Der Reiher

„Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: `Bei den Menschen ist`s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.´“ 
Matthäus 19, 26

Meine Spazier-Runde führt mich an einem kleinen Tümpel vorbei. Oft sitzen dort Vögel, die feuchte Wiesen mögen – Reiher, Störche, Gänse. An den vergangenen Tagen sah ich morgens häufig einen Reiher. Aus verschiedenen Gründen hätte ich ihn gern fotografiert, hatte jedoch weder Kamera noch Handy dabei. Gestern nahm ich meinen Fotoapparat mit und betete auf dem Weg: „Herr, ich will kein Flies auslegen wie Gideon – so wichtig ist es nicht. Aber es wäre doch schön, der Reiher säße heute wieder dort. … Du kannst das machen, es ist dir leicht möglich.“

Gespannt ging ich weiter, aber doch auch skeptisch. Zu oft schon ist es mir so gegangen, dass sich Wunder nicht auf den ersten Blick erspähen lassen. Oft habe ich mich im Vertrauen geübt, obwohl ich nichts gesehen habe – oder nur einen Hauch: Gott hat schon geheilt, aber nicht über Nacht, sondern durch ein Jahr Chemotherapie und großes Elend. Gott hat schon geholfen, aber nicht direkt, sondern mehr durch die Hintertür. Gott steckt hinter jedem Umweg, hinter jedem „im Nachhinein war es gut so“, ich weiß; aber dieses ganz Spektakuläre, von dem die Bibel spricht? Mir ist es noch nicht widerfahren.

Diesmal also hoffte ich in dieser unspektakulären und unwichtigen Sache auf ein Zeichen – beziehungsweise auf den Reiher. Dort, wo er sonst auch häufig hockt, wollte ich ihm gern „begegnen“. Was soll ich sagen: Er hockte nicht dort. Leicht enttäuscht, aber innerlich bestätigt machte ich ein Foto von der leeren Wiese mit dem Tümpel. Ich hatte es nicht anders erwartet; Gott lässt sich nicht manipulieren. Ich weiß, dass Gott alles kann, auch wenn er es nicht immer tut. Die Bibel nennt das Vertrauen auf das, was nicht ist:

„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“
Hebräer 11, 1

Einige Minuten später sah ich aus dem Augenwinkel etwas kurz aufflattern und wieder landen – etwa zweihundert Meter entfernt. Da war er, der Reiher, kaum zu erspähen: Gut getarnt ist so ein Reiher mit seinem langen silbrig schimmernden Hals inmitten der Ufergewächse, die ebenso schimmern. Hatte er sich – oder Gott? – nur in der Wiese geirrt? Würde er vielleicht später noch kommen? Ich weiß es nicht, so lange blieb ich nicht stehen.

Gott hat sich nicht in der Wiese geirrt, so etwas passiert Gott nicht. Der Reiher saß einfach auf einer anderen. Ich sollte das nicht überbewerten, ich weiß. Ich bin dazu aufgefordert zu vertrauen, auch wenn ich nichts sehe. Immer und immer wieder übe ich mich darin. Eine kleine unverdiente Überraschung wäre aber doch schön gewesen.

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