Umschalten

Vier von fünf Kindern waren unterwegs und kommen nach Hause zurück. Ich schalte sofort in den Funktionier-Modus und wasche mich durch die verschmutzten Klamotten der letzten Woche – und den täglichen Nachschub. `Nebenbei´ läuft der normale Alltag, nur ohne Schule. Die Kinder ruhen sich aus, sie sind im Ferien-Modus. Grundsätzlich gönne ich ihnen, dass sie nicht funktionieren müssen. Allerdings geht das auf meine Kosten: Ich halte unser Miteinander am Laufen und das Chaos in Grenzen. Ferien-Modus zu Hause funktioniert kaum für alle gleichzeitig.

Es sei denn, vier von fünf Kindern sind weg. Übermorgen ist es so weit – sie fahren noch einmal los: Dann schalte ich für eine Woche in den Ferien-Modus und mache Pause vom Funktionieren.

Ein flexibles `Wir´

„Wir nennen diese Landschaft hier das Alpenvorland“, bemerkt mein Mann auf unserer Autofahrt in den Süden. „Welches `Wir´ hast du da jetzt bemüht?“, frage ich zurück. Er lächelt: „Ach, da bin ich ganz flexibel.“

Es ist eine Gabe, wenn man sich – je nach Situation und Bedarf – flexibel zu denjenigen zählt, die Bescheid wissen.

Geographie: Theorie und Praxis

Wir fahren nach Süddeutschland – viele Kilometer auf der Autobahn. Das Navigationsgerät ist eingeschaltet; aber es widerstrebt mir, mich nur danach zu richten. Ich orientiere mich lieber (altmodisch) mit dem Atlas und an der ausgezeichneten Beschilderung hierzulande. Gleichzeitig tue ich etwas für meine Geographie-Kenntnisse. Theorie: Der `Süden´ liegt `nicht um die Ecke´, sondern weit entfernt und reicht vom Berchtesgadener Land bis nach Freiburg. Dazwischen befindet sich der Bodensee und in dessen `Nähe´ unsere drei Ausflugsziele – durch kurviges Auf und Ab miteinander verbunden. Praxis: Es dauert, von einem zum nächsten zu kommen. Nie wieder werde ich sagen: „Wenn wir schon mal da unten sind …“

Enttäuscht oder dankbar

Einen alten Freund will ich besuchen. Er wohnt weit entfernt am anderen Ende von Deutschland – in der Nähe von zwei anderen alten Weggefährten. Ich fahre nicht gern so weit, raffe mich aber dennoch auf und frage alle drei, ob sie Zeit haben: `Damit es sich lohnt´. Voller Vorfreude fahre ich los. Zwei Begegnungen werden wunderbar – vertraut, belebend, die Freundschaften auffrischend. Das dritte Treffen verläuft unter erschwerten Bedingungen. Es ist ausgerechnet die Begegnung, der ich am meisten entgegen gefiebert hatte. Die Bilanz könnte trotzdem positiv sein; aber zunächst bin ich eher enttäuscht als dankbar. Das ist schade, aber so muss es nicht bleiben: Es liegt an mir, welchem Gefühl ich langfristig mehr Raum gebe – und wie sich das Wochenende in meiner Erinnerung anfühlen wird.

Selbstvertrauen

Kleine Kinder verlassen sich darauf, dass jemand anderes für sie sorgt: Dadurch lernen sie zu vertrauen. Je größer und älter sie werden, umso mehr wollen Kinder Dinge `allein machen´: Das stärkt ihr Selbstvertrauen. Wir als Eltern probieren und lernen, wann wir ein Kind und womit allein lassen sollte – Enttäuschungen gehören dazu.

Mein jüngster Sohn bekam vor einigen Jahren einmal unvermittelt Heimweh, als er bei einem Freund übernachten wollte. Damals mussten wir ihn abholen. Seitdem ist er verunsichert, wenn er einen längeren Ausflug mit Übernachtung vor sich hat. Sein Selbstvertrauen ist nicht so stark, seine Vorfreude getrübt. Am liebsten wüsste er im Vorfeld, dass wir im Zweifelsfall da sind. Das wäre in mancher Situation keine große Sache – aber nicht förderlich für sein Selbstvertrauen. Daher nehmen wir seine Ängste ernst und muten sie ihm doch zu: Angesichts einer bevorstehenden Freizeit-Woche (ganz in der Nähe) ermutigen wir ihn, bieten ihm aber nicht an, gegebenenfalls zu kommen. Wir glauben, dass er stärker wird, wenn er sein Heimweh allein durchsteht und merkt: Irgendwie schaffe ich das.

Auch mir tut es gut, mich ab und zu herauszufordern. Egal, wie ich damit zurechtkomme – mein Selbstvertrauen wächst. Ich weiß hinterher, was ich mir zutrauen kann und was nicht. Und ich merke: Irgendwie schaffe ich das.

Selbstsicher

Immer wieder bin ich erstaunt, wie selbstsicher manche Menschen auftreten: Gerade mache ich ein Online-Training in englischer Sprache zum Thema `Handstand´ bei einer jungen deutschen Frau. Soweit ich es einschätzen kann, ist sie fachlich gut: Ich schätze ihre Übungsaufgaben und vertraue ihrer Vorgehensweise. Ihr Englisch dagegen ist nicht so überzeugend; außerdem ist sie ein wenig `verpeilt´ – so würde ich keinen Online-Kurs anbieten. Das hängt weniger mit ihrer Kompetenz zusammen als damit, welchen Anspruch ich an einen eigenen Internet-Auftritt hätte.

Diese Frau ist selbstsicher und dabei sehr unbekümmert; was sie nicht gut kann, stört mich wenig: Ihre Selbstsicherheit bewundere ich.

Ein Arzt, den ich manchmal (selten) aufsuche, tritt mir gegenüber ebenso selbstsicher auf. Soweit ich es einschätzen kann, ist er fachlich gut: Ich schätze seine Diagnose und vertraue seiner Therapie. Seine Erklärungen sind jedoch völlig emotionslos, fast unfreundlich. Dadurch komme ich mir jedesmal abgefertigt vor – so würde ich an seiner Stelle nicht mit Patienten kommunizieren. Auch das hängt weniger mit seiner Kompetenz zusammen als damit, welchen Anspruch ich an mich als Ärztin hätte.

Dieser Mann ist selbstsicher und dabei sachlich-distanziert; was er nicht gut kann, stört mich sehr: Seine Selbstsicherheit ist mir unangenehm.

Der Wert unserer Arbeit

Wir haben Ferien und mein ältester Sohn macht ein Praktikum – ohne Bezahlung. Die Arbeit ist anstrengend und nicht immer erfüllend; er geht dennoch meist klaglos hin. Ab und zu schimpft er: „Ich arbeite 38,5 Stunden in der Woche und verdiene keinen Cent. Das ist blöd.“

Ich kann ihn ein bisschen verstehen: Ich mache kein Praktikum, sondern arbeite zu Hause – ebenfalls ohne Bezahlung. Hausarbeit ist mehr oder weniger anstrengend und nicht immer erfüllend; ich erledige sie dennoch meist klaglos. Ab und zu denke ich: `Mit dem, was ich zu Hause tue, verdiene ich keinen Cent. Das ist einfach so.´

Was unsere Arbeit wert ist, misst sich nicht nur daran, wie viel Geld wir mit ihr verdienen.

Schatten

Die meisten Menschen sind mir in irgendeiner Weise überlegen: Sie sind sprachlich versierter, gedanklich sortierter, selbstbewusster, praktisch begabter, musikalischer, sportlicher, hübscher, organisierter oder sonst irgendetwas. Ich stehe in einer bestimmten Eigenschaft in ihrem Schatten. Es ist mir bewusst, aber ich spüre es kaum – vielleicht weil ich auf einem anderen Gebiet meinen eigenen Schatten werfe. Im Grunde bin ich mit meiner persönlichen Mischung aus Stärken und Schwächen ganz zufrieden.

Anders ist es, wenn ich Menschen treffe, die mir in allem (ich übertreibe nur ein ganz kleines bisschen) überlegen sind – wie eine Frau in meinem Umfeld. Ich kann mich noch so gut auf Begegnungen mit ihr vorbereiten: Der Schatten, den sie wirft, ist zu groß für mich – als ganzer Mensch fühle ich mich unterlegen und minderwertig. Diese Frau ist sehr liebenswert und weiß nichts von ihrer Wirkung auf mich. Nach jedem Treffen brauche ich ein paar Tage, um mich davon zu erholen. Ich würde gern aus diesem Schatten heraustreten: Dafür muss ich mich nicht mit der Frau, sondern mit mir selbst anfreunden.

Nochmal Synchronspringen

Die deutschen Synchronspringer gewinnen Bronze und freuen sich unbändig. Der Jubel nach diesem Erfolg will raus in Bewegung oder Geschrei. Nur kurz umarmen sie sich; in einem solchen Moment verharrt man ungern still in den Armen eines anderen – und sei es auch der Trainingspartner. Die eigene Freude ist riesengroß und lässt sich gut allein aushalten.

In meinen Gedanken sehe ich die traurigen Russen nach ihrem gescheiterten Sprung. Sie umarmen sich nicht; dabei bräuchten sie in einem solchen Moment die Arme eines anderen – am besten die des Trainingspartners. Die eigene Trauer ist riesengroß und lässt sich kaum allein aushalten.

Gemeinsam oder jeder für sich

Synchronspringen ist Team-Arbeit. Es kommt auf beide Sportler an. Einer allein kann noch so gut sein – und doch nichts erreichen. Jeder für sich muss möglichst fehlerfrei springen und beide zusammen schön synchron: Dann bekommen sie eine hohe Wertung und freuen sich gemeinsam. Wenn einer seinen Sprung jedoch nicht korrekt zu Ende führt, ist die Bewertung für beide eine Null. Es reicht nicht, wenn einer super springt; aber es reicht, wenn einer patzt.

Bei den olympischen Spielen haben die russischen Synchronspringer nach ihrem letzten Sprung keine Chance mehr auf eine Medaille. Einer von beiden schafft die letzte Drehung nicht vollständig vor dem Eintauchen, der Sprung wird mit Null bewertet. Sie wissen sofort, dass sie `aus dem Rennen´ sind: Der eine ist am Boden zerstört; der andere packt sichtlich wütend seine Tasche und verlässt die Schwimmhalle. Sie reden nicht miteinander, vielleicht tun sie es später. Aber in diesem Moment leidet jeder für sich.