Nicht einfach nur Kartoffeln

Die Kartoffeln, die ich kürzlich bei meiner Freundin gekauft habe, sind ziemlich klein – sozusagen mundgerecht gewachsen. Das Schälen hat mindestens doppelt so lange gedauert wie normalerweise. Wenn der Spruch über die „dümmsten Bauern“ mit den „dicksten Kartoffeln“ stimmte, wären meine Freundin und ihr Mann sehr schlau. Wie ich aber erfahren habe, ist der Grund für die kleinen Kartoffeln ein anderer: Schuld ist das Reh, das sich an den Kartoffelpflanzen gütlich tat, als die Kartoffeln noch im Wachsen waren.

„Schlaues Reh“, denke ich: Wenn ich Reh wäre, würde ich auch die Kartoffelpflanzen dieser Bauern anknabbern. Sie wirtschaften konventionell und nachhaltig; sie pflanzen Blühstreifen um ihre Felder herum, beachten vernünftige Fruchtfolgen, ihre Kühe haben Namen – und werden dementsprechend würdevoll behandelt. All das verbindet ja heutzutage keiner mehr mit Landwirtschaft. Stattdessen sind Landwirte verschrien als diejenigen, die mit riesigen Traktoren über ihre Felder (oder durch die Straßen) heizen oder durch ihre ausgedehnten Bewässerungsaktionen den Grundwasserspiegel gefährlich absenken. Bauern von heute stellen Biogasanlagen in die Landschaft, überdüngen die Äcker und kümmern sich wenig bis gar nicht um die Natur, die sie mit ihrer „modernen Landwirtschaft“ verschandeln.

Nicht so meine Freundin und ihr Mann: Sie beackern und versorgen fleißig und mit Augenmaß ihr Land und ihre Tiere – und bekommen noch mit, wenn ein Reh sich bei ihnen bedient. Sie sind schlau, denn sie wissen: Langfristig hängt ihre Existenz davon ab, dass sie sorgsam umgehen mit dem, was ihnen anvertraut ist. Ihre Kartoffeln sind ausgesprochen lecker, nur manche von ihnen ziemlich klein und nicht normgerecht. Dafür ist wahrscheinlich ein Reh satt durch den Spätsommer gekommen – wie schön!

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