Wenn die wüssten!

Manche meiner Ansichten sind für andere wahrscheinlich nur schwer nachvollziehbar. Umgekehrt gilt das sicher ebenso. Bei manchen Themen halte ich mich daher bewusst zurück – vor allem wenn mein Gegenüber sehr überzeugt wirkt. Innerlich lächelnd denke ich dann: Wenn der/die wüsste, welche Position ich habe!

Ich halte zum Beispiel nichts vom Gendern in der Sprache, das kann ich ganz pauschal so sagen: Ich fühle mich als Frau damit nicht besser repräsentiert und finde `Gendersprache´ weder geschrieben noch gesprochen attraktiv oder einen Gewinn. Dabei weiß ich, dass Sprache sich weiterentwickelt – und ich eine Menge davon wahrscheinlich `mitmache´, ohne es zu merken. Was mich aber stört, ist die Vehemenz, mit der Sprache heutzutage in eine geschlechtsneutrale Form gezwungen wird: Sternchen zu schreiben oder mit Gender-Pause zu sprechen ist (in bestimmten Kreisen) `längst überfällig´ und gehört zum guten Ton; es MUSS quasi so sein. Eine davon abweichende Sicht gilt leicht als rückschrittlich, wenn nicht sogar arrogant oder diskriminierend – und wird nur schwer toleriert.

Ein anderes Beispiel ist die Diskussion über das Gedicht von Amanda Gorman, einer schwarzen Amerikanerin, das diese zur Amtseinführung von Joe Biden vortrug. Als es ins Deutsche übersetzt werden sollte, `durfte´ das kein weißer Mann tun. Stattdessen suchte man dafür eine Frau – sie sollte möglichst noch in anderer Hinsicht eine Minderheit repräsentieren. Letztlich übernahmen drei Frauen den Auftrag. Ob das die Übersetzung besser gemacht hat – wer weiß es? Wir werden es nie herausfinden, es ist auch nicht (mehr) wichtig. Mich hat das irritiert: Einem weißen Mann wird von vornherein unterstellt, er könne die Worte (und Gefühle, Gedanken) einer schwarzen Frau nicht angemessen übersetzen. Eine solche Sichtweise ist mir zu eng. Zum einen kann nur Amanda Gorman selbst sagen, was sie mit ihrem Gedicht genau meinte – und was vielleicht auch einfach nur gut klang. Zum anderen gehören zu einem Text immer zwei: Autor und Leser. Ich schätze, selbst Amerikaner verstehen das Gedicht unterschiedlich. 300 Millionen Menschen haben nicht denselben Erfahrungs-, Bildungs- und Ideologie-Hintergrund. Wie viel schwieriger ist es für Nicht-Amerikaner, verwendete Metaphern und Bezüge richtig einzuordnen – selbst wenn sie formal korrekt übersetzt sind? Und zum dritten bin ich sicher, dass eine Übersetzung IMMER das Original verändert: Die perfekte gemeinsame Schnittmenge zwischen Autor und Übersetzer existiert nicht. Man kann sich um sie bemühen – klar; aber dabei sind äußere Merkmale nur ein Aspekt. Sprachgefühl, fachliches Können, Erfahrung und die Bereitschaft, einen Text zu durchdringen und verständlich in eine andere Sprache zu übertragen, sind mindestens ebenso wichtig – und haben wenig mit Geschlecht oder Hautfarbe zu tun. 

Drittes Beispiel: Die SPD hat ihre Ministerposten fast paritätisch mit Frauen und Männern besetzt. Ich finde das nicht grundsätzlich gut oder schlecht. Es stimmt, dass Männer in der Vergangenheit dominant vertreten waren in: Literatur, Musik, Politik, Kirchengeschichte. Frauen kümmerten sich hauptsächlich um Aufgaben im Haushalt und der Kindererziehung. Ich finde, beide Bereiche sind gleich wichtig für das menschliche Miteinander. Wer was machte, ergab sich auch aus unterschiedlichen Gaben und Interessen. Diese haben durchaus etwas mit dem Geschlecht zu tun – und sind nicht nur ein Konstrukt patriarchalischer Strukturen. Hilft uns eine Quote, damit alles gleichberechtigt zugeht? Ich bezweifle es – fürchte aber, damit anzuecken.

Unterschiedliche Positionen an sich sind kein Problem, wenn sie mich auch manchmal herausfordern. Schwierig wird es, wenn Intoleranz und Ausschließlichkeit ins Spiel kommen. Diese sind keine gute Gesprächsgrundlage; den Diskurs empfinde ich dann als anstrengend und (nicht nur ein bisschen) verlogen. Wir KENNEN alle nur unsere ganz persönliche Wahrheit. Jeder von uns bringt seine Geschichte mit, seine Prägung und seinen sehr begrenzten Einblick. Solange das jedem klar ist, bin ich weiter gern mit Menschen zusammen, die anderer Meinung sind. Bei manchen Themen halte ich mich aber bewusst zurück – vor allem wenn mein Gegenüber sehr überzeugt wirkt. Innerlich lächelnd denke ich dann: Wenn der/die wüsste, welche Position ich habe!

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