Die Ware ist nicht da?

Bei meinem Haus- und Hof-Discounter um die Ecke kennen mich die meisten Verkäuferinnen – oft wechseln wir ein paar Worte. „Die Ware ist nicht da“, schmettert es mir denn auch aus mehreren Kehlen entgegen, als ich (für meine Verhältnisse spät) gegen zehn zu meinem Wochen-Einkauf eintreffe. Ich spüre, dass die Lieferverzögerung für reichlich Unmut sorgt – bei Kunden und Mitarbeitern, die den Zorn der ersteren zu spüren bekommen. Auch ich bin im ersten Moment enttäuscht, weiß aber, dass zur Not ein anderer Supermarkt in der Nähe ist: Ich werde nicht mit leeren Händen nach Hause kommen.

Ein Blick in die Regale der Gemüse-Abteilung wundert mich: Die Ware ist nicht da? Danach sieht es nicht aus. Ich werde keinen Brokkoli kochen können, wie ich es mir überlegt hatte – aber dafür Kohlrabi, Chinakohl, Spitzkohl oder Zucchini. Eisbergsalat gibt es nicht – aber dafür Eichblattsalat. Im Kühlregal liegen nur zwei Butter-Varianten, anderes fehlt vielleicht – es fällt mir kaum auf. Denn ich finde immer eine Alternative; das habe ich mit der Muttermilch aufgesogen: Früher haben wir das Beste aus dem gemacht, was es überhaupt gab. Heute scheinen wir es zu brauchen, dass es das Beste gibt, damit wir überhaupt etwas machen können.

Ich hoffe, ich bleibe flexibel und zufrieden mit dem, was da ist – es ist eine ganze Menge.

Sport und so

Kürzlich diskutierte halb Deutschland darüber, dass Frauen im Profifußball nicht nur weniger verdienen als die Männer, sondern insgesamt viel zu wenig. Das gilt umso mehr für die meisten anderen Sportarten – egal, ob Männer oder Frauen sie ausüben. Ein fußballbegeisterter Mensch in meiner Familie findet diesen Umstand durchaus ungerecht, gibt aber zu bedenken: „Wo soll das Geld denn herkommen?“ Herren-Fußball sei nun einmal der Sport, den die meisten sich anschauten und viele selbst ausübten; Markenhersteller würden lieber mit einem Fußballer werben als mit einem Zehnkämpfer oder gar Tischtennisspieler; und die Fußball-Vereine hätten einfach `wahnsinnig viel Geld´. Daran ließe sich nicht so leicht etwas ändern.

Wahrscheinlich hat er Recht: Was nicht da ist, lässt sich schlecht verteilen. Andererseits sind wir als ganze Nation aber nicht nur dann enttäuscht, wenn `unsere Elf´ den WM-Titel nicht holt. `Wir´ schimpfen auch über das schlechte Abschneiden all jener Sportler, die Deutschland anderswo erfolglos vertreten – zum Beispiel im Schwimmbecken, auf der Tartan-Bahn oder am Stufenbarren. Immer bemängeln Journalisten dann auch die ungerechte Unterstützung und Entlohnung anderer Spitzensportler. Aber abseits großer Ereignisse wie Olympia oder der einen oder anderen Leichtathletik-Meisterschaft berichten sie herzlich wenig über Nicht-Fußball. Auch die beste Sendezeit im Fernsehen ist der Bundesliga vorbehalten – oder all den Wettkämpfen, bei denen das `Runde ins Eckige´ muss. Das ist einfach so.

Dabei betreiben ALLE Profi-Sportler einen immensen Aufwand, um in ihrer Disziplin sehr gut zu sein. Es wäre schön, wenn sie dann auch ALLE gut davon leben könnten und ihre Nation hinter sich wüssten. Wie und wodurch das gelingt, weiß ich auch nicht: Aber wenn man an den vorhandenen Strukturen festhält, wird Fußball diesbezüglich weiter in einer anderen Liga spielen – unabhängig davon, ob sich die meisten Menschen dafür interessieren oder nicht.

Kürzlich zum Beispiel beherrschte die Leichtathletik-EM in München die Sportschau und die Gemüter; die Deutschen Teilnehmer lieferten super Ergebnisse. In der Zeitung fand sich die eine oder andere (kleine bis mittelgroße) Notiz dazu. Da geht noch ein bisschen mehr, finde ich, regelmäßig und immer wieder. Eine veränderte mediale Aufmerksamkeit (langfristig und dauerhaft) zöge sicherlich ein verstärktes öffentliches Interesse für all die Rand-Sportarten nach sich, denen man nachgehen kann. Vielleicht würden dann (langfristig und dauerhaft) auch ein paar mehr Kinder laufen wollen oder springen, turnen, schwimmen, schießen usw. Mindestens deren Eltern läsen gern darüber oder verfolgten Sendungen dazu – so dass Werbung sich lohnen würde. Könnte ja sein.

Auch dann würde es nicht schnell und umfassend anders: Das Sportinteresse der Deutschen wird sicher nie gleichmäßig verteilt sein. Jedes Land hat Lieblings-Sportarten. Wahrscheinlich bleibt Fußball bei uns immer auf Platz eins – es ist schließlich ein Spiel, das sich für die Menge eignet wie kein anderes. Aber wir könnten es anderen Sportarten (und den dazugehörigen Athleten) leichter machen.

Absolut gering, relativ enorm

„Sie wird nicht darben müssen“, bemerkt mein Mann. Wir sprechen kurz über eine bekannte Schauspielerin, die sich gerade von ihrem (sehr vermögenden) Ehemann trennt. „Wir müssen auch nicht darben“, sage ich, „… allerdings auf einem anderen Niveau.“ Ebenso wie Milliardäre haben wir (mehr als) genug zum Leben: Insofern sind wir ihnen relativ ähnlich, auch wenn absolut gesehen Welten zwischen uns liegen. Wer dagegen nicht genug hat, spielt absolut vielleicht fast `in meiner Liga´, relativ ist der Unterschied zwischen uns aber enorm: Dem einen reicht´s zum Leben, dem anderen eben nicht.

Unvorstellbar

Die besten Teilnehmer des Ironman auf Hawaii schaffen die 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und den abschließenden Marathon in weniger als acht Stunden. Die Lufttemperatur beträgt 28 bis 38 Grad, dazu 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Ich bewundere alle, die auf Hawaii auch nur antreten; meine Hochachtung vor jedem, der dort ins Ziel kommt, ist nicht in Worte zu fassen; acht Stunden sind für mich unvorstellbar: Der menschliche Körper (und Geist!) ist zu wahrhaft erstaunlichen Leistungen in der Lage. Mir reichen dieser Tage schon die fünf Lauf-Kilometer, die ich – wegen der sommerlichen `Hitze´ – am Morgen oder frühen Abend absolviere.

Vom Segen gordischer Knoten – oder so

Mein Sohn erzählt in einer Sprachnachricht von seinen Erfahrungen beim Mathe-Lernen für die Uni: „Vorgestern acht Stunden lernen – nichts verstanden, gestern acht Stunden lernen – nichts verstanden. Ich sehe schwarz für die Klausur, aber jetzt gehe ich ins Bett.“ Er klingt müde und ein wenig resigniert. Ich denke an einen `gordischen Knoten´, aber ich habe nur eine blasse Idee davon: irgendetwas, was normalerweise platzt oder zerschlagen wird. Das wäre auch in diesem Fall super, und dann könnte mein Sohn – oder einer aus seiner Lerngruppe – schreien `Heureka, ich habs!´ und sie würden für die Klausur nicht mehr schwarz sehen, sondern ein helles Licht. Aber meiner Erfahrung nach passiert das mit den persönlichen Lebensknoten höchst selten. Wir wünschten uns eine Instant-Lösung, ein schnelles Gelingen, aber das ist nicht das, was geschieht. Stattdessen verlaufen derart schwierige Umstände prozesshaft, meist zäh und langsam.

Mir fällt ein echter Knoten ein: der an den Kartoffelsäcken von meiner Freundin. Diese sind nicht nur fest verschlossen, sondern durch das Tragen zieht das Gewicht der Kartoffeln den Knoten zusätzlich fest. Wenn ich sie aufknoten will, geht das erstmal ÜBERHAUPT NICHT. Es passiert nichts, wenn ich daran herum werkel; und am liebsten würde ich mir ein Messer nehmen. Nur habe ich im Keller selten eins zur Hand und bin außerdem ein bisschen ehrgeizig. Also probiere ich weiter und bleibe dran. Noch eine ganze Weile geht nichts voran – scheinbar! Tatsächlich tut sich doch etwas, ich bekomme einen Zugriff und der Knoten gibt nach, zunächst fast unmerklich. Dann ist er nicht gleich auf, es bleibt noch ein bisschen Fummelei; aber ich spüre genau diesen Moment, in dem der Knoten `verloren´ hat und ICH gewonnen.

Und diesen Moment wünsche ich meinem Sohn, diesen Moment, von dem er im Nachhinein sagen wird: „Das war der Augenblick, in dem wir anfingen zu verstehen. Dann blieb es noch Arbeit, dann mussten wir noch weiter lernen, es blieb mühselig. Aber da wussten wir: Wir können es schaffen.“

Und also setze ich mich hin und bete für meinen Sohn und seine Leute. Ich bete, dass sie nicht nur anfangen, Mathe zu verstehen, sondern dieses Prinzip verinnerlichen: Es lohnt sich, dranzubleiben und durchzuhalten – auch wenn sich offensichtlich nichts zu tun scheint. Das ist so eine wertvolle Erfahrung, und sie stärkt den Charakter viel mehr, als schnelles Gelingen es jemals könnte.

Vorher oder nachher?

Manchmal fällt mir erst nachher ein, dass ich vorher ein Foto hätte machen können, um den Vorher-Nachher-Effekt festzuhalten. Nachher ist es dann zu spät; nachher ist vom `Vorher´ nicht mehr viel zu sehen. Dadurch lässt sich das `Nachher´ nur noch ansatzweise würdigen – es fehlt der Vergleich. Andererseits: Was nutzen einem nachher die Fotos von vorher? Wen interessiert es, was mal war? Ist das `Nachher´ gelungen, sollte man sich daran erfreuen. Ist es dagegen missraten, hilft einem die Erinnerung an das wunderbare `Vorher´ jedenfalls nicht, sich mit dem neuen Ist-Zustand gut zu arrangieren.

Das Beschneiden unseres Pflaumenbaums hat nicht viel vom `Vorher´ übrig gelassen – dennoch ist dieses `Nachher´ ein Erfolg: Die bisherige Fülle bestand aus kranken, krüppeligen Trieben, nie ordentlich in Form geschnitten. Jetzt darf der Baum noch einmal versuchen, eine schöne Krone auszubilden. Dieser Ist-Zustand ist das neue `Vorher´: Mal schauen, was nachher daraus wird.

Emanzipiert?

Die Tochter eines Freundes möchte gern etwas studieren, was man getrost als nicht systemrelevant oder sogar brotlos bezeichnen kann. Mein Freund findet das nicht nur super; er denkt fünf Jahre weiter: „Weißt du, Dagmar, mein Herz schlägt für Emanzipation. Und daher wünsche ich meiner Tochter, dass sie auf eigenen Füßen stehen kann.“

Ich kann ihn verstehen – und doch geht mir zweierlei durch den Kopf: Zum einen sind doch Leidenschaft und Begabung mit das Wichtigste bei der Berufswahl. Zum anderen störe ich mich daran, dass mit den eigenen Füßen vor allem (oder ausschließlich) die Finanzen gemeint sind. Dabei lebt man erst dann wahrhaft `selbst-ständig´, wenn man sich auch geistig und emotional emanzipiert, also von anderen löst. Diese Unabhängigkeit ist vielleicht schwerer zu erreichen als ein eigener Job und lässt sich von außen schlechter erkennen. Für die persönliche Zufriedenheit ist sie aber sicher entscheidender.

Nicht irgendein Baum

Bei uns um die Ecke, eingequetscht zwischen einem Garagenhof und einer engen Kurve steht ein Baum – es könnte eine Blasenesche sein. Er ist wunderschön gleichmäßig gewachsen mit einer üppigen und ausladenden Krone. „Der wäre einer für die große Bühne, äh Wiese“, sagt meine Tochter, „der kommt hier gar nicht richtig zur Geltung.“ Recht hat sie. Einerseits.

Andererseits macht dieser Baum den Unterschied in dieser Kurve – ohne ihn wirkte sie steril und langweilig. Zwar nimmt man diesen Baum im Vorbeifahren kaum richtig wahr: Eindrucksvoll erscheint er erst, wenn man ein paar Schritte zurückgeht und ihn wirklich ANSCHAUT. Dennoch verschönert seine meist nur unbewusst wahrgenommene Präsenz diesen Ort.

Ich denke, manche Menschen sind ebenso. Die wahren menschlichen Helden unseres Lebens sind nicht unbedingt diejenigen, die unübersehbar und für jedermann zu hören auf der Bühne stehen. Mich beeindrucken die am meisten, die ihren Platz wunderschön ausfüllen – wie unscheinbar dieser auch sein mag. Sie kommen oft gar nicht richtig zur Geltung, aber ihre Präsenz verschönert doch jedes Miteinander.

Des einen Freud, des anderen Leid … 

Es soll mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene umgeschichtet werden – dafür muss es bessere (und mehr) Zugverbindungen geben. Auf dem Weg durch die Lüneburger Heide sehen wir Kreuze aus roten und weißen Latten: Mit ihnen protestieren Anwohner gegen eine geplante Bahntrasse.

Windräder produzieren Strom aus der erneuerbaren Energie Wind – Klimaschützer freuen sich. Menschen in Gegenden mit viel Wind erleben die schon vorhandenen Windparks als landschaftszerstörend und wehren sich engagiert gegen weitere Windkraftanlagen.

Bei uns im Stadtteil quält sich der Fernverkehr mitten durch die Siedlung; Anlieger nervt das schon seit mehreren Jahrzehnten. Eine Umgehungsstraße wird immer nur teilweise genehmigt. Gegen den letzten Abschnitt, der meinen Stadtteil entlasten würde, kämpfen sowohl Naturschützern als auch andere Anwohnern seit ebenso vielen Jahrzehnten – entschlossen und bisher erfolgreich.

Mein Sohn geht in drei Wochen für elf Monate ins Ausland. Er freut sich auf diese Erfahrung und das, was fernab der Heimat (und der Familie) möglich sein wird. Während wir uns mit ihm freuen, sind wir gleichzeitig wehmütig: Wir werden ihn vermissen.

Des einen Freud und des anderen Leid liegen manchmal nah bei einander – und entziehen sich dennoch einem zufrieden stellenden Kompromiss.

Mehr Abschied

Die Pubertät des jüngsten Sohnes fühlt sich anders an als die des ältesten; sieben Jahre liegen dazwischen. Aber vor allem haben die Umstände sich verändert: Es ist kein Kleiner mehr da, der rückhaltlos bewundert, bedingungslos vertraut und generell Nähe zulässt – all das, zu dem der `Große´ nur noch hin und wieder bereit ist. Diesmal schmeckt alles mehr nach Abschied.