gut so; ich freue mich zunehmend auf Deutschland und alles, was damit zu tun hat: MEINE Familie und Freunde, mein Alltag, meine Sprache (in der ich mich nuancierter ausdrücken kann), meine Themen, die mich schon länger beschäftigen als während dieser sehr außergewöhnlichen Wochen am anderen Ende der Welt.

Nur das Wetter würde ich gern mitnehmen.

Mehr Abschied

Die Pubertät des jüngsten Sohnes fühlt sich anders an als die des ältesten; sieben Jahre liegen dazwischen. Aber vor allem haben die Umstände sich verändert: Es ist kein Kleiner mehr da, der rückhaltlos bewundert, bedingungslos vertraut und generell Nähe zulässt – all das, zu dem der `Große´ nur noch hin und wieder bereit ist. Diesmal schmeckt alles mehr nach Abschied.

Abschied und Neuanfang

Meine Freundin geht in Rente; 18 Jahre war sie in einer Organisation tätig, die sie selbst mit aufgebaut hat. Das Miteinander dort war sehr besonders: verbindlich, ehrlich und nah. Ihr Ausstieg verläuft in einem Prozess – innerhalb dieses Jahres nimmt ihre Arbeits- und Präsenz-Zeit dort immer mehr ab: Andere übernehmen zunehmend ihre Aufgaben; sie entscheidet nicht mehr mit und wird immer weniger ins Tagesgeschäft einbezogen. Manches läuft schon jetzt und vor allem in Zukunft anders als bisher. Das ist normal und genau richtig so. Meine Freundin muss lernen, sich auf das Neue einzulassen, was nach dem endgültigen `Vorbei´ für sie kommt: Aufgaben und Freiheiten, die sie jetzt noch nicht kennt, und eine veränderte Beziehung zu ihren alten Kollegen – die nicht schlechter sein muss als vorher, nur anders.

Mir geht es mit meiner eigenen Familie ähnlich: Schon eine Weile sind unsere Kinder sehr selbstständig unterwegs. Der Älteste ist bereits ausgezogen; der Zweite startet seine eigenen Lebenspläne ab Sommer mit einem Auslandsjahr. Aber das ist nicht alles: Auch die noch zu Hause lebenden Kindern verabschieden sich (innerlich) jedes Jahr ein bisschen mehr. Sie übernehmen ihr Leben zunehmend selbst und haben sehr eigene Interessen und Ideen. Viele alltäglichen Dinge entscheiden sie autark – einbezogen werde ich nur sehr begrenzt. Mein Rat ist nur selten gefragt; meine Mitsprache noch seltener: Manchmal scheinen sie besonderen Wert darauf zu legen, Dinge anders zu machen als ich. Ich muss lernen, mich auf das Neue einzulassen, was nach dem Auszug der Kinder auf mich wartet: Aufgaben und Freiheiten, die ich jetzt noch nicht kenne, und eine veränderte Beziehung zu meinen Kindern.

Abschied

Von allen menschlichen Beziehungen verändert sich die zwischen Eltern und Kindern wahrscheinlich am stärksten: Es ist für beide großartig, wenn Kinder klein sind – absolut vertrauensvoll und neugierig. Die Pubertät ist herausfordernd für alle; aber ein paar Jahre später ist das Miteinander neu sortiert, geklärt und wunderbar! Dann trennen sich die Wege – und es wird wieder alles anders.

Unser ältester Sohn ist 20. Er ist schon lange ein Gegenüber, geistig ernst zu nehmen, körperlich sowieso. Vor einem halben Jahr ist er ausgezogen. Das war vorher klar und an der Zeit – trotzdem war dieser Abschied nicht leicht. Der Verstand lässt sich kontrollieren; die Gefühle machen, was sie wollen. Wie man sich auf das Leben mit Kindern nur schwer vorbereiten kann, so ist auch der Abschied von ihnen ein Lernprozess. `Scheiden tut weh´, heißt es – das stimmt, vor allem am Anfang. Mit der Zeit lässt der Schmerz nach; und die Beziehung erfährt eine neue Qualität. Das ist eine tolle Phase – ich könnte mich daran gewöhnen. Allerdings liegen unsere Kinder vom Alter her dicht zusammen: Diesen Sommer verlässt uns das zweite. Der nächste Abschied lauert schon `hinter der nächsten Ecke´ … 

Abschied

Ich versuche, meinen ältesten Sohn hochzuheben – und scheitere grandios. Großes Gelächter auf allen Seiten, aber auch ein leichtes Erschrecken bei mir: Wie sollte ich ihn retten, wenn ihm etwas zustieße? Er lächelt dazu und denkt über solchen Quatsch nicht nach. Recht hat er: Mein leicht tragbarer dreieinhalb Kilo schwerer Sohn ist heute fast viermal so lang wie vor 20 Jahren – und wiegt unhandliche 83 Kilogramm. Den schleppe ich nicht mehr einfach mit mir herum. Auch in anderer Hinsicht kann, muss und will ich nicht mehr für ihn verantwortlich sein. Und er kann, muss und will ohne mich weiterziehen. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen (ein paar Monate bleiben uns noch).

Nur ein Deo?

Am Wochenende kaufte ich meinem Jüngsten ein Deodorant. Bisher brauchte und hatte er keins, jetzt braucht und hat er eins. Er reagierte mit purer Freude: Für ihn ist ein Deo das Zeichen, dass er sich von „klein“ zu „groß“ entwickelt.

Ich ahne, was der Abschied von geruchlosem Schweiß langfristig noch so mit sich bringen wird. Mein jüngster Sohn wird selbständiger werden und mehr Verantwortung übernehmen – manchmal gern, manchmal zögerlich. Er wird wichtige Gesprächspartner außerhalb der Familie finden und immer unabhängiger werden – vor allem von seiner Mutter. Für mich ist das natürlich auch Grund zur Freude, aber nicht nur: Das „Großwerden“ des Jüngsten bedeutet auch einen gewissen Abschied von der Kinderphase – und ist mit Wehmut verbunden.

Abschied von zwei Seiten

In dem Lied „Je vole“ aus dem Film `Verstehen Sie die Beliers´ geht es um den Abschied einer Tochter von ihren Eltern – ein bewegendes Lied mit einem bewegenden Text: „Liebe Eltern, ich gehe. Heute Abend werdet ihr kein Kind mehr haben. Ich fliege, ich fliege (davon).“ Es ist der Tochter Paula schwergefallen, sich zum Weggehen zu entscheiden: Für ihre taubstummen Eltern war sie das Sprachrohr zur hörenden Umwelt war. Aber letztlich tut Paula es doch, sie zieht weg, nach Paris und geht dort auf eine Schule für Gesang. Das erwähnte Lied singt sie bei der Aufnahmeprüfung. Ihre Eltern sind dabei, verstehen „Je vole“ aber erst, als Paula es in Gebärdensprache übersetzt. Paula singt ernsthaft und mit Herzblut, aber man spürt ihr die Freude ab: Der Abschied ist nötig, sie nimmt ihn gern in Kauf.

Ich erinnere mich selbst noch sehr gut an meinen eigenen Auszug von zu Hause und an das Gefühl von Vorfreude auf das Neue, auf das Alleinsein, auf die Selbständig- und Unabhängigkeit. Es war auch ein wenig Unsicherheit im Spiel, aber vor allem das Gefühl von Freiheit: Dass der Auszug des jüngsten Kindes bei meinen Eltern sicherlich auch für Schmerz gesorgt hat – es war mir nicht bewusst.

Die Filmszene ist besonders und geht mir ans Herz. Ich kann sie nicht anschauen, ohne mit den Eltern zu weinen, auch wenn diese den Schritt ihrer Tochter letztlich gutheißen. Und es ist ja so, dass es für beide Seiten Trennung bedeutet, für beide hört das Vertraute auf – und doch ist das Abschiednehmen verschieden.

Paula verlässt, sie ist mutig und entschlossen. Vor allem fühlt sie: Vorfreude, Zuversicht und positive, spannende Erwartung.

Die Eltern werden verlassen. Für sie ist der Abschied mit Trauer verbunden und mit viel Zurückschauen.

Es gibt bei dem Abschied zwischen Kinder und Eltern immer zwei Seiten – verlassen und verlassen werden. Ich stand schon auf der einen, bald stehe ich auf der anderen Seite.

Abschied auf Raten

Ich nehme Abschied von den Bedürfnissen meiner Kinder. Immerzu. Und damit auch Abschied von einer Rolle, einer Aufgabe, vom Gebrauchtwerden. Das ist einerseits schön und andererseits mit Wehmut verbunden: So sehr es mich freut, dass alle Rad fahren können, so sehr muss ich sie entlassen auf ihre Wege allein. So sehr es mich freut, dass auch der Jüngste sich lieber mit Spielpartnern trifft, als mit mir einkaufen zu fahren, so sehr blutet mein Herz, wenn er von diesen enttäuscht wird. So schön es ist, wenn der Große selbständig von einer Party nach Hause kommt, so sehr fühle ich mich außen vor, weil ich immer weniger weiß, mit wem er unterwegs ist. So sehr ich das gemeinsame Lernen nicht vermissen werde, so sehr muss ich akzeptieren, dass ich auch in anderen Bereichen keine echte Hilfe mehr für sie bin.

Ein Abschied nach dem anderen. Alle Errungenschaften meiner Kinder bedeuten eine Entlastung, aber auch eine Unabhängigkeit von mir, die sich bisweilen zwiespältig anfühlt. Irgendwann werden sie das Haus verlassen und einen anderen Ort ihr Zuhause nennen, andere Menschen näher an sich heranlassen als mich, andere Menschen mehr mögen als mich, anderen Menschen näherstehen als mir. Das ist in Ordnung, das muss so sein. Trotzdem ist es ein Abschied, der schmerzt.