Einfach so katholisch

Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Mutter in der katholischen Grundschule, die unsere Kinder besucht haben beziehungsweise noch besuchen, obwohl wir nicht katholisch sind. Diese Mutter wollte ihr Kind unbedingt dort einschulen dürfen – und nicht aufs Losverfahren hoffen wie wir – und hat sich deswegen katholisch taufen lassen. Extra und mal eben, so klang es jedenfalls. Wahrscheinlich musste sie dafür das Glaubensbekenntnis auswendig lernen und aufsagen. In die Kirche gehen oder ihr Kind katholisch erziehen muss sie nicht. Sie wollte nur an diese Grundschule.

Ich finde das bestenfalls interessant, schlimmstenfalls erschreckend. „Ich glaube an Jesus Christus, geboren von der Jungfrau Maria, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel…“: Das müsste einem doch im Halse stecken bleiben, wenn man es nicht ernst meint. Ich gehe doch auch nicht zu meinem Nachbarn und sage ihm, dass ich ihn sehr schätze, wenn mir in Wahrheit nichts an ihm liegt.

Altersmilde

Fahrradfahren ist toll. Seit ungefähr 30 Jahren – seit ich auch ein Auto nehmen könnte… „Nur Genießer fahren Fahrrad und sind immer schneller da“, das war lange mehr als mein Motto: Früher war ich nicht nur begeistert, sondern fast schon militant überzeugt, dass das Rad immer die bessere, umweltschonendere und glücklich-machendere Alternative zum Auto ist. Diese Phase meines Lebens scheint unwiederbringlich vorbei. Warum?

Zum einen: Autofahren ist echt praktisch – wenn ich es eilig habe, eine Menge transportieren muss, viele Menschen mitgenommen werden wollen und die Entfernung es gebietet. Das ist nicht gleich unökologisch, schlecht oder falsch. Kein Dogma. Was ich mir erlaube, kann ich anderen auch erlauben und in großer Gelassenheit trotzdem verantwortlich handeln.

Zum anderen: Die große Inspektion unseres Familienautos ist so teuer, da muss ich es doch auch bewegen! Soviel kann ich an Sprit gar nicht einsparen – auch wenn ich es bisher immer dachte.

Zum dritten: Es kommt nicht auf eine Autofahrt an, sondern auf mein ganzes Leben. Und normalerweise ziehe ich das Fahrrad dem Wagen noch immer vor. Bin ich aber gestresst oder nur aus Prinzip motiviert, ist motorisiert wohl besser – sonst werde ich unbarmherzig mit denjenigen, für die das Zweirad nicht die erste Wahl ist.

Sind das Ausreden, weil ich älter und bequemer werde, oder abgeklärte Erkenntnisse, weil ich älter und schlauer werde?

Freiheit des Einzelnen

Ich habe Malcolm Gladwell gehört. Wie immer bin ich beeindruckt und zum Nachdenken angeregt. Er sprach über einen Paradigmenwechsel zwischen unserer Generation und der nächsten – in verschiedener Hinsicht. Unter anderem ging es um Individualität versus Zugehörigkeit: Wer heutzutage alles Apple hat, gehört dazu; er selbst mit seinen 50+ ist froh, ein Sony Laptop und ein BlackBerry zu haben und sich in gewisser Hinsicht von der Masse zu unterscheiden. Heutzutage wollen die Leute sich seiner Meinung nach weniger abgrenzen als vielmehr dazugehören.

In vielen Bereichen gilt das für mich auch: Ich möchte nicht unbedingt auffallen. In anderen Fragen grenze ich mich dagegen bewusst ab und frage, was ich wirklich brauche, was ich selbst gut finde, wieviel Verfügbarkeit und Erreichbarkeit ich anstrebe und für wünschenswert für mich halte, welchen Preis das hat, welche Nachteile ein Nicht-Teilnehmen mit sich bringt, ob ich mit denen leben kann und will. Bewusste Kosten-Nutzen-Abwägung. Welch ein Luxus, dass wir so viel so frei entscheiden können!

Oder denken wir das nur? Fühlen wir uns nur solange frei in unseren Entscheidungen, solange wir keine Nachteile dadurch erfahren? Solange es uns nichts kostet, anders zu sein? Und: Hängt das mit den Grenzen zusammen, in denen wir uns bewegen? In der ehemaligen DDR war es schwieriger, seine Überzeugungen zu artikulieren, weil man Schwierigkeiten zu erwarten hatte. In der Bundesrepublik kann man sich heute ziemlich viel „Anderssein“ leisten, ohne dass einem „jemand was kann“. Was sagt das über die Wahrhaftigkeit unserer Überzeugungen?

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?

„Wo viel Worte sind, da geht’s ohne Sünde nicht ab; wer aber seine Lippen im Zaum hält, der ist klug.“
Sprüche 10, 19

Und schon zucken die Gesprächigeren unter uns zusammen und fragen sich, wie sie ihren Mund aus dieser Schlinge bekommen. Es gibt einfach Unterschiede in den Persönlichkeiten, und nur scheinbar haben´s die Stilleren und Bedachteren leichter: Insgesamt denke ich, es kommt darauf an, dass man Gott hinlegt, wie man kommunizieren möchte und ihn in das eigene Denken über andere hineinlässt – schon lange bevor man tatsächlich in ein Gespräch verwickelt ist. Den anderen grundsätzlich wertzuschätzen, zu respektieren und ihm mit Wohlwollen zu begegnen, das färbt auf mein Reden und Schweigen mehr ab als eine bloß vom eigenen Willen gesteuerte Selbstbeherrschung. Und dann werden Spontaneität und Impulsivität gute Zutaten zu einem gelingenden, lebendigen Gespräch sein; bedächtiges Schweigen und zu viel Nachdenken darüber, was man jetzt wie sagen sollte, können Kommunikation auch ganz schön aus dem Fluss bringen.

Sich noch einen anderen Bibelvers hinter die Ohren zu schreiben, kann zudem nicht schaden:

Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören.“ (Epheser 4, 29)

Arthrose

Vor einiger Zeit sagte eine Freundin zu mir, ich sei eine weise alte Eule. Es war als Kompliment gemeint. Davon merke ich wenig: Je länger ich lebe, umso weniger habe ich klare Antworten, sondern weiß, dass es immer mehrere Perspektiven gibt. Insofern hielt ich mich mit Mitte 20 schon für deutlich weiser als jetzt mit Ende 40. Natürlich werde ich älter, aber bislang spürte ich das nicht – weder im Geist noch am Leib.

Das hat sich zunächst schleichend, dann schlagartig geändert: Worte wie Alterswarze, Verschleiß und – neuerdings – Arthrose (!!!) sind nicht mehr nur abstrakte Begriffe, sondern reale Gegebenheiten meines Körpers. Darüber kann ich mich ärgern und tue es auch. Aber nicht nur das – ich bin wie in Schockstarre. War mein dreimal wöchentliches Laufen vor ein paar Tagen noch Genuss und Selbstverständlichkeit, bin ich nach dieser Diagnose wie gelähmt: Mache ich mit Laufen alles nur schlimmer? Was kann ich verhindern, wenn ich auf Schonung umschalte? Sofort und total? Was geht noch, was nicht mehr?

Dieser Zustand hält nicht an – glücklicherweise. Dazu ist mein Laufen viel zu sehr Ausgleich, Psychohygiene und nicht nur für mich, sondern auch für den Rest der Familie wichtig. Stimmungsentscheidend sogar. Was tun? Verdrängen geht nicht (mehr). Auch Vergleichen hilft nicht – obwohl es aufmuntern kann: Ich stelle immer wieder fest, dass andere in meinem Alter deutlich älter aussehen. (Ich vermute allerdings, dass es jenen ebenso geht.) Nein, die einzige Lösung ist, im Jetzt zu leben und die Perspektive zu ändern: „Für mein Alter… – bin ich noch ziemlich fit, kann ich noch gut laufen (sehen, hören …), bin ich noch sehr belastbar, habe ich wenige altersgemäße Einschränkungen.“ Ich kann dankbar sein für meinen Zustand, Frust wäre Jammern auf hohem Niveau.

Dem Alter (des Leibes) ins Auge blicken. Die Jugendlichkeit (des Geistes) genießen, solange es geht.

Wise Guys

Unsere Kinder können sich Texte sehr gut merken. Alle Kinder können das. Für die eine Tochter sind es alte Lieder aus der Grundschule, für die andere Liedtexte von den Wise Guys, die Söhne haben einen anderen Musikgeschmack…

Auch ich habe im Teenager-Alter Lieder auswendig gekannt, regelrecht gelernt, ohne dass es mit dem Erlernen ungeliebter Russisch-Vokabeln auch nur ansatzweise etwas gemein hatte. Die Liedtexte kann ich noch, die Russisch-Vokabeln nicht mehr. Noch heute habe ich „Bochum – ich komm aus dir“ ebenso parat wie „Maaht et joot“ oder „Brothers in arms“, auch die eine oder andere „Bridge over troubled water“ bekomme ich noch hin.

Das wird meinen Kindern sicherlich ähnlich ergehen. Ich hoffe, dass dann in 20 oder 30 Jahren mit diesen Texten ebenso das Lebensgefühl von „damals“ wieder hochkommt – sich zumindest für den Moment nicht zuständig zu fühlen, nicht in der Letztverantwortung zu sein, sondern jung, unbekümmert und frei. Den Alltag voller Verantwortung und Aufgabe in der Mitte des Lebens verändert dieses Gefühl nicht, aber es hellt ihn auf.

Ich stemme mich entschieden gegen den Trend, durchs Mobiltelefon immer und sofort erreichbar zu sein. Ich fotografiere nicht alles, und wenn, dann mit dem Fotoapparat. Ich teile weder meine Standorte noch Erfahrungen, Gefühle und Gedanken übers Handy und schon gar nicht sofort. Kann ich nicht, will ich nicht, muss ich nicht. Auch die Kinder wissen: „Keine Nachrichten sind meist gute Nachrichten.“

Ich komme nicht mehr mit, was den technischen Fortschritt angeht und empfinde ihn (zum ersten Mal?) als unnötig und zu weit gehend. Es gibt sicher immer Nach- UND Vorteile bei Entwicklungen, und jeder bewertet diese anders. Ich bin, was die digitale Vernetzung angeht, mehr skeptisch als begeistert. Dabei besitze ich ein Smartphone und benutze dieses auch – allerdings nicht viel.

Bin ich so, wie ich bin, weil ich aus einer anderen Zeit komme? Nein, denn es gibt Mit-und Endvierziger, die digital im 21. Jahrhundert deutlich mehr zu Hause sind als ich. Wieviel Einfluss hat unsere Vergangenheit auf unsere Gegenwart? Wissen andere die Ruhe einer ununterbrochenen Zeit nicht ebenso zu schätzen wie ich? Sind Leute wie ich besonnen oder eher Bremsen des Aufschwungs? Vielleicht stehe ich auch am Rande der Gesellschaft, ohne es zu merken, und kann mir außerdem eine solche Einstellung nur leisten, weil ich für mein Leben nicht digital vernetzt sein muss.

Das eine Lebenskonzept ist nicht besser als das andere. Allerdings stecken manche meiner fortschrittlichen Freunde mich leicht in die Schublade „ewig gestrig“. Damit muss ich dann wohl klarkommen.

Schlagfertig

Vor ein paar Tagen: Deutschland hat gegen Schweden gewonnen, buchstäblich in letzter Minute. Im Gottesdienst bei der Mikrofonprobe sagt einer „Wunderbar – ein Tor in letzter Minute, und Reuss darf jetzt bei IKEA nicht mehr einkaufen…“, und ich brauche einen langen Moment, um zu verstehen und dann auch zu schmunzeln.

Spontan, treffend, schlagfertig eben – das wär ich auch gern. Bin ich aber nicht. Mir fallen die guten Kommentare, Reaktionen etc. immer erst später ein oder auch gar nicht. Ich mag schlagfertige Menschen, solange ihre Schlagfertigkeit nicht auf meine Kosten geht. Das nämlich kann ich manchmal nicht so gut verknusen: Wieso? Weil ich selbst nicht schlagfertig bin, weil mein Humor zu ernst ist, weil ich mich überrumpelt fühle, nicht ernst, sondern auf den Arm genommen? Ich weiß es nicht. Aber schlagfertig – das wäre ich auch gern.

Zweierlei Maß

Misst Jesus mit zweierlei Maß, wenn er dem zur Nachfolge hoch Motivierten davon abrät – „denn der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“, dem anderen sagt er, dieser solle alles stehen und liegen lassen und nicht einmal seinen Vater beerdigen (Matthäus 8, 19-22). Ist das wirklich paradox? Hängt es damit zusammen, dass Jesus beide Männer in- und auswendig kennt, ihre Umstände, ihre Bedürfnisse und vor allem ihre Beweggründe? So, wie ich meine Söhne kenne und dem einen rate, am Freitag zur Bandprobe zu gehen (trotz eines langen Schultages und obwohl er keine rechte Lust hat); dem anderen aber untersage ich, seinen Freitagnachmittag schon wieder außer Haus und bei einem Freund zu verbringen. Ist das zweierlei Maß oder die weise Führung einer Mutter, die die beiden gut kennt und (manchmal zumindest) weiß, was ihnen langfristig wirklich guttut und hilft????

Ich habe den Eindruck, wir können solche Texte nur verstehen, wenn wir neben den Fakten auch die Beziehungsebene berücksichtigen und Vertrauen und Bereitschaft mitbringen. Vertrauen, dass Jesus liebevoll ist, und Bereitschaft, die Spannung auszuhalten, die sich durch manche Bibelstellen ergeben. Wir dürfen davon ausgehen, dass Jesus nichts willkürlich gesagt, entschieden oder in eine Geschichte gepackt hat. Er wusste genau, wen er vor sich hatte, was wer zu dem Zeitpunkt genau gebraucht hat – ob derjenige es nun gern oder weniger gern gehört hat. Ebenso muss auch ich erst in Beziehung investieren, wenn ich in das Leben von Menschen hineinsprechen will. Den anderen wirklich sehen und verstehen wollen und mir von Gottes Geist zeigen lassen, was dran ist und angemessen und liebevoll.

Geschäftigkeit – Mai 2017

Ein angebrochener Mittelfußknochen zwingt mich zu einer Ruhe, die ich sonst so nicht suchen würde. Mehrere Gedanken drängen sich auf:

Wir sind ein Volk der Betriebsamkeit; es fällt uns schwer, nichts zu tun oder uns wenigstens nicht über unser Tun zu definieren. Und das gilt nicht nur für die viel gescholtenen Schwaben mit ihrer „Schaffe, schaffe, Häusle baue“-Mentalität, sondern auch für mich.

Plus: Ich frage mich, was meine Zeit wert ist, wenn ich sie im Nichtstun verbringe. Warte insgeheim auf den Tag, an dem ich wieder durchstarten kann. Dabei bin ich gar nicht faul, nur ein bisschen ausgebremst in praktischen Belangen.

Drittens: Ich mache Dinge gern selbst, weil ich sie dann genau so machen kann, wie ich will – und das ist doch die beste Variante.

Last but not least: Ich halte eine aufgezwungene Ruhe schlechter aus als eine freiwillige. Während ich mich normalerweise immer mal wieder nach Pausen sehne, empfinde ich diese von außen verordnete als Zumutung – auf die Spitze getriebener Individualismus oder normaler Freiheitsdrang?