Unverblümt

„Wir können uns zum Tee treffen – aber nur für ein Stündchen, möglichst am Nachmittag und erst nächste Woche.“ Das ist meine Antwort auf die Anfrage einer Bekannten. Daraufhin schreibt sie, sie schätze meine unverblümte Ehrlichkeit – und zieht ihre Anfrage zurück. Wenn ich Lust verspüren sollte, könne ich mich ja melden. Sie klingt verletzt, so, als hätte ich – unverblümt ehrlich – geschrieben, dass ich mich nicht treffen möchte. Ich bin verwirrt und antworte (unverblümt ehrlich), dass wir uns treffen können – für ein Stündchen, möglichst am Nachmittag und erst nächste Woche.

Es ist nicht so leicht mit der Ehrlichkeit, sie kann ebenso verletzen wie die Lüge.

Rebellisch?

Mich gegen Anordnungen aufzulehnen, fällt mir schwer; ich tue eher, was man mir sagt. Diese nicht immer hilfreiche Eigenschaft schiebe ich zum Teil auf mein Aufwachsen im Osten der Republik: Dort legte man vor 40 Jahren keinen Wert darauf, Menschen zur kontroversen Mitsprache zu motivieren. Stattdessen galt es, Vorschriften zu befolgen und möglichst nicht zu hinterfragen. In diesem „gesellschaftlichen Klima“ bin ich aufgewachsen – es hat mir nicht nur gut getan. Nach dem Fall der Mauer fühlte ich mich oft belächelt wegen meiner vermeintlichen Obrigkeitshörigkeit.

Seit 30 Jahren lebe ich in einem anderen „gesellschaftlichen Klima“. „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, hat Helmut Schmidt gesagt. Das stimmt und hat Schattenseiten: Im Westen der Republik weiß (und sagt) heute jeder Grundschüler, welche Rechte er hat – und welche seine Lehrerin eben nicht hat. Auch das tut uns nicht nur gut. Vor diesem Rechtsbewusstsein zucke ich innerlich zusammen und frage mich, wie es unsere Gesellschaft langfristig verändern wird. 

Das Corona-Virus bringt es mit sich, dass diese beiden „Klimata“ aufeinanderprallen wie schon lange nicht mehr – und zwar überall in der Republik. Da sind diejenigen, die hinsichtlich der Maßnahmen
kritiklos alles mitmachen, was vorgeschrieben ist;
alles mitmachen und schweigen, obwohl sie nicht alles gutheißen;
alles mitmachen und – in bestimmten Kreisen – ihre Zweifel artikulieren;
nur mitmachen, was ihnen einleuchtet, und sich teilweise widersetzen;
sich gegen alles auflehnen – in Wort und Tat
… und dazwischen noch so einige Abstufungen.

Den meisten von uns fällt es schwer, andere Meinungen zu akzeptieren – denn wir sind von unserer eigenen überzeugt, zumindest im Stillen: Was wir wirklich denken, bleibt unsere Sache; nur was wir tun, sieht jeder. In einer Gesellschaft können wir uns entscheiden zwischen Gehorsam und Ungehorsam. Gehorsam muss manchmal sein, weil die Freiheit des Einzelnen nicht über dem Gemeinwohl stehen darf. Ungehorsam darf manchmal sein, wenn die Freiheit des Einzelnen zu stark eingeengt wird – und sei es zum (vermeintlichen) Wohl der Gemeinschaft.

Eine Mitschülerin meiner Kinder wurde wegen wiederholter „Verstöße gegen die Maskenpflicht“ für eine Woche vom Unterricht suspendiert. Sie musste einmal zu oft dazu aufgefordert werden, ihre Maske auch über die Nase zu ziehen.

Ihr Verhalten lässt sich sehr unterschiedlich „bewerten“: Einige sagen: „Sie ist schlecht erzogen, rebellisch und akzeptiert keine Autorität.“ Andere – wie ich – finden: „Das war kein offener Akt der Rebellion. Ihr fehlt die Einsicht in den Sinn dieser Maßnahme und darum macht sie nur halbherzig mit.“ Ich kann sie gut verstehen – zumal sie genau in dem Alter ist, in dem man hierzulande und heutzutage nicht einfach tut, was einem gesagt wird.

Ohne Hund

Nach dem morgendlichen Familiengewusel und bevor ich mich meinen Aufgaben widme gehe ich oft spazieren. Dabei treffe ich immer einige Menschen auf meiner Runde, wir sind Gleichgesinnte. Dennoch bin ich ein Sonderling: Ich bin eine der wenigen, die ohne Hund unterwegs ist. Wahrscheinlich ist ein Hund ein wundervoller Gefährte, aber mir fehlt keiner – im Gegenteil: Ich bin froh, dass ich in meinem Tempo gehen und mit mir allein sein kann. Hinterher muss ich nur die Wanderschuhe putzen, keine Hundepfoten.

Manchmal bleibe ich spontan, entspannt und guten Gewissens zu Hause. Ohne Hund geht das.

Pizza

Heute kommen alle Kinder mittags gleichzeitig aus der Schule nach Hause. Ich nutze die Gelegenheit und mache Pizza. Hefeteig ansetzen und gehen lassen, Gemüse schnippeln, Käse reiben – es dauert.

Was mich trotzdem motiviert und mit Schwung bei der Sache sein lässt, ist nicht meine Leidenschaft fürs Kochen. Es ist auch nicht der Gedanke daran, wie gesund selbst gemachte Pizza vielleicht ist oder wie gut sie schmeckt. Was mich bei der Stange hält, ist der Gedanke an die heimkommenden Kinder: Sie werden die Tür öffnen und die Nase in die Luft recken; ihre Augen werden sich kurz schließen, und ein sehr zufriedenes Lächeln wird über ihre Gesichter huschen. Die Anstrengung des Vormittages fällt in diesem Moment von ihnen ab – und dann gibt es auch noch Pizza: „Mama, das ist super!“ Ich bin dankbar, dass ich diese Stimmung miterleben und sogar dazu beitragen kann.

Die Wiederbelebung des Briefes

Seit Corona erschallt laut und oft der Ruf nach mehr digitaler Entwicklung – als wäre dies die Lösung für alles. Dabei ist Digitalisierung zwar sicher hilfreich, aber eben kein 100-prozentiger Ersatz für analogen Kontakt: Weder Lehre in Schule oder an der Uni noch das Arbeiten zu Hause funktionieren digital genauso gut wie die tatsächliche Anwesenheit im Unterricht oder im Büro. Das liegt nicht nur an fehlenden Gerätschaften, schwachem Internet, den Kosten oder dem eventuell nicht vorhandenen Know-how: Das Miteinander über Bildschirme hat Grenzen – im Privatleben und ebenso in Schule oder Beruf. Menschen fühlen sich allein, auch wenn sie über ein Handy verfügen und auf diverse Social Media-Dienste zurückgreifen können. Daher initiieren einige Ehrenamtliche in unserer Stadt derzeit Brieffreundschaften. Wer will, darf mitmachen und Patienten im Krankenhaus oder auch allein lebenden Menschen Briefe schreiben.

Ich finde das großartig und hoffe, es wird nicht nur ein kurzes Aufflackern: Corona kann verschwinden, der Brief darf bleiben!

Der Teller und sein Rand

Seit kurzer Zeit lese ich zusätzlich zu unserer Tageszeitung eine Wochenzeitung. Die Artikel behandeln zum Teil dieselben Themen – und dennoch ist es keine „doppelte“ Lektüre: Die Tageszeitung vermittelt mir ein Bild der momentanen Lage – und lässt wenig Raum für Interpretation. Die Wochenzeitung dagegen präsentiert die Weltsituation eher aus verschiedenen Perspektiven; eine Meinung muss ich mir dann schon selbst bilden.

Ich finde es ein bisschen anstrengend, mich mit unterschiedlichen Blickrichtungen auseinanderzusetzen – die alle gleichermaßen plausibel sind. Meine eigene Position zu finden, wird dadurch nicht leichter. Auch „gefallen“ mir manche Denkweisen nicht, die von meiner eigenen klar abweichen – egal wie gut sie formuliert sind. Trotzdem fühlt sich das Lesen dieser Wochenzeitung an wie eine Befreiung: Die Welt ist in jeder Hinsicht komplexer, als unsere Tageszeitung mich vermuten lässt. Das nennt man wohl „über den Tellerrand schauen“.

Nicht einfach nur Kartoffeln

Die Kartoffeln, die ich kürzlich bei meiner Freundin gekauft habe, sind ziemlich klein – sozusagen mundgerecht gewachsen. Das Schälen hat mindestens doppelt so lange gedauert wie normalerweise. Wenn der Spruch über die „dümmsten Bauern“ mit den „dicksten Kartoffeln“ stimmte, wären meine Freundin und ihr Mann sehr schlau. Wie ich aber erfahren habe, ist der Grund für die kleinen Kartoffeln ein anderer: Schuld ist das Reh, das sich an den Kartoffelpflanzen gütlich tat, als die Kartoffeln noch im Wachsen waren.

„Schlaues Reh“, denke ich: Wenn ich Reh wäre, würde ich auch die Kartoffelpflanzen dieser Bauern anknabbern. Sie wirtschaften konventionell und nachhaltig; sie pflanzen Blühstreifen um ihre Felder herum, beachten vernünftige Fruchtfolgen, ihre Kühe haben Namen – und werden dementsprechend würdevoll behandelt. All das verbindet ja heutzutage keiner mehr mit Landwirtschaft. Stattdessen sind Landwirte verschrien als diejenigen, die mit riesigen Traktoren über ihre Felder (oder durch die Straßen) heizen oder durch ihre ausgedehnten Bewässerungsaktionen den Grundwasserspiegel gefährlich absenken. Bauern von heute stellen Biogasanlagen in die Landschaft, überdüngen die Äcker und kümmern sich wenig bis gar nicht um die Natur, die sie mit ihrer „modernen Landwirtschaft“ verschandeln.

Nicht so meine Freundin und ihr Mann: Sie beackern und versorgen fleißig und mit Augenmaß ihr Land und ihre Tiere – und bekommen noch mit, wenn ein Reh sich bei ihnen bedient. Sie sind schlau, denn sie wissen: Langfristig hängt ihre Existenz davon ab, dass sie sorgsam umgehen mit dem, was ihnen anvertraut ist. Ihre Kartoffeln sind ausgesprochen lecker, nur manche von ihnen ziemlich klein und nicht normgerecht. Dafür ist wahrscheinlich ein Reh satt durch den Spätsommer gekommen – wie schön!

Von spannend zu entspannend

Es ist großartig, etwas Neues zu lernen; es ist ebenso großartig, etwas schon lange zu können und mit großer Routine zu praktizieren. Jede Erfahrung hat ihre eigene Schönheit – zu ihrer Zeit.

Autofahren ist spannend und aufregend, wenn man es zum ersten Mal macht – und herrlich entspannend, wenn man nach über 30 Jahren ganz unaufgeregt am Steuer sitzt. Ich weiß nicht, welches das schönere Gefühl ist.

Nicht durch mich

„Der Segen des Herrn allein macht reich, und nichts tut eigene Mühe hinzu.“
Sprüche 10, 22

Am Wochenende sah ich unseren Ältesten Fußball spielen, nur kurz – mit meinem Jüngsten, im Wohnzimmer. Der Große ist doppelt so schwer wie der Kleine und hätte diesen fast überrannt, aber natürlich hat er es nicht getan. Stattdessen: viel Gelächter. In den vergangenen 19 Jahren ist aus diesem ehemaligen Baby ein junger Mann geworden – und ganz viel davon, was ich heute in ihm sehe, hat er nicht uns zu verdanken. 

Natürlich habe ich ihn geboren, gefüttert und ihm alles mögliche beigebracht etc. Aber seine äußere Erscheinung, der Kern seiner Persönlichkeit und was ihm in seinem Leben bisher alles passiert (und nicht passiert) ist, sind Gottes Geschenke an ihn – und uns. Wir als Eltern haben ihn begleitet, ja, aber letztlich haben wir nur gefördert und ermutigt, was schon da war: Er ist gesund und belastbar, initiativ und impulsiv, lernfähig und gesprächig, außerdem zuverlässig und treu, freundlich und in der Lage, Rücksicht zu nehmen. Er kann sich freuen und bedanken, andere trösten und bei Bedarf in den Arm nehmen. Manchmal ist er zu laut, stur und was weiß ich – gehört alles zu ihm und ist nicht mein Verdienst …

„Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst.“
Psalm 127, 1

Nicht systemrelevant?

Von Konfuzius stammt: „Wenn die Familie in Ordnung ist, wird der Staat in Ordnung sein; wenn der Staat in Ordnung ist, wird die große Gemeinschaft der Menschen in Frieden leben.“

Ich produziere keine lebensnotwendigen Güter und bin nicht im Gesundheitssystem tätig. Ich verkaufe nichts – und verdiene nicht das Geld, das wir zum Leben brauchen. (Nicht einmal Kunst ist mein Metier.) Ich bin offenbar nicht systemrelevant, aber trotzdem wichtig – wenn auch nur für meine Familie …