(K)eine Tugend

Über die Masken und ihren Wert ist schon viel diskutiert und geredet worden. Die einen tragen sie bereitwillig, andere nicht. Dazwischen gibt es jede Menge Leute, die den Status quo akzeptieren, sich aber auf ein Leben „danach“ und ohne Maske freuen. Dachte ich – bis zu einem kürzlich veröffentlichten Leserbrief. Darin warnt ein besorgter Bürger vor zu starken Lockerungen, denn wir seien „noch nicht über den Berg“. Mutationen führt er an und Inzidenzzahlen, die schnell wieder steigen könnten. Er plädiert dafür, geduldig eine Herdenimmunität anzustreben: 80 Prozent von uns müssen dafür geimpft oder genesen sein. Eine durchaus realistische Alternative ist es in seinen Augen daher, uns auf „asiatische Tugenden“ wie Abstand und Mund-Nasen-Schutz zu besinnen – er hält diese auch „nach Corona“ für sinnvoll.

„Asiatische Tugenden“ sollen zur Dauerlösung werden für unseren Umgang miteinander? Die Angst hat sich erschreckend ausgebreitet in unserem Land – und unter dem Begriff Tugend verstehe ich noch immer etwas ganz anderes.

Liebe und Geduld

Mit Liebe und Geduld kann man seine Buchsbäume vor dem Zünsler retten – schreibt mein Bruder. Ach so? Ein Kontrollgang zeigt mir das wahre Ausmaß des Befalls: jede Menge abgefressene Blätter und viele lange grüne Raupen – offenbar nimmersatt. Ich denke: So viel Liebe und Geduld habe ich nicht. Dann geht es eben ohne Buchsbäume weiter. Viele andere Gärten kommen auch ohne sie aus – und meine Bekannte kann sich für ihre Weihnachtskränze eine andere Grünschnitt-Quelle suchen.

Zweiter Gedanke: Versuch macht klug – wohl dem, der viele Kinder hat! Den Heerscharen der Zünsler-Raupen ist nur mit verstärkter Man-Power beizukommen. Das Zurückschneiden der befallenen Buchsbäume erfordert schließlich kein Gartenbau-Diplom. Was wir zu sechst in drei Stunden schaffen, hätte mich allein mindestens zwei volle Arbeitstage gekostet – und meine Liebe und Geduld deutlich überstiegen.

Alles weitere überlasse ich (zunächst) der Natur: Die Pflanzen dürfen sich selbst wehren und leben wollen; ich wässere sie ausreichend und rede ihnen gut zu. Ein wenig helfen sicher auch meine gefiederten Freunde. Für Spatzen sind die Raupen ein Festmahl, von dem nach unserem Einsatz nur noch ein gut verzehrbarer Teil übrig ist. Ich erwarte sie mit Liebe und Geduld an meinem Garten-Buffet – und bin gespannt, ob unser gemeinsamer Einsatz sich am Ende auszahlen wird.

Zu guter letzt verbrennt mein Mann das, was wir abgeschnitten haben – und spielt sich damit in die Herzen der Nachbarn: Ein paar Stunden müssen sie sich zum frische Luft-Schnappen in ihre Häuser zurückziehen. Wir hoffen, sie reagieren darauf mit Liebe und Geduld.

Peinlich (1)

Ich denke immer weniger darüber nach, ob ich peinlich bin – und verdanke das meinem Alter. Unsere Kinder lernen in ihrer Jugendgruppe jetzt schon: Der beste Schutz vor Peinlichkeit ist, sich mutig zum Affen zu machen. Wer sich nicht vor allem danach richtet, was andere von ihm denken könnten, erntet eher Bewunderung als peinlich berührte Blicke.

Die entscheidende Frage ist, ob man sich in Gänze akzeptiert fühlt: Wenn ich mich angenommen weiß, so wie ich bin, verliere ich die Angst, abgelehnt oder belächelt zu werden. Der erste Schritt dahin könnte sein, dass ich mich selbst so annehme, wie ich bin.

Es ist schön, wenn man das mit dem Alter lernt; noch schöner ist es, wenn man viel früher dahinter kommt.

Standortbestimmung

Wenn ich meiner Familie glauben darf, bin ich geduldig, diszipliniert, meist zufrieden, impulsiv, überschreite manchmal Grenzen, verstehe Ironie nicht so gut, fühle mich schnell schuldig, reagiere auf Komplimente nicht mit einem Danke, sondern mit „Aber das ist gar nicht so toll“ und noch einiges mehr. Das meiste davon sehe ich genauso. Allerdings weiß ich nicht, inwieweit diese Eigenschaften unveränderlich in mir angelegt waren – also mein ICH sind. Ich schätze, zu einem beträchtlichen Teil ist dieses ICH die Summe meiner Lebensumstände:

Wie ich aufwuchs,
an wem ich mich orientiert und welche Ziele ich mir gesetzt habe,
was mir gelungen ist und woran ich gescheitert bin,
womit meine Tage seit Jahrzehnten angefüllt sind …

All das macht mich zu der, die ich heute bin. Es ist müßig darüber nachzudenken, wie mein ICH wäre, lebte ich in anderen Umständen. Nur manchmal frage ich mich, wer ich stattdessen sein könnte.

Unwort des Jahres

Mein Unwort des Jahres 2021 könnte „Buchsbaumzünsler“ werden. Das hat mehrere Gründe: 

Seine Entdeckung an unseren Buchsbäumen kommt unerwartet und versetzt mich kurzzeitig in eine Art Schockstarre. Auch meine zweite Reaktion ist erinnerungswürdig – ein für mich ungewohntes Schwanken zwischen Resignation und hektischer Betriebsamkeit.
Wahrscheinlich werde ich Stunden investieren, um unsere Buchsbäume zu retten: Stunden, die ich viel lieber anders nutzen würde.
Dieser kleine, zahlenmäßig überlegene, attraktive und gleichzeitig widerliche Feind ist kein schöner Anblick – und brennt sich in mein Hirn ein.
Eventuell gehe ich als Sieger aus diesem ungleichen Kampf hervor. Da ich (Stand heute) kein Gift verwenden möchte, werden die deutlich sichtbaren Fraß- und Schnittschäden noch lange Zeugnis davon geben.
Es kann natürlich sein, dass ich nach langem und zähem Einsatz doch den Kürzeren ziehe. In diesem Fall wird es NIE WIEDER Buchsbäume in unserem Garten geben – nach 20 Jahren `mit Buchs´ durchaus eine einschneidende Veränderung.

Wahrscheinlich ist „Buchsbaumzünsler“ als Unwort des gesamten Jahres vollkommen ungeeignet. Für den Moment passt es aber ganz gut.

Amok Utsalg

Im Urlaub in Dänemark habe ich den dort üblichen Ausverkauf kennengelernt: „Utsalg“ – und in gesteigerter Form „XL Utsalg“ oder „XXL Utsalg“. Die höchste Stufe nennt sich „Amok Utsalg“, was selbsterklärend ist und so viel heißt wie „Alles muss raus“. Selten denke ich noch daran: Dänemark-Urlaube sind momentan nur eine ferne Erinnerung und in naher Zukunft nicht geplant. Stattdessen freue ich mich an meinem Garten. Wir haben verschiedene Bodendecker, die den Boden vor dem Austrocknen schützen und das Unkraut unterdrücken sollen – Waldsteinie, Immergrün, Dickmännchen… 

„Hinten rechts in dem Beet hat sich ein Bodendecker mit großen Blättern breit gemacht. Da wächst dann wenigstens kein Unkraut mehr; ich finde das gar nicht schlecht – meinetwegen kann es so bleiben“, sagt mein Mann. Ich weiß: „So bleiben“ gibt es im Garten nicht – Pflanzen wachsen. Also gehe ich ein paar Tage später los, um die Lage zu sondieren. Dabei fällt mir auf, dass besagter Bodendecker wirklich ganze Arbeit leistet: Auf den ersten Blick wächst hier nichts anderes mehr. Auf dem Rückzug sind zum Beispiel Waldsteinie und Immergrün – die ich gern in meinem Garten habe. Etwas anderes wächst dagegen sehr wohl: Im Schutz des großblättrigen Gewächses tummelt sich Giersch – den möchte ich nirgends in meinem Garten.

Ich muss also eingreifen und verbringe die nächste Stunde auf den Knien. Es bringt nichts, den Wuchs lediglich einzudämmen; dann hocke ich in ein paar Monaten wieder hier. Es hilft nur die radikale Variante: „Amok Utsalg“ – alles muss raus. Leider reißt mir das Zeug kein Tourist aus den Händen, obwohl mein Preis mit jedem dänischen Ausverkauf konkurrieren könnte. Und leider werde ich wohl auf gewissen Restposten sitzenbleiben…

Eine Diagnose

Eine Bekannte kämpft schon über zwei Jahre gegen Krebs: Operationen, eine Chemo nach der anderen, Rückschläge und Hoffnung wechseln einander ab. Letztes Jahr im Frühjahr lag das Ziel bei Weihnachten 2020, da sollte die letzte Chemo beendet sein. Dem war auch so; aber fünf Monate später ist der Krebs wieder da – und die Aussicht auf eine „aggressive“ OP, um zu entfernen, was da nicht hingehört. 

Was macht man mit einer solch niederschmetternden Diagnose – beziehungsweise andersherum? Für mich weiß ich es nicht. Meine Bekannte erzählt mir von ihrem Mann, der sie nach dem ersten Schock liebevoll anschaut und fragt: „Na, wie isst man einen Elefanten?“ Innerlich weiß sie: Stückchen für Stückchen, Bissen für Bissen. Nun sieht sie sich selbst vor ihrem inneren Auge mit Messer und Gabel in der Hand vor ihrem persönlichen Elefanten-Rezidiv und kann bei der Vorstellung sogar lächeln. Natürlich hoffen und beten wir alle, dass sie schafft, was vor ihr liegt. Aber schon jetzt ist klar: Die Diagnose mag noch so niederschmetternd sein – aber sie hat in diesem Leben nicht das letzte Wort.

Mehr als flüchtig

Vor 30 Jahren arbeitete ich in Australien bei verschiedenen Familien. Dabei lernte ich einen jungen Mann kennen: Unser Verhältnis war von Anfang an vertrauensvoll, ehrlich und wohlwollend. Wir verbrachten nicht viel Zeit miteinander und waren doch mehr als nur flüchtige Bekannte. Mit manchen Menschen geht das. Durch Briefe ist der Kontakt nie ganz abgebrochen. Seit einigen Jahren lebt dieser Mann in Deutschland – leider ganz im Süden. Treffen sind schwierig, wir schreiben uns selten und telefonieren gelegentlich. Noch immer ist unser Verhältnis vertrauensvoll, ehrlich und wohlwollend. Wir verbringen nicht viel Zeit miteinander und sind doch mehr als nur flüchtige Bekannte – wie schon vor 30 Jahren. Mit manchen Menschen geht das.