Kind-Sein

„Mama, ich werde bald 18!“, so klingt es derzeit des öfteren in unserem Haus. Als wäre das die Universalbegründung dafür, dass das Kind von uns als Eltern keine Hinweise, Ratschläge und schon gar keine Anordnungen mehr wünscht oder gar benötigt.

Es soll eine Erklärung sein, aber es klingt wie eine leichte Drohung: „Ich werde bald 18 … und dann – habt ihr mir gar nichts mehr zu sagen.“ Dabei geht es doch jetzt erst los! Jetzt hätten wir so viel, was wir dem Kind mitgeben können. Jetzt sind da so viele Entscheidungen, die es treffen muss: Wohin geht die Reise in und nach der Schule? Gerade in dieser Lebensphase sind da so viele Konsequenzen, die sein Handeln nach sich zieht: Zwei Tonnen rollende Metallbüchse im Straßenverkehr sind nicht nur ein bequemes Fortbewegungsmittel, sondern auch eine gefährliche Waffe.

Und natürlich ist ein Kind mit 18 erwachsen und strafmündig und was weiß ich; aber verhält es sich auch so? Braucht es uns als Eltern dann nicht mehr? Oder nur noch finanziell?

Kinder werden nicht plötzlich groß, es ist ein Prozess. Dieser dauert über den 18. Geburtstag hinweg an. Das ist ein Luxus unserer Gesellschaft und unserer heutigen Zeit; aber vielleicht verstehen wir das erst, wenn wir wirklich kein Kind mehr sind.

Sicheres Wetten

Ich verliere Wetten meistens und gegen meinen Mann immer, wirklich immer. Mit ihm wette ich deswegen nicht mehr. Auch wenn ich mir ganz sicher bin. Einmal haben wir darum gewettet, wie unser Auto-Kennzeichen lautet. Mein Gewinn wäre gewesen, dass mein Mann öfter kochen muss. Sein Gewinn war, dass er nicht öfter kochen muss. Er hat sich darauf eingelassen – schon das hätte mich wundern müssen.

Ich hab´s dennoch gewagt. Natürlich hatte ICH einen Zahlendreher im Kopf und habe verloren. Schade war das.

Im Laufe der Jahre habe ich die Erfahrung gemacht, dass mein Mann nur wettet, wenn er sich ganz sicher ist. Zwar wette ich auch erst, wenn ich mir ganz sicher bin; aber irgendwie ist es doch anders. Mein Mann ist sich sicherer ganz sicher.

Angriffswetter

Es gibt ein Wetter, das ist besonders ungemütlich: Es regnet Bindfäden und ist kalt, der Wind fegt um die Häuserwände und kommt immer von vorn – so wie sonst nur an der Küste. Das gibt es auch hier in der norddeutschen Tiefebene, in der ich seit 20 Jahren zu Hause bin. Mein Mann hat dafür einen Begriff mit in die Ehe gebracht, den er seit seiner Bundeswehrzeit kennt: Angriffswetter. Ob es sich dabei um einen offiziellen Titel handelt, kann ich nicht sagen; ich weiß nur, dass der Name passt. Wer sich bei dem Wetter aus dem Haus wagt, hat selbst Schuld, keine andere Wahl – oder will einen ungeliebten Feind überrollen.

Obwohl wir in einer Zeit leben, in der jede mittelgroße Kleinstadt mit mindestens drei sogenannten Outdoor-Läden ausgestattet ist, fahren an Tagen mit Angriffswetter die meisten Menschen mit dem Auto. Sogar Schüler steigen auf Busse um oder überzeugen ihre Eltern, dass sie auf keinen Fall laufen oder mit dem Rad fahren können. Es ist ja auch wahr: Schön ist es nicht. Den halben Tag draußen zu arbeiten, ist kein Spaß; sich kilometerweit durch die Walachei zu kämpfen auch nicht. Feinde zum Überrollen haben die wenigsten von uns. Kein Grund also, sich bei Angriffswetter rauszuwagen – nicht einmal für eine Stunde.

Wer es doch tut, ist am Ende nass. Und um eine Erkenntnis reicher: Angriffswetter entwickelt seinen größten Schrecken, solange man auf dem warmen Sofa sitzt. Mittendrin ist es weniger schlimm – und schneller vorbei, als man denkt. Wir müssen ja keine 36 Stunden-Übung bei der Bundeswehr durchhalten. Wir sehen hinterher nur fast so aus…

Meine Zahlen-Macke

Meine Familie belächelt mich manchmal – wessen Familie tut das nicht? -, denn: Mir sind zweifelhafte Dinge wichtig – ungerade, schräge Zahlen beispielsweise. Ich mag sie, besonders die Primzahlen. Als ich 47 Jahre alt wurde, war eine lange Durststrecke beendet – 44 (gähn!), 45 (ungerade, aber die mit der fünf hinten sind langweilig), 46 Jahre (natürlich zu gerade), dann endlich: 47. Ein Highlight, dem einige langweilige Jahreszahlen folgen: 48, 49 (ungerade, aber durch 7 teilbar), 50 (nicht nur gerade, sondern auch noch rund!!!), 51 (geht so, wenn man von der Teilbarkeit durch 17 absieht, die ja immerhin selbst eine Primzahl ist), 52 (ohne Worte), bis es dann heißt – 53 Jahre alt. Wenn ich nicht wüsste, dass bis dahin fünf weitere kostbare Lebensjahre verstrichen sein werden, wäre ich jetzt schon voller Vorfreude.

Wie bei Primzahlen üblich, werden die Abstände bei aufsteigender Zählung größer. Ich weiß. Also übe ich schon mal im Heute und bin ganz entspannt 48 Jahre alt. Meine Vorliebe für ungerade Zahlen im Allgemeinen und Primzahlen im Speziellen muss ich anderswo ausleben: Ich mag es, wenn der Wecker nicht um 6.00 Uhr klingelt, sondern 5.57 Uhr oder 6.03 Uhr. Einziges Problem: Die Wecker-Hoheit hat momentan mein Mann, und der findet meine Zahlenmacke ziemlich schräg.

Das Recht für dich, den Frieden für uns

„Suche Frieden und jage ihm nach!“
Psalm 34, 15

Im Nachdenken über die neue Jahreslosung hat mein Pastor einen bedenkenswerten und wahren Satz gesagt:

Wer nachgiebig ist, beharrt nicht auf seinem Recht.

Was ist besser – nachgiebig sein oder auf seinem Recht beharren? Ich finde, es ´steht` einem Menschen besser, wenn er nachgiebig ist. Das Zusammenleben und Streiten mit einem nachgiebigen Menschen ist leichter und angenehmer.

Aber: Wenn es um uns selbst geht, um einen konkreten Fall? Wollen wir dann eher nachgiebig sein oder doch lieber derjenige, der auf seinem Recht beharrt – und als Gewinner aus einer Diskussion hervorgeht?

In der Auseinandersetzung selbst – und wahrscheinlich auch hinterher – fühlt es sich erstmal wie eine Niederlage an, der Nachgiebige zu sein. Auf meiner Haben-Seite steht dann eben nicht „recht gehabt“, dieses Attribut hat der andere sich erstritten. Hier trennen wir uns – der andere und ich – in Gewinner und Verlierer. Als nachgiebiger Mensch kann ich höchstens „den Frieden erhalten“ für mich verbuchen. Dieser Frieden aber verbindet uns – den anderen und mich: Er ist unser gemeinsamer Gewinn. Wie toll ist das denn!

Körpersprache

Wir kommunizieren nicht nur mit Worten oder ohne sie, wir verständigen uns zusätzlich durch Körpersprache. Es gibt viele gute Bücher darüber. Sie sind hochinteressant und die Augen öffnend, was „noch so“ kommuniziert wird. Manches davon – das meiste? – läuft unbewusst, glaube ich.

Mein Mann liest sich gerade durch einen Stapel derartiger Bücher und findet sie genau das – hochinteressant und seine Augen öffnend. Jeden Abend geht er mit einem Grinsen im Gesicht ins Bett. Um manches Wissen reicher.

Und ich? Ich könnte mich durchschaut fühlen und eher analysiert als gesehen. Und mich fragen: „Interpretiert er mich richtig oder nicht?“ Ich weiß es nicht. Glücklicherweise ist es mir ein bisschen egal – derzeit. Weil ich gerade dieser Tage etwas Neues lerne, bin ich zu beschäftigt, als dass ich meine Botschaften in Körpersprache umwandeln könnte. Bei mir gilt gerade: Was du siehst, ist, was du bekommst.

Um das komplexe (und hochinteressante) Thema Körpersprache kann ich mir erst wieder Gedanken machen, wenn die Bücher wieder in der Bibliothek sind …

Fahrschulauto vor mir!

Sie sind überall, leicht zu erkennen und meist direkt vor einem: Fahrschulautos. In der Vergangenheit habe ich bisweilen – wenn möglich – die Spur gewechselt oder überholt. Von einem Fahrschulauto erwartet man, dass es einen ausbremst, und das hat mir nicht immer in den Kram gepasst. Dabei wollte ich weniger Zeit sparen als unbehelligt MEINEN Stil fahren.

Letztens las ich auf einem Fahrschulauto den Satz: „Vielen Dank für Ihre Geduld!“ Klar doch, dachte ich.

Es könnte mein Sohn sein in dem Fahrschulauto.

Wie fühlte er sich, wenn ich ihn durch meine ungeduldige Fahrweise spüren ließe, dass er mir vor allem eins ist – im Weg?

Macht nichts, dass es nicht ganz so zügig, geschmeidig und vorhersehbar läuft.

Ich habe Zeit.

„Reif“ für Oma

In unserem kleinen Lotto-Post-Kiosk-Geschäft traf ich eine gute Freundin von mir mit ihrer kleinen Tochter; sie sind 24 Jahre beziehungsweise sechs Monate alt. Weil meine Freundin länger und komplizierter zu tun hatte als ich, nahm ich die Kleine auf den Arm und schlenderte mit ihr durch den Laden. Und genau da ist es passiert: „Na, haben Sie auch schon ein Enkelkind?“, wurde ich von einer entfernten Bekannten gefragt. „Nein“, war meine schnelle Antwort, „aber vom Alter her könnte es passen.“ Das kurze Erschrecken, das mich durchrauschte, war eher der Vorstellung geschuldet, eines meiner Kinder könnte bereits Vater oder Mutter sein – mein Ältester ist 17 Jahre alt. (Biologisch und praktisch möglich ist ja eine Menge, aber – ehrlich gesagt – wünschen würde ich es mir und ihm nicht.)

Die Mutter des kleinen Mädchens könnte meine Tochter sein, klar, sie ist aber meine Freundin. Vom Alter her deutlich näher dran an meinem Sohn als an mir, von der Lebenserfahrung her eher in meinen Gefilden unterwegs. In den Jahren zwischen 17 und 24 altert und reift man ohnehin sehr und besonders als Mutter.

Was bleibt? Ich bin in jedem Fall jenseits dieser Altersklasse, ich gehe nur noch als Oma durch. Auch eine interessante Perspektive.

Meine kleine Schwester

In einer Mail an mich und eine dritte Person bezeichnete mich unlängst mein Bruder mit „meine kleine Schwester“ – wohl auch um mich zu unterscheiden von seiner großen Schwester. Interessanterweise fand ich diese Formulierung merkwürdig. Wie aus der Zeit gefallen. Ich selbst würde wahrscheinlich nicht „mein großer Bruder“ über ihn sagen, sondern einfach nur mein Bruder. Zwar fühlte ich mich nicht diskriminiert, aber – irgendwie kleiner.

„Klein“ oder „groß“ spielt in unserem Alter keine Rolle mehr, oder? Ich bleibe immer die kleine Schwester meines Bruders und meiner Schwester, aber es ist irrelevant. Oder?

In dem Umfeld, in dem ich seit über 20 Jahren lebe, bin ich in erster Linie Dagmar. Viele meiner Bekannten wissen gar nicht, dass ich überhaupt Geschwister habe. Meine gesamte Vergangenheit spielt keine Rolle. Scheinbar. In Wirklichkeit ist meine Vergangenheit immer Teil von mir und hat mich zu der Dagmar gemacht, die ich heute bin. Sogar dass ich jemandes kleine Schwester bin, wird sicher deutlich in meinem Leben, auch wenn ich es nicht bemerke. Es sei denn, mein Bruder bezeichnet mich so.

Das Eigentliche

„Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen? Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und gebe einem jeden nach seinem Tun, nach den Früchten seiner Werke.“
Jeremia 17, 9+10

Bei Frederick Buechner las ich kürzlich etwas über „the deepest self“. Seiner Ansicht nach existiert in uns ein „Ich“, das uns ausmacht und letztlich unwandelbar ist. Andere nennen es den Kern eines Menschen, seine eigentliche Persönlichkeit, die Summe seiner Charaktereigenschaften etc. Buechner schreibt über dieses „Ich“, dass aus ihm unsere Weisheit und unsere eigentliche Stärke kommen, dass unsere ehrlichsten Gebete dort ihren Ursprung haben, unsere besten Träume und glücklichsten Momente da beginnen.

Ich fand diese Gedanken zum einen äußerst tröstlich, zum anderen stimmten sie mich nachdenklich: Habe ich Zugang zu meinem Innersten? Wieviel davon ist für andere zu erkennen? Denn: Ich muss das eigentliche „Ich“ in mir ja auch leben lassen, ihm Raum geben. Um diesen Raum kämpfen jedoch allerhand „Dinge“: Umstände, Erwartungen anderer, Prägungen (derer ich mir sehr oft gar nicht bewusst bin) und am meisten wohl mein eigenes Wunsch-Ich. Und das weicht bisweilen ab von dem, was da ist.

Mein „Ich“, mein Herz(?) ist ein trotzig und verzagt Ding. Trotzig, weil es ganz eigen ist; verzagt, weil ihm viel Unsicherheit innewohnt: Bin ich das wirklich? Ich brauche Mut, es anzuschauen. Es ist nicht alles schön, was mich im Innersten ausmacht. Meine Motive sind nicht besonders rein und ehrlich und haben eben nicht immer den Anderen im Blick. Mich in meiner ganzen Fülle anzusehen, kann herausfordernd sein. Gern würde ich mich in meiner Selbstbetrachtung auf die „tollen“ Aspekte beschränken, aber die machen das Bild nicht vollständig. Ich glaube aber, dass nur dann mein wahres „Ich“ sichtbar wird, wenn ich auch meiner wahren Sturheit, Ungeduld, Selbstbezogenheit … nicht aus dem Weg gehe. Das Gesamtpaket bin ich, auch wenn mir einzelne Bereiche fremd sind oder nicht gefallen.

Es erfordert Mut, wirklich ehrlich zu sein; und zumindest in meinem Leben gibt es keinen Menschen, den ich so nah ran lasse, dem ich wirklich alles von mir offenbare. Vielleicht ist das auch nicht nötig, aber gleichzeitig spüre ich einen starken Wunsch in mir, verstanden zu werden und nichts verbergen zu müssen. Befriedigt wird dieser Wunsch für mich nur in der Begegnung mit Gott: Gott hält mich in Gänze aus – und hat mich dennoch lieb. Er ist der Einzige; kein Mensch kann das für mich sein, was Gott für mich ist. Ich erlebe diesen Gott oft als unnahbar und fern und allmächtig; aber ich erlebe ihn eben auch als freundlich und barmherzig. Er sieht mein Herz, mein Innerstes und zuckt nicht zurück, erschrickt nicht, wendet sich nicht ab. Dadurch lädt Gott mich ein, mich selbst auszuhalten und anzunehmen. Mit allem, was da ist. Meine Stärken und Schwächen zusammen will Gott gebrauchen und Früchte schenken, von denen in der Bibel die Rede ist. Buechner beschreibt sie so: „Aus diesem tiefsten „Ich“ kommen auch all die Momente, in denen wir besser oder stärker oder mutiger oder weiser sind, als wir eigentlich sind.“