Vor uns

In der Zeitung lese ich einen Kommentar: „Die digitale Revolution ist eine Revolution wie keine vor ihr. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg ist nichts dagegen. Ähnliches gilt für die Erfindung des Automobils. Die Digitalisierung mit der Künstlichen Intelligenz als Krönung umfasst sämtliche Lebensbereiche.“ Zunächst kann ich nicht konkret benennen, was an diesen Worten so ungeheuerlich klingt – aber in mir schreit es förmlich: Welch eine Arroganz!

Ein paar Tage später sehe ich ein kurzes Video, in dem sich ein junger Amerikaner über Christoph Kolumbus ereifert. Dieser habe zwar Amerika entdeckt, aber dabei ganze Stämme ausgerottet, unterdrückt oder versklavt. Das sei verwerflich und er selbst sowie seine Errungenschaften daher abzulehnen. Ähnlich bewerten wir Deutschen von unserem heutigen Standpunkt aus Martin Luthers Judenschriften, Hitlers willige Vollstrecker, die Mitläufer in der ehemaligen DDR etc. … Zu all den Gestalten der Vergangenheit und ihren Taten kann man geteilter Meinung sein; keine davon wird ihnen in Gänze gerecht. In besagtem Video reagierte ein nicht mehr ganz so junger Amerikaner auf die Anschuldigungen gegenüber Christopher Kolumbus. Unter anderem sagte er einen Satz: nämlich dass die heute Geborenen auf seinen Schultern stehen würden – wer weiß, wo Amerika heute stände, wäre Kolumbus nicht ins Ungewisse aufgebrochen. Ohne all die schlauen, wagemutigen, neugierigen, entschlossenen … Menschen vor uns, wären wir nicht da, wo wir heute sind.

Man kann die digitale Entwicklung als Revolution bezeichnen oder nicht; man mag sogar von ihr denken, sie sei wie keine vor ihr. Sicher ist: Sie wäre nicht möglich ohne all die revolutionären Entwicklungen vor ihr. Dass wir heute so leben können, wie wir es tun, verdanken wir Generationen von Menschen vor uns. Diese haben zum Teil Großartiges bewirkt – unter deutlich größeren Opfern, als die digitale Weiterentwicklung sie uns heute abverlangt. Es täte uns gut, das einerseits nicht zu vergessen und andererseits respektvoll und wertschätzend an die zu denken, auf deren Schultern wir stehen.

Entdecke mehr von mehr.klartext-schreiben

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen