Gewinnen oder verlieren

„Das bessere Argument gewinnt“, lese ich in der Zeitung und stutze. Was lässt sich damit gewinnen?, frage ich mich und: Womit geht am Ende das schlechtere Argument nach Hause? Das Leben ist nur ganz selten einzuteilen in schwarz oder weiß, sondern besteht aus „Schattierungen in grau“.

Im sportlichen Wettkampf spricht man von Sieg oder Niederlage, ebenso bei einer Wahl. Im persönlichen Miteinander dagegen geht es selten darum zu „gewinnen“. Und wenn doch – dann ist „verlieren“ aus meiner Sicht nicht immer die schlechteste Option.

Freundlich

Wir wecken die Kinder während des Home Schoolings. Es dauert unterschiedlich lange, bis sie tatsächlich aufgestanden sind – je nachdem, wer das Wecken übernimmt.

Ich bin freundlich: Trotz mehrmaligen Weckens und eines ernst gemeinten Tonfalls meinerseits dauert es manchmal fast eine Stunde, bis alle nicht nur wach, sondern wirklich aufgestanden sind.

Mein Mann ist auch freundlich, aber anders: Bei ihm sitzen die Kinder nach spätestens einer halben Stunde am Schreibtisch. „Wie hat Papa das geschafft?“, frage ich. Die Kinder schauen mich verwundert an: „Er hat einfach gesagt, wir sollen jetzt sofort aufstehen – aber du weißt schon, seine Stimme hatte diesen ernsten Unterton.“

Häh? Ich bin irritiert. „Du bist einfach zu nett, Mama“, bemerkt tröstend der Jüngste. Ich weiß nicht, ob mich das ermutigt oder frustriert.

Muskeln und Material

Das Wetter ist frühlingshaft warm und sonnig. Es lockt außer mir noch viele andere Radfahrer auf die Straße: Mich überholen mindestens drei Rentner mit Elektro-Fahrrädern – mühelos und uneinholbar zügig.

Ich erinnere mich an einen Triathlon, den ich vor Jahren mitgemacht habe. Während der Radstrecke fuhr ich kurzzeitig in der Nähe eines Mann, der mindestens 20, eher 30 Jahre älter war als ich. Er saß auf einem Rennrad, ich nicht. Die Strecke hatte einige lange Steigungen, dort wechselten wir jedesmal die Positionen: Bergauf fuhr ich unaufhaltsam an ihm vorbei; bergab nahm er mir die Führung ebenso unaufhaltsam wieder ab. Ich konnte damals erst darüber lächeln, als ich ihn dann doch noch hinter mir lassen konnte – viel später auf der abschließenden Laufstrecke.

Danach wusste ich: Das Endergebnis beim Triathlon hat ein bisschen mit Muskeln und eine Menge mit dem „richtigen Material“ zu tun. Mein sportlicher Ehrgeiz ging jedoch nie so weit, dass ich mir für ein besseres Abschneiden ein anderes Fahrrad zugelegt hätte.

Schon längst hat eine „gute Ausrüstung“ den Freizeitbereich erreicht. Ich habe nichts gegen Elektro-Fahrräder. Allerdings sind sie für mich noch immer keine Alternative, meinem Ziel schnell näher zu kommen. Ich investiere lieber in meine Muskeln als in besseres Material – vor allem, da es mir in meiner Freizeit nicht auf Geschwindigkeit ankommt.

Vehemenz

Da ist es wieder, dieses Wort: In einem E-Mail-Austausch schreibt jemand, ich habe „mit all meiner Vehemenz“ reagiert. Da ich den Absender als Menschen schätze und mir an seiner Meinung liegt, bleibt diese Bemerkung hängen. Vehement bedeutet: heftig, ungestüm, leidenschaftlich. Man könnte auch sagen: machtvoll, rücksichtslos, hitzig auffahrend.

Ich habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten lernen müssen, dass ich argumentativ nicht stark bin. Daher halte ich mich in Diskussionen öfter zurück – was mein Mann mit Freude zur Kenntnis nimmt. Kürzlich bescheinigte er mir deswegen, ich sei gemäßigter unterwegs als früher. Dieses „mit all deiner Vehemenz“ fühlt sich daher wie ein Rückschritt an. Falle ich zurück in alte Verhaltensmuster hin zu einem (für das Gegenüber) deutlich spürbaren Willen, Recht zu behalten? Gerade in besagtem E-Mail-Austausch hatte ich meine Meinung nur dargelegt, weil ich nach ihr gefragt wurde. Offenbar ließ sich zwischen den Zeilen neben aller Sach-Information eine gewisse Vehemenz spüren. Das war nicht meine Absicht – und doch kam es so spontan aus mir heraus. Es zeigt mir: Nur vorsichtig (gemäßigt) entspricht nicht meiner Persönlichkeit.

Lässt sich „all meine Vehemenz“ auch positiv verstehen? Wer vehement argumentiert, ist spontan und impulsiv, provoziert vielleicht und bewegt etwas – auch in Diskussionen. Er macht sich angreifbar (oh ja!) und riskiert, übers Ziel hinaus zu schießen. Das ist nicht nur schlecht; es ist auch mutig. Wichtiger ist es, ob ich – bei aller Vehemenz – auch den anderen sehe, ernst nehme und zuhöre. Und dann: Lasse ich mich korrigieren und entschuldige mich (wenn nötig) für die Kollateralschäden, die ich durch meine Vehemenz angerichtet habe?

Ich kann nicht aus meiner Haut und für nichts garantieren. Aber in Zukunft probiere ich es mit gemäßigter Vehemenz!

Gerecht?

Beim Abendbrot fragt ein Sohn, ob er sich gleich anschließend Chicken Nuggets in den Ofen schieben kann. Er liebt alles, was nach Fleisch aussieht und ist dauer-hungrig. Da ich nur noch eine Packung habe, sage ich ja. Zwei Stunden später will eine meiner Töchter sich die letzte Packung Mini-Pizzen in den Ofen schieben. Diesmal sage ich nein.

Das ist nicht gerecht, ich weiß. Mein Mann hätte sich gleich bei der ersten Frage anders entschieden. Ich nicht, denn ich habe die Folgen nicht bis ins Letzte überrissen. Stattddessen habe ich mich aufs Glatteis begeben – und nasse Füße bekommen.

Eine meiner Töchter liebt Obst – Melone, Mango, Drachenfrucht. Meist isst sie auch am meisten davon; die Jungen sind nachmittags selten unten und bekommen nicht genauso viel ab.

Das ist nicht gerecht, ich weiß. Das Leben ist nicht gerecht – und trotzdem kann es sein, dass jeder auf seine Kosten kommt.

Meine Entscheidung

Ich benutze viel das Fahrrad. Ich nehme in Kauf, dass Erledigungen dadurch länger dauern und anstrengender sind. Manche Menschen wundern sich deswegen über mich und verstehen mich nicht. Habe ich etwas gegen Autos? Nein! Ab und zu nehme ich das Auto; aber meist greife ich zum Rad.

Obwohl ich so denke, bin ich weder Auto-Gegner noch Autofahrern gegenüber vorwurfsvoll. Ich entscheide mich nur anders als viele andere Menschen.

Ich würde mich momentan nicht gegen das Corona-Virus impfen lassen. Ich nehme in Kauf, dass eine Covid-19-Erkrankung für mich problematisch werden könnte. Manche Menschen wundern sich deswegen über mich und verstehen mich nicht. Habe ich etwas gegen Impfungen? Nein! Gegen einige Erkrankungen bin ich geimpft; aber gegen das Corona-Virus möchte ich mich zur Zeit nicht impfen lassen.

Obwohl ich so denke, bin ich weder Impfgegner noch Covid-19-Verharmloser – und auch nicht unsozial. Ich entscheide mich nur anders als viele andere Menschen.

Man könnte sagen, dass man beides nicht miteinander vergleichen kann. Ich tue es trotzdem.

Pizza – eine Analyse

Pizza ist eins der Mittagessen mit einer schlechten Aufwand-Nutzen-Bilanz: lange Vorbereitung bei schnellem Verzehr.

Außerdem ist Pizza eins der Mittagessen, bei dem es sehr auf die letzten fünf Minuten ankommt. Eine nur geringfügig zu lange Backzeit beeinträchtigt das Endergebnis unverhältnismäßig stark: Egal wie appetitlich klein geschnippelt und lecker belegt – zu trockener Teig schmälert den Genuss ungemein.

Aber Pizza ist auch eins der Mittagessen, das auf besonders viel Gegenliebe bei allen stößt – und der Köchin das meiste Lob beschert.

Störfaktor

Unsere großen Söhne sind IMMER hungrig: Sie würden sich gern öfter zwischendrin ein paar Nudeln kochen, ein Lachssteak braten oder (mindestens) vier Eier in die Pfanne schlagen. Wir unterbinden derartige Zwischendurch-Kochversuche meistens, empfehlen einen Apfel, ein Brot oder Müsli und verweisen auf die nächste Mahlzeit.

„Es ist so doof, dass ihr immer zu Hause seid“, findet der Älteste. Er ist fast ein bisschen neidisch auf seinen Freund, dessen Eltern den ganzen Tag arbeiten: „Der kann sich immerzu etwas zu essen machen – wann und was er will.“

Ich lächle über die Entwicklung: Anfangs sind präsente Eltern unabdingbar, in den weiteren Jahren wirklich praktisch (als Ansprechpartner und für Wäsche etc.), bei auf dem Papier erwachsenen Kindern phasenweise fast überflüssig, und gleich danach – im Weg. Es ist der Moment erreicht, in dem die Kinder ausziehen sollten …

Nichts?

Auf dem Pullover einer Radfahrerin las ich vor kurzem ein großes „JUST DO“ und darunter ein deutlich kleineres „nothing“. Seitdem denke ich darüber nach, was die Kernaussage ist von diesem „Tu einfach – nichts!“.

Geht es darum, sich Pausen zu erlauben? Will der Spruch gar zum tagesfüllenden Nichtstun motivieren? Ist er eine Provokation, gerichtet an all diejenigen, die andauernd mit irgendetwas beschäftigt sind und sich deshalb vielleicht für ziemlich wichtig halten? Was genau ist denn überhaupt gemeint mit „nothing“? Nichts Bedeutsames, nichts Anstrengendes, nichts, was mit Pflicht zu tun hat – oder wirklich GAR NICHTS?

Wie geht das überhaupt – nichts tun? Ich treffe nicht so viele Menschen, die gut darin sind. Die meisten füllen noch das kleinste bisschen Nichtstun – zum Beispiel mit Musikhören.

Möglicherweise nehme ich derartige Botschaften zu ernst: Vielleicht trägt die Frau den Pulli nur wegen der Farbe und Form und denkt sich dabei – nichts.