Das Wissen, meine Meinung

Es scheint zum guten Ton zu gehören, immerzu und über alles Mögliche informiert zu sein: Dazu lesen wir Zeitung (auf Papier oder im Internet), hören Radio und schauen Nachrichten im Fernsehen. Manche gönnen sich nicht einmal im Urlaub eine Pause davon. Am Ende jedes Tages meinen wir, eine Menge zu wissen – und bilden uns eine Meinung. Aber jemand mit genau denselben Informationen kann komplett andere Schlüsse ziehen! Grund ist der sehr subjektive Bezugsrahmen jedes Menschen, das eigene Wertesystem, in das wir alle Informationen einpassen – vor allem unbewusst.

Am regelmäßigsten lese ich in der Bibel: investiere also in meine Werte. Hinsichtlich der weltweiten Nachrichten informiere ich mich dagegen vergleichsweise mäßig und erlaube mir trotzdem meine ganz persönliche Einstellung. Ich schätze, auch ein Mehr an Wissen sorgt nicht notwendigerweise für mehr Objektivität – und schon gar nicht für mehr Lebensschläue. Denn wie heißt es so schön? Wissen schützt vor Torheit nicht!

Wenn die wüssten!

Manche meiner Ansichten sind für andere wahrscheinlich nur schwer nachvollziehbar. Umgekehrt gilt das sicher ebenso. Bei manchen Themen halte ich mich daher bewusst zurück – vor allem wenn mein Gegenüber sehr überzeugt wirkt. Innerlich lächelnd denke ich dann: Wenn der/die wüsste, welche Position ich habe!

Ich halte zum Beispiel nichts vom Gendern in der Sprache, das kann ich ganz pauschal so sagen: Ich fühle mich als Frau damit nicht besser repräsentiert und finde `Gendersprache´ weder geschrieben noch gesprochen attraktiv oder einen Gewinn. Dabei weiß ich, dass Sprache sich weiterentwickelt – und ich eine Menge davon wahrscheinlich `mitmache´, ohne es zu merken. Was mich aber stört, ist die Vehemenz, mit der Sprache heutzutage in eine geschlechtsneutrale Form gezwungen wird: Sternchen zu schreiben oder mit Gender-Pause zu sprechen ist (in bestimmten Kreisen) `längst überfällig´ und gehört zum guten Ton; es MUSS quasi so sein. Eine davon abweichende Sicht gilt leicht als rückschrittlich, wenn nicht sogar arrogant oder diskriminierend – und wird nur schwer toleriert.

Ein anderes Beispiel ist die Diskussion über das Gedicht von Amanda Gorman, einer schwarzen Amerikanerin, das diese zur Amtseinführung von Joe Biden vortrug. Als es ins Deutsche übersetzt werden sollte, `durfte´ das kein weißer Mann tun. Stattdessen suchte man dafür eine Frau – sie sollte möglichst noch in anderer Hinsicht eine Minderheit repräsentieren. Letztlich übernahmen drei Frauen den Auftrag. Ob das die Übersetzung besser gemacht hat – wer weiß es? Wir werden es nie herausfinden, es ist auch nicht (mehr) wichtig. Mich hat das irritiert: Einem weißen Mann wird von vornherein unterstellt, er könne die Worte (und Gefühle, Gedanken) einer schwarzen Frau nicht angemessen übersetzen. Eine solche Sichtweise ist mir zu eng. Zum einen kann nur Amanda Gorman selbst sagen, was sie mit ihrem Gedicht genau meinte – und was vielleicht auch einfach nur gut klang. Zum anderen gehören zu einem Text immer zwei: Autor und Leser. Ich schätze, selbst Amerikaner verstehen das Gedicht unterschiedlich. 300 Millionen Menschen haben nicht denselben Erfahrungs-, Bildungs- und Ideologie-Hintergrund. Wie viel schwieriger ist es für Nicht-Amerikaner, verwendete Metaphern und Bezüge richtig einzuordnen – selbst wenn sie formal korrekt übersetzt sind? Und zum dritten bin ich sicher, dass eine Übersetzung IMMER das Original verändert: Die perfekte gemeinsame Schnittmenge zwischen Autor und Übersetzer existiert nicht. Man kann sich um sie bemühen – klar; aber dabei sind äußere Merkmale nur ein Aspekt. Sprachgefühl, fachliches Können, Erfahrung und die Bereitschaft, einen Text zu durchdringen und verständlich in eine andere Sprache zu übertragen, sind mindestens ebenso wichtig – und haben wenig mit Geschlecht oder Hautfarbe zu tun. 

Drittes Beispiel: Die SPD hat ihre Ministerposten fast paritätisch mit Frauen und Männern besetzt. Ich finde das nicht grundsätzlich gut oder schlecht. Es stimmt, dass Männer in der Vergangenheit dominant vertreten waren in: Literatur, Musik, Politik, Kirchengeschichte. Frauen kümmerten sich hauptsächlich um Aufgaben im Haushalt und der Kindererziehung. Ich finde, beide Bereiche sind gleich wichtig für das menschliche Miteinander. Wer was machte, ergab sich auch aus unterschiedlichen Gaben und Interessen. Diese haben durchaus etwas mit dem Geschlecht zu tun – und sind nicht nur ein Konstrukt patriarchalischer Strukturen. Hilft uns eine Quote, damit alles gleichberechtigt zugeht? Ich bezweifle es – fürchte aber, damit anzuecken.

Unterschiedliche Positionen an sich sind kein Problem, wenn sie mich auch manchmal herausfordern. Schwierig wird es, wenn Intoleranz und Ausschließlichkeit ins Spiel kommen. Diese sind keine gute Gesprächsgrundlage; den Diskurs empfinde ich dann als anstrengend und (nicht nur ein bisschen) verlogen. Wir KENNEN alle nur unsere ganz persönliche Wahrheit. Jeder von uns bringt seine Geschichte mit, seine Prägung und seinen sehr begrenzten Einblick. Solange das jedem klar ist, bin ich weiter gern mit Menschen zusammen, die anderer Meinung sind. Bei manchen Themen halte ich mich aber bewusst zurück – vor allem wenn mein Gegenüber sehr überzeugt wirkt. Innerlich lächelnd denke ich dann: Wenn der/die wüsste, welche Position ich habe!

Meine Meinung

In unserer Tages-Zeitung steht ein Artikel eines Journalisten, der schimpft. Er reagiert auf Künstler, die mittels satirischer Videos die Corona-Maßnahmen aufs Korn genommen haben. Seine Sätze sind scharf und verurteilend, der Tenor des Textes lautet: „Wie können die nur!“ Leider kritisiert der Autor weniger den Inhalt der Video-Clips, sondern vor allem andere Aspekte, die meiner Meinung nach wenig mit der Sache zu tun haben:

Er bemängelt, dass die beteiligten Künstler zu den besser verdienenden gehören, die sogar während dieser Corona-Zeit arbeiten können. Ich denke, das tut nichts zur Sache: Ich darf Missverhältnisse anprangern, unter denen ich selbst nicht am meisten leide. Ich sollte es sogar tun, wenn ich eine starke Stimme in der Gesellschaft habe. Das nennt man Solidarität.

Zudem kritisiert er, dass die beteiligten Künstler Applaus auch von der AfD bekommen. Das ist unglücklich, aber ich denke trotzdem, das tut nichts zur Sache: Ich darf eine Meinung vertreten, egal ob sie jemand teilt oder gutheißt, dem der Großteil der Gesellschaft mit Skepsis begegnet. Ich halte das für Meinungsfreiheit. Jegliche Form von „Sippenhaft“ empfinde ich als unsachlich. (Ich darf die betreffenden Beiträge ja auch gut finden, ohne automatisch für rechts- oder anderweitig radikal gehalten zu werden. Oder?)

Schließlich wirft der Autor den Künstlern vor, dass sie ihre Äußerungen in Satire verpacken. Vielleicht war es auch als Ironie gemeint. Ich denke, das tut nichts zur Sache: Zwar kann man Ironie missverstehen; aber wir haben keine allgemein gültige Instanz, die entscheidet, welches Stilmittel in welchem Fall angemessen ist und welches nicht. Wer die derzeitigen Maßnahmen (wie ironisch auch immer) in Frage stellt, ist nicht automatisch ein Covid-19-Leugner! Es kann nicht sein, dass das einzig akzeptierte Argument die bisher 80.000 Toten sind: Viele Tausende in unserem Land leiden derzeit eher unter den Maßnahmen als unter der Erkrankung selbst. Die Ironie der Künstler richtet sich gerade nicht an die Corona-Opfer, sondern an die politisch Verantwortlichen.

Es heißt in dem Artikel außerdem, der zynische Unterton sei ein Affront für all die erschöpften Pfleger und Ärzte und wirke wie Hohn auf die Angehörigen der Toten. Keiner spricht von einem Affront oder Hohn angesichts von Einschränkungen, wenn er dabei an Kinder denkt, die seit Monaten nicht beschult werden oder gemeinsam Sport treiben dürfen. Oder an Studierende, die ihre Uni noch nie von innen gesehen haben und allein vor ihren Laptops sitzen. Oder an Menschen, die mit dem Home Office nicht zurecht kommen, weil persönliche Kontakte auf der Arbeit fehlen. Oder an selbstständige Künstler, ob sie nun zur Kultur-Elite in unserem Land gehören oder nicht. All diese sollen noch ein bisschen durchhalten – oder sie werden als Egoisten beschimpft, wenn sie sich ebenso am Ende ihrer Kraft wähnen.

Es ist gut, dass der Autor seine Meinung klar äußert, das ist glücklicherweise möglich in einer Demokratie. Leider empfinde ich ihn dabei als verurteilend: Er lässt mir als Leser wenig Raum für meine (vielleicht abweichende) Meinung – es sei denn, ich möchte ebenso in einer Schublade landen wie die an der Aktion beteiligten Künstler selbst. Dabei haben diese lediglich auf Missverhältnisse aufmerksam gemacht und kritisch ihre Meinung geäußert. Warum sollten sie das weniger dürfen als der Journalist in unserer Tageszeitung?

Ich gebe den Künstlern in der Sache jedenfalls recht (und tue es mit zitternden Knien): Wir alle sind betroffen von Corona und den Maßnahmen – der eine so, der andere so. Nicht jede der Maßnahmen ist nachvollziehbar, und nicht jeder in unserem Land empfindet sie als verhältnismäßig. Die derzeitige Lage kann eine Elendserfahrung sein – auch für Menschen, die keine Toten zu beklagen haben. Das darf jeder sagen in unserem Land, ohne sich anschließend dafür entschuldigen zu müssen. Wir sollten das wieder aushalten lernen.

Wunderbare Vielfalt

In unserer Tageszeitung sind zwei Leserbriefe zu den Corona-Maßnahmen im November abgedruckt – sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine Schreiber empfindet diese als zunehmend unerträglich und unschön hinsichtlich der persönlichen Freiheit. Dem anderen reichen die Maßnahmen nicht weit genug: Er fordert deutlich drastischere Einschnitte – nämlich zwei Wochen radikale häusliche Abschottung, medizinische Notversorgung und einen Lieferdienst für Lebensmittel durch Einsatztrupps.

Egal, was ich von beiden Briefen halte: Sie offenbaren den tiefen Graben, den das Virus in unserer Gesellschaft ausgehoben hat. Ich frage mich, wie wir ihn wieder schließen können und dabei trotzdem gut und respektvoll miteinander umgehen. Meinungsvielfalt ist großartig – und anstrengend. Wir müssen sie wahrnehmen, aushalten und für ein gutes Miteinander nutzen. Dabei können wir uns wunderbar ergänzen oder herrlich streiten; der Ton (in der Auseinandersetzung) macht die Musik (des gemeinsamen Kompromisses). Demokratisches Verhalten ist nicht den Politikern vorbehalten. Es fängt nicht erst in Ämtern oder Parlamenten an, sondern direkt in meiner Nachbarschaft.

Nur meine Meinung: Der Mundschutz

Immer mehr Menschen begegnen mir mit Mundschutz. Menschen kaufen ein – und tragen einen Mundschutz; andere stehen in der Apotheke oder in Geschäften hinter einer Plexiglasscheibe – und tragen einen Mundschutz. Bin ich ignorant und unvorsichtig, weil ich keinen trage? Für mich ergibt das Tragen eines Mundschutzes keinen Sinn: Das Einzige, das dafür spräche, wäre, wenn ich bereits an Covid-19 erkrankt wäre und die Quarantäne verlassen müsste. Ich weiß es natürlich nicht sicher, gehe aber begründet davon aus, dass ich momentan gesund bin – sonst würde ich nicht aus dem Haus gehen. Ich habe keinerlei Symptome; mein persönlicher menschlicher Radius beschränkt sich auf sehr wenige Personen. Keine von ihnen war in Krisengebieten unterwegs oder in Kontakt mit Reisenden, alle wirken ebenso gesund wie ich.

Andersherum ist es nicht mein erstes und erklärtes Ziel, mich nur ja nicht anzustecken. Ja, ich weiß: das Corona-Virus verursacht keinen harmlosen Schnupfen. Ich weiß aber auch, dass wir nicht für alle 80 Millionen Deutschen in absehbarer Zeit einen funktionierenden Impfstoff haben werden. Wir sind auf den durch eine durchgemachte Infektion erworbenen Immunschutz von einigen Millionen Deutschen angewiesen. Ich gehöre nicht zu einer Risikogruppe; ich halte mich im Gegenteil eher dem Teil der Bevölkerung zugehörig, der sich letztlich anstecken und möglichst gegen den Erreger immun werden muss.

Daher existiert in mir eine gewisse Skepsis zum Thema Mundschutz: Die suggerierte Sicherheit empfinde ich als unrealistisch – auch einige Virologen halten Abstand für einen wirkungsvolleren Schutz. Bisher überzeugen mich die Argumente nicht. Solange ich nicht infiziert bin und es nicht verpflichtend wird, werde ich keinen Mundschutz tragen. Das ist nicht unfreundlich von mir, unvorsichtig, ignorant oder gar fahrlässig; es ist nur meine Meinung. Und die darf ich in diesem Land haben, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen. Wie schön!