Eine Zumutung?

„Ab wann ist eigentlich ziviler Ungehorsam angebracht?“, fragt mich jemand. Es ist eine Reaktion auf die in unserem Landkreis verordnete Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr – für die nächsten zwei Wochen. Es sind Osterferien, die jungen Leute schlafen länger und verschieben ihren Rhythmus mehr in Richtung Abend. Meinem Mann gegenüber nenne ich diese Anordnung daher eine Zumutung für die jungen Menschen. „´Zumutung` ist zu scharf“, findet mein Mann, „ich würde sagen, die Lage ist misslich. Aber man kann Jugendlichen für einen begrenzten Zeitraum durchaus zumuten, ihren Rhythmus so anzupassen, dass sie nach 21 Uhr zu Hause sind.“

Ich sehe das anders, denn der normale Alltag junger Menschen hat sich ohnehin schon sehr verändert: Sie treiben seit Monaten kaum Sport, gehen in die Schule mit Abstandsregeln oder gar nicht, verbringen ihre Freizeit allein oder geplant in sehr kleinen Gruppen. Die kommenden Wochen lagen vor ihnen wie eine Perspektive zum Aufatmen: Ferien, hellere Tage, frühlingshafte Temperaturen. Eine WEITERE Einschränkung ist daher ein WEITERER erheblicher Dämpfer. Mit „unbeschwert genießen“ – in schon bestehenden Grenzen – ist durch die neue Regelung gleich wieder Schluss.

Vielleicht trifft weder „Zumutung“ noch „misslich“ genau, wofür ich halte, was eine Ausgangssperre besonders für Jugendliche bedeutet. „Herausfordernd“ klingt zu positiv; „enttäuschend“ schreibt den Behörden zu viel Macht über ihr Lebensgefühl zu. Ist diese Ausgangssperre ärgerlich, frustrierend, nicht nachvollziehbar oder unverhältnismäßig? Ich weiß es nicht. Willkommen ist sie jedenfalls nicht. Wir verlangen jungen Menschen eine Menge Vernunft ab und muten ihnen eine Menge Einschränkungen zu – in einer Lebensphase, in der sie normalerweise unvernünftig sind und Grenzen zumindest hinterfragen oder sogar ignorieren. Was das langfristig mit ihnen macht, werden wir später sehen. „Misslich“ sind Ausgangssperren in jedem Fall, für manchen vielleicht eine „Zumutung“. Es bleibt Ansichtssache, welches Wort es am besten trifft.

Zu lang?

Ich liebe es zu kommunizieren. Sehr gern tausche ich mich mit Menschen aus – vorzugsweise schriftlich und ausführlich. Das geht besonders gut durch Briefe oder auch E-Mails. Aber in den vergangenen 20 Jahren sind Briefe immer seltener und E-Mails immer kürzer geworden. Stattdessen kommunizieren viele hauptsächlich mittels diverser Kurznachrichten-Dienste. Das reicht den meisten Menschen, denn sie schreiben ohnehin nur noch sehr kurze Nachrichten.

Das ist mir bekannt. Mein Mann erinnert mich, dass die meisten Menschen auch nur noch sehr kurze Nachrichten lesen: Was zu lang aussieht, werde entweder nur kursorisch gelesen oder sofort gelöscht. Für Ausführlichkeit habe niemand Zeit; außerdem gehe die einzelne Nachricht unter in der Flut eintreffender Informationen. Auf den Inhalt komme es schon lange nicht mehr an, meint er, entscheidend sei die Länge.

Soll ich mein Schreibverhalten lieber anpassen an das heute übliche Leseverhalten? Mein Mann nickt. In der Kürze liegt die Würze, das kenne ich – und weiß, dass es stimmt. Aber: Gilt das immer?

Ist mir wichtiger, was ich schreiben oder wie ich es schreiben will? Beides gleichzeitig scheint nicht mehr zu funktionieren: Entweder ich dosiere bewusst, damit nur ja keiner meiner Gedanken verlorengeht. Oder ich bleibe meinem Stil treu. Am besten, ich mache ich es einfach mal so und mal anders. Denn letztlich lag es noch nie und liegt es auch heute nicht in meiner Hand, was der Empfänger mit meinen Worten macht. Er kann sich wegen der Länge gegen das Lesen entscheiden. Er kann auch das Gute behalten und den Rest ignorieren. Oder er wird alles lesen und denken: Das klingt nach Dagmar, fühlt sich an wie ein Wort-Tsunami und bringt mich zum Lächeln.

Nur …

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, nicht zu arbeiten.“ Das klingt fortschrittlich und emanzipiert. Der Satz stammt von einer Politikerin, die in der DDR aufgewachsen ist. Ich lese ihn in einer Sonderausgabe zum Tag der Deutschen Einheit. Gleich nach dem Zitat steht da: „Nahezu alle Ostfrauen würden diesen Satz wohl unterschreiben.“ Ach ja?, denke ich. Bin ich auch eine von diesen Ostfrauen, obwohl ich inzwischen im Westen lebe?

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, für eigene Kinder nicht zu Hause zu bleiben.“ Diesen Satz hätten bis vor zehn, fünfzehn Jahren (wahrscheinlich?) nahezu alle Westfrauen unterschrieben. Merkwürdigerweise klingt er nicht genauso fortschrittlich und emanzipiert. 

Aber: Nicht alle Ostfrauen sind arbeiten gegangen, weil sie es unbedingt wollten; nicht alle Westfrauen sind nicht arbeiten gegangen, weil sie nicht durften. Gesellschaftliche Gegebenheiten spielen eine große Rolle – und unsere persönliche Überzeugung wird von ihnen mehr beeinflusst, als wir uns eingestehen wollen.

Jedes Jahr um den 3. Oktober herum geht es um die Unterschiede zwischen DDR und BRD. Diese lassen sich anscheinend bestens illustrieren am Beispiel der (Nicht-)Berufstätigkeit von Frauen: `In der DDR konnten alle Frauen arbeiten gehen – und können es noch. Dort passte das Rollenverständnis und die Infrastruktur. In der BRD mussten die meisten Frauen zu Hause bleiben. Hier herrschte ein anderes Rollenverständnis und dementsprechend auch eine andere Infrastruktur. Zum Glück ändert sich das gerade…´ Wertfrei klingt das nicht. 

Mich nervt es jedes Jahr wieder neu. Als wären berufstätige Mütter eine nicht in Frage zu stellende Errungenschaft, die keinen Preis hat – außer vielleicht den, der in ausreichend Kindertagesstätten fließt. Und als würden alle „nicht arbeitenden“ Mütter genau das tun – nicht arbeiten. Solche Sätze sorgen nicht für Gleichberechtigung und die freie Wahl, sondern für Druck, der Mütter dort erwischt, wo sie besonders empfänglich sind: Mutter wollen sie sein; aber nur Mutter dürfen sie nicht sein wollen. Frau scheint nur gleichberechtigt und gleichwertig zu sein, wenn sie arbeitet – aber bitte nicht nur zu Hause.

Dadurch fällt es jungen Müttern heute schwer, für ihre Kinder länger als gesellschaftlich akzeptiert zu Hause zu bleiben. Sie müssen sich erklären, wenn sie „nicht arbeiten“ möchten – als wäre die Betreuung von Kindern nur Arbeit, wenn jemand anderes als die Mutter sie leistet. Als wäre all das, was nicht berufstätige Mütter sonst noch tun, nur nebensächlich und genauso gut nach dem Job zu erledigen: Haushalt, Hausaufgabenbetreuung, Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe usw. Und auch als wäre es eben nicht genauso akzeptiert, wenn man sich heutzutage für Zeit und gegen Eile entscheidet: Zeit für Kinder und Familie, Zeit für Gespräche mit Menschen und für Unvorhergesehenes.

Es klingt so, als wären nur berufstätige Mütter fortschrittlich und emanzipiert. Die nicht berufstätigen finden sich durch solche Formulierungen automatisch einer anderen Kategorie zugehörig: Wer wie ich nur Hausfrau und Mutter ist, gilt als altmodisch; wir sind nicht nur finanziell, sondern auch in anderer Hinsicht abhängig – von unseren Männern und von einem längst überholten Rollenverständnis. Dass wir gern und ganz bewusst nur zu Hause arbeiten, lese ich nicht heraus aus solchen Betrachtungen. Aber vielleicht ist das auch nur meine Interpretation und nur ich habe Zeit, mir Gedanken darüber zu machen …

Eine spekulative Betrachtung

Es interessiert mich, was Wolf Schneider zu Herbert Grönemeyer sagen würde – und anders herum. Der eine gilt schon Jahrzehnte als der „beste Deutschlehrer der Nation“, der andere prägt seit meiner Kindheit die deutschsprachige Musik. Durch Herbert Grönemeyer ist Bochum für mich mehr als der Name einer Stadt, obwohl ich noch nie dort war.

„Bochum, ich komm aus dir, Bochum, ich häng`an dir – oh Glückauf, Bochum!
Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau. Ich lieb` dich ohne Schminke, bist `ne ehrliche Haut, leider total verbaut – aber gerade das macht dich aus!“

Aufgrund eines anderen Liedtextes ahne ich: Gehörlose Menschen empfinden laute Geräusche anders als ich.

„Sie weiß nicht, dass der Schnee lautlos zu Boden fällt, merkt nichts vom Klopfen an der Wand.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, das ist alles, was sie hört.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn sie ihr in den Magen fährt.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt.
Dann vergisst sie, dass sie taub ist …“ 

Die Sätze sind kurz und prägnant, verständlicher geht es nicht. Herbert Grönemeyers Vergleiche sind bildhaft und überraschend, sie lassen mich aufhorchen. All das könnte Wolf Schneider gefallen. Die Lektüre seiner Bücher offenbart seine Liebe zu einfachen Sätzen. „Im Hauptsatz liegt die Kraft“, schreibt er, mehr noch: „Hauptsätze sind die erste Wahl.“ Direkt danach lese ich: „Der Nebensatz, sinnvoll angehängt, schafft Abwechslung.“ (Wolf Schneider in „Deutsch für junge Profis“)

Wie gesagt: Ich weiß nicht, ob Wolf Schneider die Texte von Herbert Grönemeyer mag. Genauso wenig kann ich beurteilen, ob Herbert Grönemeyer sich an Wolf Schneiders Ratschlägen orientiert. Ich mag beide und finde, sie gehen ähnlich sorgfältig mit der deutschen Sprache um. Es interessiert mich, ob sie das auch so sehen.

Der Reiher

„Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: `Bei den Menschen ist`s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.´“ 
Matthäus 19, 26

Meine Spazier-Runde führt mich an einem kleinen Tümpel vorbei. Oft sitzen dort Vögel, die feuchte Wiesen mögen – Reiher, Störche, Gänse. An den vergangenen Tagen sah ich morgens häufig einen Reiher. Aus verschiedenen Gründen hätte ich ihn gern fotografiert, hatte jedoch weder Kamera noch Handy dabei. Gestern nahm ich meinen Fotoapparat mit und betete auf dem Weg: „Herr, ich will kein Flies auslegen wie Gideon – so wichtig ist es nicht. Aber es wäre doch schön, der Reiher säße heute wieder dort. … Du kannst das machen, es ist dir leicht möglich.“

Gespannt ging ich weiter, aber doch auch skeptisch. Zu oft schon ist es mir so gegangen, dass sich Wunder nicht auf den ersten Blick erspähen lassen. Oft habe ich mich im Vertrauen geübt, obwohl ich nichts gesehen habe – oder nur einen Hauch: Gott hat schon geheilt, aber nicht über Nacht, sondern durch ein Jahr Chemotherapie und großes Elend. Gott hat schon geholfen, aber nicht direkt, sondern mehr durch die Hintertür. Gott steckt hinter jedem Umweg, hinter jedem „im Nachhinein war es gut so“, ich weiß; aber dieses ganz Spektakuläre, von dem die Bibel spricht? Mir ist es noch nicht widerfahren.

Diesmal also hoffte ich in dieser unspektakulären und unwichtigen Sache auf ein Zeichen – beziehungsweise auf den Reiher. Dort, wo er sonst auch häufig hockt, wollte ich ihm gern „begegnen“. Was soll ich sagen: Er hockte nicht dort. Leicht enttäuscht, aber innerlich bestätigt machte ich ein Foto von der leeren Wiese mit dem Tümpel. Ich hatte es nicht anders erwartet; Gott lässt sich nicht manipulieren. Ich weiß, dass Gott alles kann, auch wenn er es nicht immer tut. Die Bibel nennt das Vertrauen auf das, was nicht ist:

„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“
Hebräer 11, 1

Einige Minuten später sah ich aus dem Augenwinkel etwas kurz aufflattern und wieder landen – etwa zweihundert Meter entfernt. Da war er, der Reiher, kaum zu erspähen: Gut getarnt ist so ein Reiher mit seinem langen silbrig schimmernden Hals inmitten der Ufergewächse, die ebenso schimmern. Hatte er sich – oder Gott? – nur in der Wiese geirrt? Würde er vielleicht später noch kommen? Ich weiß es nicht, so lange blieb ich nicht stehen.

Gott hat sich nicht in der Wiese geirrt, so etwas passiert Gott nicht. Der Reiher saß einfach auf einer anderen. Ich sollte das nicht überbewerten, ich weiß. Ich bin dazu aufgefordert zu vertrauen, auch wenn ich nichts sehe. Immer und immer wieder übe ich mich darin. Eine kleine unverdiente Überraschung wäre aber doch schön gewesen.

Corona – angstfrei und vertrauensvoll

Ich kann die Gefahren von Corona nicht einschätzen. Aber ich weiß, wie ich mich hinsichtlich Corona verhalten möchte: angstfrei und vertrauensvoll.

Angstfrei: In unserer Familie sind weder geschwächte alte noch gesundheitlich vorbelastete junge Menschen; wir sind auch der normalen Grippe bisher immer mit einer gewissen Ignoranz begegnet. Die ab sofort greifenden drastischen Maßnahmen betreffen uns, treffen uns aber nicht existenziell. Unsere freigestellten Kinder sind schon ziemlich selbständig, außerdem bin ich verfügbar. Sie mit Schul- und Haus-Aufgaben zu versorgen ist herausfordernd, aber machbar. Finanziell sind wir nicht abhängig von einem Geschäft, einem Restaurant oder einem Hotelbetrieb – und müssen in den nächsten Wochen nicht mit unüberschaubaren Einbußen rechnen. Von daher habe ich keine Angst.

Vertrauensvoll: Ich möchte nicht mit denen tauschen, die verantworten, welche Regeln des Zusammenlebens für die nächsten Wochen oder Monate gelten sollen. Irgendjemandem werden sie jetzt „auf die Füße treten“ – und am Ende wird es sicher Menschen geben, die die getroffenen Entscheidungen im Nachhinein bemängeln. „Mit den Maßnahmen zu weit übers Ziel geschossen“, wird es dann heißen oder auch, „zu spät reagiert“. Es gibt Politiker, die wegen eines weniger herausfordernden Krisenmanagements ihre Karriere an den Nagel hängen mussten. Ich wäre dieser Verantwortung nicht gewachsen und hätte nicht den Überblick und die Besonnenheit, die jetzt vonnöten sind. Aber ich bin mit dem, wie es in unserem Land läuft, grundsätzlich zufrieden und einverstanden. Von daher habe ich Vertrauen in die Kompetenz und Verlässlichkeit unserer Entscheidungsträger.

Während ich also angstfrei und vertrauensvoll ausharre, trage ich meinen klitzekleinen Teil bei, dass „mein Bereich läuft“: Ich achte auf Hygiene – vielleicht sogar verstärkt. Ich akzeptiere Sicherheitsabstände, die andere einfordern. Und ich verweigere mich einer um sich greifenden Panik und pflege die Beziehungen zu Menschen in meinem Umfeld. Ansonsten lebe ich weiter wie bisher, bis sich die Situation wieder normalisiert. Was ich nicht tun werde: übertrieben vorsichtig sein, mich andauernd (laienhaft) mit Corona beschäftigen oder grundsätzlich zweifeln an der Kompetenz der Verantwortlichen. All das würde die Lage nicht verändern, sondern meinen Gemütszustand – hin zu Angst und Misstrauen. Mit beidem möchte und kann ich nicht wochenlang leben.

Let`s talk!

There is an author whose books I enjoy reading. He writes non-fiction books in such a way that even I like them. His topics are interesting and touch on everyday life; his writing is sometimes amusing, always balanced and clear, his style smart and his perspective often rather unusual. Last but not least: I just like his way of creating and dealing with issues he finds interesting enough to think and write about.

A little while ago I heard him talking about the research for his latest book and what he himself took from it: he said if he needed an assistant he wouldn`t do a job interview anymore – there was nothing you would learn from an interview if you wanted to hire someone. A conversation of this kind was all about appearances; everything you really needed to know you could check on the phone or get from other people you trust.

He is right: in a conversation I can`t figure out whether someone is punctual, reliable and diligent, is discreet and will be committed to their job. Nevertheless, for me the first, ‘optical’ impression still has some relevance – if I needed a personal assistant I also would like to see them first. Don`t we have to work together and get along on a daily basis? Doesn`t it help if the other person’s appearance is not off-putting to me in some way? What`s wrong with wanting to work with someone who is also pleasant company – as a bonus? (Not that I know what I am talking about: I am a long way from needing a personal assistant and even farther from being able to afford one…)

Secondly „my author“ mentioned that the only situation where you really have to meet someone is dating. My initial reaction would be: I agree – it`s obvious. But a mere second later I find myself thinking about centuries of arranged marriages in other parts of the world. People checked a lot of things about potential spouses – parents, upbringing, education, class – apart from letting them MEET each other as well.

I am not a person who likes to argue, I am a person who likes to discuss, though. (Isn`t there always a BUT to anything you might say?) In this case I`d like to exchange ideas. I know I am no match for this author – neither intellectually nor concerning the flexibility of one`s mind, but still: Let`s talk Malcolm Gladwell!

Weihnachtsgefühl

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Lukas 2, 10+11

Eine Bekannte erwähnte mir gegenüber, sie vermisse gerade in der Weihnachtszeit das Eigentliche, dieses Gefühl dafür, dass Jesus geboren wurde. Im Vordergrund stünden andere Dinge: das richtige Essen, passende Musik, Kerzenschein, weihnachtliche Gerüche und die übliche Dekoration. Selbst die jährlich wiederkehrenden Verwandtenbesuche hätten für sie eine gewisse Künstlichkeit. Sie meinte, es wäre ebenso schön (vielleicht sogar schöner), sich im Sommer zum Grillen zu treffen – ohne einen Anlass „von außen“.

Sie hat in gewisser Weise recht; auch mir fällt es schwer, Jesus in dem Trubel dieser Tage zu begegnen. Allerdings liegt es nicht an Jesus selbst, der wird geboren – ob es mir reinpasst oder nicht. Es liegt an uns selbst und unseren Umgang mit dem Drumherum.

Das Drumherum – die Traditionen – illustrieren oftmals sehr genau, worum es geht:

Die Kerzen mit ihrem weichen Licht weisen hin auf Jesus, der von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt.“
Geschenke erinnern uns daran, dass die drei Könige auch Geschenke für den neugeborenen König der Welt im Gepäck hatten.
Darstellungen der Krippenszene zeigen uns, wo Jesus geboren wurde – irgendwo abseits und nicht ganz „König-gemäß“ und durch die Volkszählung eben zwischendrin.
Lieder wie „Ich steh` an deiner Krippen hier“ bringen uns die Wahrheit um Jesu Geburt in sehr eindrücklichen Texten nahe – wenn wir sie denn bewusst mitsingen.
Das Zusammensein mit Familie führt uns vor Augen, dass Gott Gemeinschaft mit uns möchte und Jesus das Bindeglied ist.

Andererseits kann dieses Drumherum eben zu einer Hülle werden, sinnentleert und abgenutzt:

Da machen uns blinkende Lichterketten eher hektisch als besinnlich.
Für so viele Menschen Geschenke auszusuchen ist anstrengend – zumal jeder heutzutage alles hat und nichts Neues braucht.
Es gibt Menschen, die die Geschichte um die Krippe herum nicht mehr kennen.
Weihnachtsmusik, die aus sämtlichen Lautsprechern in den Geschäften dudelt, geht uns auf die Nerven.
Familienbesuche sind manchmal mit einem gewissen Gschmäckle verbunden – und nur für eine kurze Zeit werden die unterschwellig gärenden Konflikte „um des lieben Friedens willen“ nicht angesprochen.

Wie in so Vielem gilt auch hier, dass die Wahrheit auf einem schmalen Grat zu finden ist. Welche Traditionen „mache ich mit“, weil sie mir wirklich etwas bedeuten, welche ertrage ich und welche sind mir tatsächlich eine Last? Lässt sich in der betriebsamen Zeit vor Heiligabend Raum finden für die Weihnachts-Wahrheit? Es spricht nichts dagegen: Wir halten uns alle für frei und unabhängig, für tolerant und flexibel.

Aber selbst wenn ich alles mitmache – es muss mich nicht abhalten davon, Jesus zu begegnen. Als er geboren wurde, waren die Menschen auch sehr beschäftigt, es war Volkszählung angesagt. Viele waren unterwegs und gedanklich überhaupt nicht auf Innehalten eingestellt. Jesus ist trotzdem geboren worden. Wieso sollte es heute anders sein?

Wiedererkennen

Gesichtserkennung zur Sicherheit, Biometrische Authentifizierung, Iris-Erkennung – all dieser Kram in Sachen Kontrolle und Beobachtung soll uns nutzen, hat aber auch etwas Bedrohliches. Es gibt Heerscharen von Menschen, die sich damit befassen, diese Möglichkeiten heutiger Technik positiv – oder negativ – zu nutzen. Ebenso wie andere Menschengruppen versuchen, dieselben Hilfsmittel erfolgreich zu umschiffen. Ich habe davon wenig Ahnung, die technische Entwicklung in dem Bereich ist faszinierend und erschreckend gleichzeitig – und mir vor allem ein Buch mit sieben Siegeln. Ich habe meine eigenen Wiedererkennungsmechanismen…

Für mich sind Vögel schwer zu unterscheiden. Auf Fotos würde ich nur wenige von ihnen, die „gebräuchlichen“, erkennen und das war´s. Aber ich weiß, dass alle Vögel fliegen – so, wie alle Menschen (bis auf wenige Ausnahmen) gehen. Das Flugverhalten ist sehr individuell, so dass selbst ich Unterschiede wahrnehme, obwohl ich sie nicht konkret beschreiben könnte: Ich sehe, wenn ein Greifvogel seine Runden segelt oder Zugvögel mit langen, ausladenden Flügelbewegungen zielstrebig von Nord nach Süd fliegen. (Wenn sie dann noch schreien, kann ich sogar zwischen Kranichen und Gänsen unterscheiden, aber das nur am Rande.) Das Auf-der-Stelle-Rütteln eines Falken erfreut mein Herz und lässt mich innehalten und gespannt auf den Sturzflug warten. Und mich begeistert es, wie ein Schwan sich scheinbar mühsam, aber doch erfolgreich von der Wasseroberfläche erhebt. Spatzen und all die anderen kleinen flattern eher hektisch durch die Gegend, selbst in der Luft und weit weg von mir angstvoll darauf bedacht, nicht zu lange an einem Ort zu verweilen oder vorhersehbare Flugbahnen zu ziehen. Und die Mauersegler über den Dächern von Heidelberg fliegen und segeln und stürzen wieder anders und – wie ich weiß – nahezu unablässig: Sie schlafen sogar im Flug. Tauben lassen sich ziemlich einzigartig fallen, um dann wieder aufzusteigen; und die bei uns in der Gegend zahlreichen Krähen haben ihren ganz eigenen Stil, sich in der Luft zusammenzurotten.

Ebenso charakteristisch unterschiedlich gehen Menschen. Mein Mann sagt, einer meiner Söhne habe denselben Laufstil wie ich. Die Eigenarten seines (und meines) Ganges könnte ich nicht beschreiben, wiedererkennen würde ich sie aber. Selbst in vielen Jahren noch, da bin ich mir sicher, denn: Ich habe so etwas schon einmal erlebt, vor Jahren bei einem Klassentreffen. Ich war als Organisatorin ziemlich pünktlich, fast alle kamen nach mir an. Alle mussten einen mittellangen Weg zurücklegen zu dem Tisch unter dem Sonnenschirm, an dem ich saß und wartete. Ich hatte alle über zehn Jahre nicht gesehen. Bevor sie nah genug ran waren für die Gesichtserkennung, hatte ich sie schon identifiziert – am Gang.

Wenn wir aus irgendwelchen Gründen nicht erkannt werden wollen, sollten wir neben aller Verkleidung vor allem auf eins achten: Nicht bewegen!

Mindblowing

Letztens sah ich mit meinen Töchtern „Britain´s got talent“. Diejenigen, die weit kommen und von der Jury gelobt werden, hören Einschätzungen wie „you are a superstar“ oder „your performance was mindblowing“. Auch „incredible“ wird oft und gern bemüht, um besondere Talente zu beschreiben. Die anderen schaffen es nicht durch die Vorauswahl, die meine Töchter treffen, bevor sie mich zum gemeinsamen Fernsehen einladen. Zum besseren Verständnis: Ein Superstar ist ein Star, der super ist. Super ist besser als eins, oder? „Mindblowing“ bedeutet soviel wie irre oder toll (mir das Gehirn wegblasend eben); und „incredible“ heißt – man glaubt es kaum – unglaublich.

Die Leute, die es bis zu „Britain´s got talent“ geschafft haben, sind talentiert, keine Frage. Sehr talentiert sogar. Diejenigen, auf die meine Töchter mich aufmerksam machen, bringen mich zum Staunen: Ich kann nicht leugnen, dass Gott manchen Menschen besondere Gaben mitgegeben hat. Und ich bin mir darüber im Klaren, dass es nur wenige bis ganz nach oben schaffen und dass das nur selten am Talent liegt. Gründe für Misserfolg sind eher, dass sich Gelegenheiten nicht bieten, Beziehungen nicht existieren oder die eigene Ambition doch nicht ausreichend vorhanden ist. Dennoch empfinde ich eine gewisse Skepsis gegenüber der Verwendung von Worten wie „herausragend“, „unfassbar“ oder eben „mindblowing“. Aussagen in dieser Richtung müssen sich meiner Meinung nach auf eine sehr geringe Anzahl von Menschen beziehen, um den Status des Herausragenden zu erhalten. Mein eigenes Talent in Sachen Musik würde ich bestenfalls als durchschnittlich beschreiben. In manch anderer Hinsicht liege ich vielleicht über dem Durchschnitt, aber nur ganz knapp; im Zeichnen bin ich eine Niete. Unglaublich, irre oder Superstar sind Attribute, mit denen ich mich und Menschen in meinem persönlichen Bekanntenkreis nie in Verbindung bringen würde. Oder?

Zu einer ähnlichen Kategorie gesprochener Superlative gehören Formulierungen wie: „Wir haben den Gegner heute komplett zerstört.“ Diese Meldung erschallt in unserem Haus des öfteren – vornehmlich nach einem Fußballspiel. Sind derartige Glanzleistungen ein Zeichen des 21. Jahrhunderts? Oder bin ich den Weltklasse-Talenten in meiner Jugend nur nicht über den Weg gelaufen? Auf jeden Fall habe ich den Umgang mit Worten wie unfassbar, unglaublich, deklassierend nicht wirklich gelernt…

Einzige Ausnahme: Die Geburten meiner Kinder. Dass da von einem Moment auf den anderen (von den schmerzhaften Stunden davor großzügig abgesehen) ein Mensch lag und schrie, wo vorher keiner war – das fand ich unglaublich. Wie sich in den letzten Jahren aus diesen kleinen Menschlein sehr einzigartige Persönlichkeiten entwickelt haben – das ist ein Geheimnis. Unfassbar toll, vielleicht sogar „mindblowing“!