Objektiv, weil blind

Orchester wählen ihre Musiker durch Vorspielen aus – klar, wie soll man sonst entscheiden, ob der oder die `Neue´ zur Gruppe passt. Weil es mehr Bewerber als freie Plätze gibt und damit es möglichst gerecht zugeht, finden heutzutage manchmal `blind auditions´ statt: ein Vorspielen hinter dem Vorhang. Nur so kann man einigermaßen sicherstellen, dass der Klang beurteilt wird und damit das Vermögen des Kandidaten – aber nicht, wie alt derjenige ist und wie attraktiv oder von welcher Uni er kommt. Bei Musik-Talentwettbewerben läuft es manchmal ähnlich: erst dem Kandidaten zuhören, bevor die Jury ihn oder sie zu Gesicht bekommt. Das Ziel ist in beiden Fällen, möglichst unvoreingenommen bewerten zu können.

Kürzlich erfuhr ich, dass auch junge Hengste sich einem Auswahlprogramm stellen müssen, um in der Zucht `mitspielen´ zu dürfen: Körung – Hengstleistungsprüfung – Zuchthengst, so lautet hierzulande die Reihenfolge. Wer die erste Stufe, die Körung, nicht schafft, ist raus. Dabei geht es um grundsätzliche Gesundheit und bestimmte körperliche Anlagen: wie er denn aussieht, der junge Hengst, sich bewegt usw. usf. Die Leute, die dann über `gekört´ oder `nicht gekört´ befinden, sehen aber eben nicht nur ein beliebiges junges Pferd. Aus den Papieren wissen sie auch, wem es gehört und ob es schon erfolgreiche Geschwister hatte. Ob sich die Richter von diesen Informationen ganz frei machen und ein wirklich objektives Urteil fällen können, ist zumindest fraglich. Einziger Ausweg: `blind auditions´ für junge Hengste! 

Unhöflich? Kann sein, ist mir aber egal.

Ich verlasse ein Musical vor der Zugabe und verabschiede mich kurz von einem Bekannten. „Das ist aber unhöflich“, sagt er zu mir. Er hat recht, aber ich lächle nur und gehe trotzdem.

Erstens ist mir kalt: Ich bin noch immer ein bisschen nass von der Herfahrt durch den Regen.

Zweitens war ich zwar pünktlich hier, aber doch irgendwie zu spät: Auf den eilig hinzugestellten Stühlen außerhalb des Saals hört man ganz ordentlich, sieht aber nur wenig.

Drittens weiß ich, was sich gehört, und bleibe normalerweise immer bis zum Schluss. Selbst einen Kinosaal verlasse ich erst, wenn der Abspann durchgelaufen ist. Dieses Mal gehe ich früher – auch wenn mein Bekannter das als unhöflich empfindet. Es ist mir egal, was er von mir denkt, und auch, ob er meine Gründe verstehen oder gutheißen würde: Ich will nach Hause.

Genug oder nicht?

Wenn wir nicht begabt, schlau, gewieft, entschlossen, mutig oder stark genug sind, ist es hilfreich, an eine Geschichte aus der Bibel zu denken. 5.000 Menschen hatten sich damals versammelt und hörten Jesus zu – bis es Zeit fürs Abendbrot war. Die Jünger sollten ihnen zu essen geben, meinte Jesus. Aber sie hätten doch `hier nichts als fünf Brote und zwei Fische´, erwiderten die Jünger – aus ihrer Sicht und auch ganz offensichtlich nicht genug, um so viele Menschen satt zu machen. Da ließ Jesus sich geben, was sie hatten, „sah zum Himmel, dankte und brach´s und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und sammelten auf, was an Brocken übrigblieb, zwölf Körbe voll“ (Matthäus 14, 19b+20).

Bei einer anderen Gelegenheit verwandelt er Wasser in Wein. Jesus nimmt das, was nicht reicht, und macht daraus genug – auf buchstäblich wunderbare Weise. Es genügt, dass wir ihm das Bisschen geben, was wir haben, und nicht selbst versuchen, damit auszukommen.

Schön ist anders

Ich komme oft an einem Garten vorbei, den ich rein optisch eher pragmatisch nennen würde als `schön angelegt´. Gerade im Moment ist er besonders karg: In den künftigen Gemüsebeeten befindet sich noch blanke Erde; dazwischen markieren ein paar Steinplatten die Wege – krumm und schief. Die Rasenfläche ist klein und wirkt vernachlässigt, das wird so bleiben: Ich weiß aus eigener Anschauung, dass der Schwerpunkt dieser Gärtner eindeutig auf dem Nutzgarten liegt.

Zwischen Gemüseabteilung und Rasenfläche `wächst´ ein Hibiscus-Busch: momentan mit vielen knallroten Blüten, einige voll aufgegangen, andere noch knospig. Es ist zwar schon frühlingshaft warm, aber für Hibiscus-Blüten ist es auf jeden Fall zu früh. Der Busch ist nicht echt, sondern ein reines Deko-Element aus Kunststoff.

Ich finde das interessant: Der Rest des Gartens ist total zweckmäßig; es scheint den Besitzern nicht wirklich um Attraktivität zu gehen. Das ist total in Ordnung. (Auch mir ist in mancher Beziehung `praktisch´ deutlich wichtiger als `schön´, sagen zumindest meine Kinder.) Und deshalb verstehe ich nicht, wieso diese Gartenbesitzer einen Plastik-Hibiscus in die Erde graben. Meiner Meinung nach passt er mit seiner künstlichen Makellosigkeit überhaupt nicht in diesen Garten – wirklich schön ist anders.

Das Klima und so

„Wir müssen etwas tun fürs Klima!“ Keine Aussage wird in den Medien derzeit mehr diskutiert als diese – in großer Vielfalt: Das Einzige, worin sich alle einig sind, ist die Tatsache, dass wir Reichen dieser Welt nicht so weitermachen können wie bisher. Was genau wir ändern müssen, wie und in welche Reihenfolge? Hier gehen die Meinungen, Ansichten und Überzeugungen weit auseinander. Die einen wollen den Kohlendioxid-Austausch reduzieren, die anderen wollen Deutschland flächendeckend mit Windrädern versorgen und womöglich sogar wirtschaftsfähig halten. Einigen liegt die Vermüllung der Meere mehr am Herzen als das Abschmelzen der Polkappen. Ganz allgemein ist `der Regen´ ein Thema: zu wenig oder zu viel, sauer oder nicht. Außerdem sind nie da gewesene (?) Hitze- und Kälteperioden je nach Region und Interpretation eindeutige Beweise für unumkehrbaren Klimawandel …

Das Thema ist Legion, die theoretisch diskutierten Lösungsansätze ebenso:
insgesamt weniger Auto fahren, möglichst viel mit E-Autos fahren, gar kein Auto fahren …
insgesamt weniger Müll erzeugen, den restlichen Müll zumindest nicht in den Meeren landen lassen …
nur noch `second hand´ einkaufen – aber nichts `second hand´ nach Afrika verschiffen …
insgesamt Strom sparen, nur noch Öko-Strom verbrauchen, französischen oder doch lieber deutschen Atomstrom verbrauchen …
insgesamt mehr dämmen – unter Ausnahme denkmalgeschützter Gebäude … 
die Raumtemperatur im Winter auf maximal soundsoviel Grad Celsius drosseln und flächendeckend mit Wärmepumpen arbeiten …

Im ganz praktischen Leben verändert sich wenig bis gar nichts – zumindest bei den Menschen in meinem Umfeld:
Zwar besitzen viel mehr Leute ein E-Bike als noch vor zwei, drei Jahren, aber das Auto bleibt doch der Deutschen liebstes Fortbewegungsmittel.
Second hand-Läden sind tolle Fundgruben, aber eine modische Winterjacke, die passt, bekommt man dort nicht – und auch keine weißen Turnschuhe. 
Niemand tauscht die intakte Ölheizung in seinem alten Haus gegen eine alternative Heizung, aber das wäre aus Gründen der Nachhaltigkeit ohnehin keine gute Idee.
Und eine Bekannte erzählte mir neulich, sie würde Handtücher nach einer Benutzung in die Waschmaschine stopfen. Das ist zwar nicht besonders ressourcenschonend, aber eben eine alte Gewohnheit. Und die lässt sich eben nicht so einfach ablegen – selbst wenn es gut fürs Klima wäre. 

Fragile Leichtigkeit

Ich starte mit allerlei guten Vorsätzen in die neue Arbeitswoche:
zuversichtliche Entschlossenheit, mein Bestes zu geben,
grundsätzliche Offenheit den Menschen gegenüber, mit denen ich es zu tun haben werde,
kreative Ideen für die Aufgaben, die vor mir liegen – ob ich sie schon kenne oder nicht.
Ich fühle mich so, als wäre in den nächsten Tagen buchstäblich alles möglich – und ich würde den Grundstein legen für eine großartige Zukunft.

Die ersten beiden Stunden geht alles gut: Ich bin fleißig, freundlich und einfallsreich. Dann ergibt sich ein unerquickliches Gespräch; ich bin teilweise Zeuge, teilweise selbst involviert. Viele meiner Vorschläge werden diskutiert, kritisiert und als eher ungeeignet bewertet – ohne konstruktive Alternative. 

Anschließend fällt es mir schwer, wieder in Gang zu kommen: Die schwungvolle Leichtigkeit des Morgens hat einen erheblichen Dämpfer erfahren; ich fühle mich ausgebremst. Ich hoffe, der Nachmittag reicht aus, mich für die nächsten Tage wieder neu zu motivieren – so, als wäre buchstäblich alles möglich. 

Auf jeden Fall gut trainiert

Zwei Kinder sind krank: Gliederschmerzen, festsitzender Husten, nächtliche Schwitzattacken, allgemeine Schlappheit. Ich empfehle das Übliche – viel trinken, ausreichend Schlaf, Vitamine. Trotz aller Bemühungen dauert es lange, bis es aufwärts geht; es scheint sich um einen hartnäckigen Infekt zu handeln. Ich halte mich nicht bewusst fern von ihnen und stecke mich trotzdem nicht an. Das hat wohl mit meinem gut trainierten Immunsystem zu tun, denke ich – und bin fast ein bisschen stolz darauf. Leider ist es erfahrungsgemäß so, dass ich einfach erst dann selbst krank werde, wenn alle anderen wieder gesund sind. Und das hat wohl eher mit meinem gut trainierten Muttersein zu tun. Mal sehen also, wie sich unser Krankenstand in den nächsten Tagen weiterentwickelt.

Arbeit als Chance – Gott zu erleben

Meine Arbeit im Büro ist neu, ungewohnt und nicht nur wunderbar: Ich bekomme als Berufstätige ebenso das ganze Paket wie als Nicht-Berufstätige –  die Pralinen ebenso wie die Kröten. In welcher Gestalt letztere daherkommen, ist dabei völlig nebensächlich; entscheidend ist, wie ich damit umgehe. Fühle ich mich in erster Linie überfordert, weil ich meine bisherige Komfortzone verlassen muss? Oder sehe ich in erster Linie die Chance, mich in jeder Hinsicht weiterzuentwickeln, weil sich meine Komfortzone erweitern wird? Es könnte eine Frage der Einstellung sein, die Gott mir schenken möchte: „Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“ (Prediger 3, 13)

Ich bin dankbar, dass ich in dieser besonderen Phase meines Lebens sicher sein kann, dass Gott einen Plan hat für mein Leben – auch wenn ich diesen nicht im Detail kenne. Da ist nichts `aus Versehen´, alle meine Umstände kann Gott benutzen, um mir zu begegnen und mich in dieser Welt zu benutzen: Was daraus wird, liegt weder in meiner Hand noch ist es meine Verantwortung. Gott ist derjenige, der mein Leben im Griff hat, gestaltet und ihm Sinn gibt. Das ist tröstlich und ermutigend – und macht mich gewiss: dass die neue Situation sein Plan für mich ist und er mich mit genau dem ausstattet, was ich dafür brauchen werde: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich lehrt, was dir hilft, und dich leitet auf dem Wege, den du gehst.“ (Jesaja 48, 17)

Kein Märchen

Es war einmal ein Mensch, der lebte in meiner Stadt. Er war nicht besonders umgänglich – den weichen Kern verbarg eine harte, abweisende Schale. Er war auch sehr allein; in seinem Leben gab es keine Familie und nur wenige Bekannte. Bei unseren Begegnungen wurde mir bewusst, wie ungleich Menschen im Leben zurechtkommen – aufgrund sehr unterschiedlicher Startbedingungen. Ab und zu sahen wir uns, dann zog er einige hundert Kilometer weg, in den Südosten der Republik. Wir blieben in Kontakt: Auf jeden Brief von mir schrieb er ein paar dankbare Zeilen per Mail. Ein paar Jahre hatte er einen Hund; außerdem besuchter er eine ältere Dame in seiner Nachbarschaft, bis diese ins Heim umzog.

Im letzten Jahr erwähnte er ein paar Mal, dass es ihm gesundheitlich nicht gut gehe und er kaum noch aus der Wohnung komme – dann kam plötzlich nichts mehr. Seither misslingt jeder Versuch, ihn zu kontaktieren; Briefe bleiben unbeantwortet, Mails kommen als `unzustellbar´ zurück. Wahrscheinlich ist er verstorben; ich hoffe, er war am Ende nicht so allein, wie sein Leben es vermuten ließ. Ich weiß, dass andere ihn als verletzend und herablassend wahrnahmen. Mir bleibt er ganz anders in Erinnerung: als jemand, der treu war, genügsam und sehr dankbar für freundliches Interesse.

Jedes Mal überraschend

Bei uns in der Nähe wohnt ein Hund, der meiner Meinung nach zu selten vor die Gartentür darf und deshalb jedes Mal neidisch ist, wenn ich vorbei spaziere. Hinter dem blickdichten Zaun ist er gut versteckt; nur an einer Stelle kann er sich aufrichten und ÜBER den Zaun schauen – und kläfft dann jedes Mal sofort laut los. Ich kenne das schon und gehe jedes Mal mit Abstand und entsprechend wachsam dort entlang. Und doch schafft der Hund es (fast) jedes Mal, mich doch zu erschrecken. Vorhersehbar reicht bei mir irgendwie nicht.