Altersgerecht

Meine Schwester feiert dieses Jahr in kleiner Runde und sehr ruhig Silvester – gegen ihre sonstigen Gepflogenheiten. „Das wird bestimmt … schön!“, will ich sagen, denn, was sie beschreibt, würde mir auch gefallen. Sie unterbricht mich aber und sagt: „… altersgerecht, das ist altersgerechtes Feiern.“ Es klingt ein ganz kleines bisschen abfällig – zumal ich deutlich jünger bin als meine Schwester und schon lange so feiere.

Glücklicherweise fühle ich mich nicht so, als hätte ich all die Jahre etwas verpasst.

Brief an meine Freundin

Wir werden beide älter: Es dauert alles etwas länger, manche Dinge sind uns inzwischen zu anstrengend. Du schaust mich an und sagst, du könntest zum Beispiel nicht joggen gehen – wie ich. Ich schaue dich an und sage, ich könnte nicht den ganzen Tag im Stall arbeiten, nebenbei ein Zimmer renovieren und mittags pünktlich das Essen auf dem Tisch haben – wie du.

Ich kann manches, was du nicht könntest; und du kannst eine Menge, was ich nicht könnte. Dabei würden wir beide fast alles lernen oder uns daran gewöhnen, wenn wir es einübten. Es gibt für alles ein erstes Mal, und das ist immer ungewohnt und anstrengend. Mit der Zeit wird man besser, bekommt Routine und erledigt das Gelernte mit weniger Anstrengung als am Anfang.

Zwischen `ich kann´ und `du könntest nicht´ liegt also nur eine Zeit des Übens – in unserem Fall sind es zwei verschiedene Lebensstile. Der eine ist nicht besser als der andere: Du bewunderst mich vielleicht; ich bewundere dich auf jeden Fall!

Dringend

Normalerweise haben wir ein Handy, um in dringenden Fällen überall und jederzeit erreichbar zu sein. Aber was ist schon normal? Ich lasse mein Handy drei Tage liegen, ohne es anzurühren. Einer Freundin schreibe ich vorher, sie könne mich in dringenden Fällen gern übers Festnetz erreichen. Es klingt gleichzeitig komisch und gut.

Erschreckende Tyrannei

Vor einigen Monaten war in der Presse von der `Tyrannei der Ungeimpften´ die Rede: ein scharfes Urteil. Man wusste damals manches nicht, was man heute weiß – unter anderem dass gegen Corona geimpfte Menschen andere trotzdem anstecken können. Dazu herrschte ein großer Druck, etwas zu tun, ohne alle Zusammenhänge genau zu kennen. Die Formulierung passte in die Zeit und zu der Atmosphäre, die herrschte. Trotzdem hielt ich sie für mehr als unglücklich: Sie diffamiert und verurteilt Menschen, die etwas NICHT tun – und sie ist unbarmherzig. 

Heute wissen wir mehr. Und deshalb wünschte ich mir im Nachhinein eine Korrektur (nicht nur) dieser übers Ziel hinausschießenden Phrase. Leider passiert das nicht – im Gegenteil!

„Die Tyrannei der Ungeimpften? Dazu stehe ich“, lese ich in einem Interview mit demjenigen, der den Begriff damals prägte. Spätestens jetzt ärgere ich mich. Es war Zeit genug, sich zu informieren und zu reflektieren – wenn schon nicht über manche Entscheidung, dann zumindest über das Wort Tyrannei. Bei Wikipedia heißt es: `Als Tyrannei bezeichnet man in stark abwertendem Sinn eine als illegitim betrachtete Gewalt- und Willkürherrschaft eines Machthabers oder einer Gruppe.´ Diktatoren gelten als tyrannisch – gewaltbereit, willkürlich und oft illegitim an der Macht. Die meisten Ungeimpften dagegen waren weder willkürlich noch übten sie Gewalt aus; sie ließen sich lediglich – ganz legitim – nicht impfen. Dennoch wurden sie abgewertet, ausgegrenzt und wie Geächtete behandelt – offiziell und oft auch im privaten Umfeld. An manches erinnern wir uns kaum noch. Wir vergessen schnell, dabei hat mehr gelitten unsere Gesundheit: Einige Menschen sind sich nicht mehr sicher, dass es legitim ist, eine eigene Meinung zu haben.

Für mich persönlich beinhaltet das Wort Tyrannei weiterhin den Schrecken gewaltbereiter Diktatoren. Gleichzeitig denke ich daran, wie leichtfertig es in den vergangenen zwei Jahren `Otto Normalverbraucher´ von nebenan zugesprochen wurde. Dass sich im Dezember 2022 der eine oder andere noch immer nicht von dieser Formulierung distanziert, geschweige denn dafür entschuldigt, finde ich auf andere Weise erschreckend.

Vom Laufen

Einige Wochen war ich krank – und konnte keinen Sport machen. Dann fühlte ich mich fit genug, meinen Körper in Schwung zu bringen. Aber es war noch sehr, sehr kalt: kein Laufwetter für meine gerade wieder genesenen Atemwege. Ich wich aus aufs Rudergerät. Das war in Ordnung, vielleicht sogar gut, auf jeden Fall fühlte ich mich hinterher frisch und lebendig.

Ein paar Tage später ist es nicht mehr eisig kalt, sondern mild – Laufwetter. `Ich muss mich erst wieder rantasten´, denke ich vorher. Meine Runde kann ich beliebig und spontan verlängern oder abkürzen. Unnötige Überlegungen: Es läuft, ICH laufe, als hätte ich nicht wochenlang ausgesetzt. Beim Laufen fühle ich mich währenddessen schon frisch und lebendig!

Vom Mangel

In der Zeitung lese ich, dass über die nächsten zehn Jahre zu wenige Lehrer da sein werden. Es mangelt an Menschen, die gern unterrichten möchten – woran das wohl liegt? Diese Frage stellt sich unsere Bildungsministerin offenbar nicht. Stattdessen sagt sie, gehe es darum, diesen Mangel in Zukunft zu gestalten. Ich frage mich, was das heißt. Es klingt ein wenig wie `Mangel verwalten´, also sich um das Vorhandene zu kümmern – nur vielleicht auf kreativere Art und Weise. Aber auch ge-stalten kann man nur das oder mit dem, was da ist. Unterm Strich bleibt daher: Über die nächsten zehn Jahre werden zu wenige Lehrer da sein.

Alle Jahre wieder

Wie jedes Jahr Ende Dezember kommt seit einigen Tagen mehr private Post als sonst. Weihnachten schreiben auch Menschen noch Briefe oder Karten, die das sonst nicht tun. Ich freue mich sehr über jeden Gruß; einige sind tatsächlich unerwartet, alle freundlich, zwei oder drei besonders: Solche ehrlichen und wertschätzenden Worte sagen oder schreiben wir uns sehr selten. Brauchen wir einen äußeren Anlass, um loszuwerden, was uns wirklich bewegt? Sind wir zum Jahresende in einer anderen Stimmung als das Jahr über oder haben wir einfach mehr Zeit? Es ist mir egal, ich freue mich einfach – alle Jahre wieder.

Bei der Physio

Meine Physiotherapeutin versucht, einen verhärteten Muskel zu lockern; es ist sehr schmerzhaft. Ich zucke nicht nur zusammen, ich jammere. „Zur Ablenkung könnten wir Weihnachtslieder singen“, sagt sie. Ich schlage eins meiner Lieblingslieder vor: `Herbei, oh ihr Gläubigen´. Sie ist text-unsicher, summt aber mit. `Ich steh´ an deiner Krippen hier´ kennt sie nicht und lässt mich vorsingen. Als ich fertig bin, sagt sie, ich hätte eine schöne Stimme. DAS ist bisher noch niemandem aufgefallen – und ich weiß nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll. Es freut mich aber, dass sie beide Lieder mag.

Nach der Behandlung gehe ich an der Rezeption vorbei und verabschiede mich: „Schöne Weihnachtslieder haben Sie gesungen“, murmelt die Frau hinter dem Tresen. Hätte ich gewusst, dass mein Singen die halbe Praxis unterhält, wäre es mir nicht so leicht über die Lippen gekommen … Aber es hat geholfen: Von der Physiotherapie habe ich kaum etwas mitbekommen.

Lohnt sich (nicht?)

Mit dem Fahrrad verteile ich drei Weihnachtsbriefe in der Stadt – und spare mir das Porto. Bei einer älteren Dame stecke ich den Brief nicht in den Kasten, sondern besuche sie. Insgesamt bin ich zwei Stunden unterwegs und spare insgesamt 2,55€ an Porto. Der Stundenlohn ist eine Katastrophe, dennoch hat sich die Aktion gelohnt!

Mein Friseur

Beim Friseur (zum Beispiel) und beim Zahnarzt sind wir für eine gewisse Zeit mit jemandem zusammen, den wir kaum kennen. Wir wollen nicht, wir müssen es eine halbe Stunde miteinander aushalten; das fühlt sich manchmal etwas merkwürdig an. Daher versuchen wir, die Situation mit Small Talk zu entspannen.

Beim Zahnarzt redet normalerweise nur einer – es ist nicht der Patient. Zwar würde ich gern etwas sagen, lasse es aber: Mit offenem Mund sind verständliche Worte ein mühsames Unterfangen.

Beim Friseur kann ich ungehindert artikulieren; ich komme trotzdem nicht zu Wort …