Schule der Gladiatoren

Eine junge Familie ist in unsere Nachbarschaft gezogen. Der Mann war früher Lehrer, arbeitet jetzt aber als IT-Experte. Es interessiert mich, wieso er ausgestiegen ist. Mit dem Lehrersein an sich habe dies nichts zu tun, versichert er mir. Aber alle wollten mitreden: Eltern, die Schüler selbst, Bekannte, die selbst noch nie vor einer Klasse gestanden haben. Außerdem habe es wenig Respekt gegeben den Lehrern gegenüber und keine Möglichkeit, darauf zu reagieren: „Schule ist, als würde man wie ein Gladiator in die Arena geschickt – nur ohne Waffen und ohne Rüstung. Und was macht man dann? Sterben.“

Nicht jeder Lehrer empfindet es wohl ebenso, einige vielleicht doch. Das ist schade. Mir tut es leid um jeden, der gern unterrichten würde und es aber wegen der schwierigen Bedingungen doch nicht tut – verständlicherweise: Im Gegensatz zu den Gladiatoren in Rom ist es hier und heute möglich, sich gegen die Arena zu entscheiden.

Vom Leben und Sterben

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Freunde von uns haben in den vergangenen Wochen einen ihrer besten Freunde begleitet, der im Sterben liegt. Dafür verbrachten sie einige Wochenenden in der Ferne bei ihm und nicht hier, wo sie zu Hause sind. Heute waren sie nach langer Zeit wieder bei uns im Gottesdienst. Sie sind emotional ausgelaugt und doch dankbar für die Zeit, die sie mit ihrem Freund verbringen konnten. Andererseits freuen sie sich zunächst wieder über Alltag und Normalität – der eigene Haushalt, Arbeit, Kollegen, Nachbarn … Leben halt.

Das Sterben ihres Freundes geht weiter. So gern sie daran Anteil nehmen und ihm nahe sein möchten: Momentan tut ihnen die räumliche und gedankliche Distanz gut. Es braucht eine gesunde Ambivalenz im Umgang mit dem Tod. Denn er gehört zum Leben dazu – 100 Prozent Mortalitätsrate, wie eine Bekannte es sagt. Nur der Zeitpunkt ist unbekannt. Sie hat recht; es ist gut, sich bewusst zu machen, dass unser Leben enden wird. Das ist nicht morbide oder masochistisch, sondern realistisch und heilsam. Es hilft, unsere Prioritäten schlau zu setzen: Wie wollen wir leben, reden, agieren und uns einbringen? Wir haben eben nicht ewig Zeit dafür, auch wenn es uns inmitten des täglichen Einerleis so vorkommen könnte. Und trotzdem darf unser Leben-Wollen nicht vom Sterben-Müssen überlagert werden. Den Gedanken an letzteres halten wir nur dosiert aus. Zu leben bedeutet eben auch, die kostbaren einzelnen Momente in vollen Zügen zu genießen, ohne traurig auf das baldige Ende zu warten.

Vorsicht!

„Wer unvorsichtig herausfährt mit Worten, sticht wie ein Schwert; aber die Zunge der Weisen bringt Heilung.“
Sprüche 12, 18

„Manchmal frage ich mich“, sagt eine Frau zur anderen, „warum dein Mann nicht schon längst in der Klapse ist.“ Der Kommentar kommt spontan und ungefiltert; er ist spaßig gemeint und wird auch so verstanden – und doch: Meiner Meinung nach geht er ein kleines bisschen zu weit.

Hinterher denke ich, dass da irgendwie ein ungeschriebenes Gespür dafür existiert, was man sich an den Kopf wirft und was nicht. Natürlich variiert das, was wir einen guten Umgang miteinander nennen, und hängt ab von vielen Faktoren: Sind wir allein oder in Gesellschaft, haben wir eine Geschichte miteinander, in welcher Beziehung stehen wir zueinander … Dennoch gibt es Formulierungen, die mir niemals über die Lippen kämen – oder hinterher sehr peinlich wären und mindestens einer Entschuldigung bedürften.

In dem Fall war ich nicht beteiligt, sondern nur Ohren-Zeugin. Es könnte mir total egal sein, was die eine zu der anderen sagt. Wenn ich aber ehrlich bin, bleibt doch etwas hängen: Die eine vergreift sich offenbar manchmal im Ton, die andere kann als anstrengend empfunden werden. Vielleicht werde ich den Satz wieder vergessen. Wahrscheinlicher ist, dass er, wie unbewusst und geringfügig auch immer, mein Bild der beiden beeinflusst.

Herr, hilf mir, meine Zunge im Zaum zu halten, denke ich, sie ist ein törichtes Ding.

„Siehe, auch die Schiffe, obwohl sie so groß sind und von starken Winden getrieben werden, werden sie doch gelenkt mit einem kleinen Ruder, wohin der will, der es führt. So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rechnet sich große Dinge zu. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an!“
Jakobus 3, 4+5

Beschämend

Ich fange eine neue Arbeit an und bin entsprechend nervös. Zwar weiß ich, dass andere auch nur mit Wasser kochen und Rom nicht an einem Tag erbaut wurde. Dennoch sorge ich mich ein wenig; wahrscheinlich ist es reiner Stolz: Was wäre, wenn ich den Erwartungen nicht gerecht werde oder keinen guten Eindruck hinterlasse?

Am Abend vor meinem ersten Tag schickt uns meine Tochter eine Nachricht eines Bekannten, der von seinem todkranken Sohn berichtet: Nach und nach verliere dieser eine Fähigkeit nach der anderen, könne nicht mehr allein gehen oder essen und sich nur mit Mühe artikulieren. Glücklicherweise, schreibt der Vater, habe der Junge keine Kopfschmerzen und müsse sich nicht so oft erbrechen – weitere normale Folgen dieses bösartigen Hirntumors. Offensichtlich verschlechtert sich der Zustand dieses Zehnjährigen langsam, aber stetig. Der Vater ist dennoch dankbar: Sein Sohn, vor der Diagnose begeisterter Fußballspieler, `beschwert sich kein bisschen und wirkt alles andere als geknickt… ´

Die Nachricht beschämt mich. Während ich mir Gedanken mache um den Eindruck, den ich hinterlasse, müssen andere Eltern ihrem Kind beim Sterben zuschauen – ohne zu jammern.

Begrenzte Freiheit

Im Restaurant bei uns im Ort redet eine meiner Nichten die Bedienung mit Du an: auftaktlos und ohne Vorwarnung. So kennt sie es wahrscheinlich aus der Großstadt oder aus den Studentenkreisen, in denen sie sich zu Hause fühlt. Auf den ersten Blick wirkt das Du vielleicht modern. Ich mag es trotzdem nicht; für mich klingt es respektlos. Dabei ist meine Wahrnehmung natürlich ebenso beeinflusst von der Prägung, in der ich mich zu Hause fühle.

Die Gedanken sind frei, heißt es in einem Lied. Ich würde sagen: Auch unser Denken ist begrenzt. Ohne einen unabhängigen Kompass richten wir uns alle nach unserem Umfeld. Und ganz selbstverständlich übernehmen wir die Werte, die dort gerade angesagt sind.

Es mag heutzutage üblich sein, jeden zu duzen, der mir über den Weg läuft – frei von Konventionen ist es nicht. Denn unsere persönliche Freiheit, meine `freie´ Entscheidung, hat einen klaren Rahmen. Und dieser orientiert sich an Standards und Maßstäben von außen und den Konsequenzen, die ein Ignorieren derselben nach sich zieht. Das ist eine Tatsache, egal ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht.

Bezogen auf Du oder Sie waren die mich prägenden Umgangsformen früher da als die meiner Nichte. Sie sind deswegen nicht automatisch veraltet oder falsch und erst recht nicht weniger frei: nur anders begrenzend. Das ist alles.

Streiten lernen

`Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte´, heißt es. Einen wahren Kern findet man ja immer in derartigen Sprichwörtern. Aber die Streitgespräche meiner Kinder bereiten mir selten Freude: vor allem, wenn sachliche Kontroversen emotional werden. Dann schwanke ich von einer Position zur anderen, bin angespannt und irgendwann auch ein bisschen verärgert. Es fällt mir schwer, mich nicht einzumischen, nicht Partei zu ergreifen. Stattdessen wünsche ich mir, dass sie aufhören, sich zu streiten. Darüber würde ich mich freuen. 

Dabei weiß ich, dass Können von Üben kommt – in Bezug auf den Geist ebenso wie auf den Körper. Wer schreiben, rechnen, Rad fahren, schwimmen, balancieren oder eine andere Sprache sprechen möchte, muss es einüben. Normalerweise freue ich mich, wenn meine Kinder das freiwillig tun. Wieso nur geht es mir beim Streiten anders? 

(K)ein Weihnachtsbaum

Seit ein paar Jahren haben wir einen Weihnachtsbaum aus Metall. Er ist wiederverwendbar und nadelt nicht. Jahrelang kauften wir eine Nordmanntanne, die ich sparsam schmückte: echte Kerzen, ein paar handgefertigte Aufhänger, Strohsterne, eventuell Kugeln. Allerdings machte mir das Dekorieren wenig Spaß; ich musste immer die brennenden Kerzen im Blick behalten; und außerdem ging mir die Nadelei spätestens nach einer Woche auf den Keks. Noch dazu wurde der Baum von Mann und Kindern kaum beachtet.

Ich selbst käme mittlerweile sehr gut zurecht ohne Weihnachtsbaum. Der Kunst-Baum ist ein Kompromiss – für eine meiner Töchter ein total hässlicher. Sie hätte lieber eine richtige Tanne: grün und lebendig und wie früher. Entweder sie wusste ihre Begeisterung gut zu verbergen. Oder aber wir finden immer das toll, was wir gerade nicht haben. 

Heiligabend: ein Tag wie jeder andere

Es ist der 24. Dezember und gleichzeitig ein ganz normaler Dienstag: Weil die nächsten beiden Tage nichts geöffnet haben wird, gehe ich gleich morgens einkaufen. Außerdem läuft die Waschmaschine, und ich sollte noch bügeln, bevor der Berg zu groß wird. Das Kochen übernimmt freundlicherweise mein Mann, so dass ich, wie immer dienstags, laufen gehen kann. Nachher fahren wir in den Gottesdienst und werden feiern, dass Gott Mensch wurde. Das ist ein riesiges Geschenk – und doch passierte es schon damals ganz unspektakulär.

Als Jesus geboren wurde, waren seine Eltern unterwegs und hatten keine tolle Unterkunft: Eine Geburt passte eigentlich gerade nicht so gut. Für Gott aber war der Moment genau richtig – ein Tag wie jeder andere. Genauso geschieht es heute noch. Frederick Buechner beschreibt das sehr schön: „Jesus neigt dazu, mitten hinein in unser ganz reales Leben zu kommen … Er kommt nicht in einer Flamme unwirklichen Lichts, nicht während einer Predigt, nicht durch die Geburtswehen eines religiösen Tagtraumes, sondern … zum Abendessen oder während wir an der Straße entlanglaufen. … Er kommt nicht von hoch oben herab, sondern immer direkt in das wahre Leben und in die Fragen hinein, die das wahre Leben stellt.“

Gott beugt sich nicht nur herab; er geht auf die Knie und kommt auf Augenhöhe mit uns. Und das macht aus einem ganz normalen Tag eine heilige Angelegenheit.

Übersehen – und nichts passiert?

Rechts-vor-links-Situationen sind gefährlich – jedenfalls für Radfahrer. Es kommt vor, dass ich (unbeabsichtigt) übersehen werde, klar. Das ist doof, aber, solange nichts passiert, kein Problem. Wenn Autofahrer mich zwar bemerken und trotzdem ungerührt Gas geben, reagiere ich weniger entspannt. Das ist doof, und ich ärgere mich, obwohl nichts passiert. Denn wer mich mit Absicht übersieht, signalisiert mir, dass ich weniger wichtig bin. „Ich fass es nicht!“, murmele ich dann und schüttele innerlich den Kopf. Aber es nutzt ja nichts: Sowas passiert mir immer wieder. 

Teuer? Ansichtssache!

„Es gibt nur noch Weihnachtsbriefmarken für 85 Cent“, sagt die Frau bei der Post, „weil das Briefporto zum neuen Jahr erhöht wird.“ „Schon wieder?“, entfährt es mir, „Ich kann mich noch an 50 Cent erinnern.“ Die letzte Porto-Erhöhung sei drei Jahre her, sagt die Frau hinterm Tresen verärgert, als wäre dies ihre eigene Entscheidung. Außerdem habe sie auch mal für fünf Euro die Stunde gearbeitet, die Zeiten änderten sich eben.

Da ist Musik in der Luft, spüre ich, weitere Kommentare spare ich mir. Vielleicht hat sie recht, vielleicht ist das Briefporto viel zu günstig – im Vergleich mit irgendetwas. Aber ich sehe wie klein und leicht meine Briefe sind und finde es teuer, dass einer davon bald 95 Cent kosten soll: immerhin fast so viel wie ein Liter Milch.

Ein paar Tage später schicke ich einen Brief nach Australien – für vergleichsweise günstige 1,10 Euro, und einen Kalender nach England – für nicht ganz so günstige 16,99 Euro. Da werde noch einer schlau aus der Preispolitik der Deutschen Post.