Ich lagere einiges im Keller: Nudeln, Reis, passierte Tomaten, Öl, Toilettenpapier …: verschiedene Vorräte, die man im Fall von Hunger oder Putzwut gut gebrauchen kann. Normalerweise habe ich einen super Überblick über das, was noch da ist, und das, was ich auffüllen muss. In letzter Zeit kaufe ich manchmal eine Sache zu oft – und vergesse dafür eine andere. Es liegt nicht an meinem nachlassenden Gedächtnis, sondern an der zunehmenden Freundlichkeit meiner Familie: Neuerdings packt nämlich fast immer jemand mit an, meine Einkaufsbeute zu verstauen. Die zusätzlichen helfenden Hände dezimieren meinen bislang guten Überblick. Es hat eben alles zwei Seiten; ich finde, der Gewinn überwiegt den Verlust bei weitem.
Weniger ist kein Verlust
In der Gemeinde fällt die Technik aus, direkt vor dem ersten Lied: E-Gitarre, Schlagzeug, Bass, Mikrofone – alles ohne `Saft´. Da der Liedtext schon angeschlagen und das Lied wohl bekannt ist, fangen wir ohne Unterstützung von vorn an zu singen. Das Ergebnis klingt vollmundig und kraftvoll – wunderbar.
Nach der zweiten Strophe ist das Problem behoben und der Strom fließt wieder. Der Gemeindegesang tritt in den Hintergrund; vordergründig spielt und hört man die Band – auch wunderbar, aber anders. Schade, denke ich, in diesem Fall war weniger (von vorn) mehr (von uns). Manchmal bewirkt der Ausfall von Technik keinen Verlust.
Anderer Fokus
Ein Freund meines Mannes hat spät Kinder bekommen; das älteste ist acht Jahre, das Jüngste drei Monate alt. Als er noch Single (und kinderlos) war, fielen mir bei ihm unter anderem zwei Eigenschaften auf: Aufgrund einer chronischen Darmerkrankung aß er bewusst langsam und kaute sehr intensiv. Zum anderen erzählte er äußerst ausführlich – die Telefonate zwischen ihm und meinem Mann dauerten oft zwei Stunden. Seit acht Jahren ist beides vorbei. Er isst schneller und fasst sich am Telefon kürzer – oft unvermittelt, weil die Kinder seine Aufmerksamkeit brauchen.
Mich wundert das nicht; ich glaube, dass nichts unser Leben so eindrücklich verändert wie Kinder. Manches, was uns als Kinderlosen wichtig war, gehört für Eltern der Vergangenheit an: Nur die uns besonders wichtigen Dinge pflegen wir auch in einem von Kindern dominierten Alltag. Das fühlt sich manchmal wie ein Verlust an – einerseits.
Andererseits können wir das Leben auch so betrachten wie die junge Frau, mit der ich kürzlich telefonierte. Ihre vier kleinen Kinder sind seit Wochen abwechselnd krank: Magen-Darm, grippale Infekte. In unserem Gespräch war sie trotzdem vor allem dankbar: „Ich bin so froh, dass ich zu Hause sein kann. Früher habe ich die beiden Großen oft zu früh wieder in die Schule geschickt, um wieder arbeiten gehen zu können. Heute empfinde ich mein Zuhause-Sein als Privileg – und die Kinder können sich richtig auskurieren.“ Es ist nicht der Verlust der Arbeitsstelle und Selbstbestimmung, der ihr Denken dominiert. Stattdessen freut sie sich über den neuen Fokus, den ihr Leben durch die Kinder bekommen hat. Ich bin mir sicher, dass diese Anpassungsfähigkeit ihr auch an anderer Stelle helfen wird.
Kein Verlust
Der Buchsbaum-Zünsler ist wieder da: Mit frischer Energie widmet er sich unseren Buchsbäumen – zwei Wochen nach einer Spritzbehandlung sind die Raupen zwar noch klein, aber quicklebendig. Außerdem sehen die Pflanzen nicht gut aus: Will ich mir die kahl gefressenen Zweige wirklich ein weiteres Jahr anschauen? Ich zögere; aber die Aussicht auf monatliche Spritz-Aktionen überzeugt mich. Kurz entschlossen entscheide ich, nur um die Buchs-Hecke zu kämpfen. Alle freistehenden Buchsbäume schneide ich ab, häcksele sie und stopfe das Zeug in Säcke. Um die Wurzeln kann sich gelegentlich mein Mann kümmern. Interessanterweise sieht der Garten hinterher überhaupt nicht leer aus – im Gegenteil: Es ist wirklich auch sehr schön ohne (halb aufgefressene und dilettantisch zurückgestutzte) Buchsbäume.
Kein Verlust
Eines unserer Kaninchen – Lotta – wurde im Sommer langsam blind und in den letzten Wochen zusehends dünner und schlapper. Letzte Woche lag sie tot im Stall; wahrscheinlich starb sie an Altersschwäche. Für uns war ihr Tod kein schwerwiegender Verlust. Unser zweites Kaninchen dagegen, Rudi, tat uns sehr leid: Schon vor einigen Jahren starb seine erste Partnerin – Emma. Damals blieb er längere Zeit allein, das sollte sich nicht wiederholen. Ein anderer Kaninchenhalter in unserer Nähe hatte Platz und Mitgefühl: Jetzt wohnt Rudi dort.
So hart es klingt: Die Kaninchen selbst fehlen uns nicht, auch wenn wir fast acht Jahre lang welche hatten. Von manchem über die Jahre antrainierten Reflex jedoch werde ich mich erst mit der Zeit verabschieden: `Ist Grünzeug für `die Hasen´ da, brauchen wir neues Heu? Muss der Stall saubergemacht werden? Passt das Wetter, so dass die Nager auf die Wiese können?´ Irgendwann werden auch diese Gedanken nicht mehr durch meinen Kopf schießen – und ich werde nichts vermissen. Alles hat seine Zeit.
Verlust
In der Fußgängerzone unserer Stadt ist es weihnachtlich geschmückt, aber die Straßen sind leer. Klar – der Einzelhandel hat noch zwei Wochen geschlossen, Lebensmittelläden gibt es nicht viele. Anstelle des normalen Weihnachtsmarktes steht auf einem Platz ein riesiger beleuchteter Tannenbaum und daneben ein einsamer Verkaufswagen für Lebkuchenherzen mit Text. Besucher gibt es so gut wie keine. Anstelle von Weihnachtskonzerten hören wir zu Hause Musik; sogar Gottesdienste stehen zur Disposition oder finden tatsächlich nicht statt – laut einiger Journalisten „aus Verantwortung und Nächstenliebe“.
Ich lege keinen Wert auf volle Straßen und Gedränge am Jahresende. Der Verzicht auf Glühwein, Zuckerstangen, gebrannte Mandeln und Schmalzgebäck ist für mich leicht zu verschmerzen. Die Hektik in den Straßen um Weihnachten herum regt mich eher auf – auch wenn ich selbst manchmal dazu beitrage. Und nicht alle Konzerte oder Weihnachtsfeiern sind nach meinem Geschmack. Dennoch: Manches reden wir uns schön – und tun so, als würde aus jedem gestrichenen Programm mehr Zeit für Besinnung und Familie. Aber es ist doch auch traurig, dass nichts öffentlich stattfinden kann! Die Leere in der Stadt wirkt trostlos – dabei ist sie nur ein kleiner Teil dessen, was anders ist. Der größte Verlust spielt sich hinter den Fassaden der geschlossenen Geschäfte und Kulturzentren ab; schwierig ist es vor allem für Marktbeschicker, nicht für die Besucher. Und einiges davon, was heute verschwindet, werden wir erst später betrauern.
Gewinn oder Verlust?
Jugendliche sind heute im Schnitt täglich x Stunden mit digitalen Medien beschäftigt. Dort treffen sie ihre Freunde – bestenfalls – oder zocken sich durch die Nachmittage und Abende. Pausen kommen nicht vor oder werden durch virtuelle Begegnungen gefüllt. Viele Jugendliche heute sind immer beschäftigt und die Zeit vergeht.
Ich habe mich früher auch mit Freunden getroffen – analog und nicht täglich mehrere Stunden. Alternativ habe ich gelesen oder nachgedacht, aber ich war auch allein und habe gar nichts getan. Ich war nicht immer beschäftigt und die Zeit verging.
Tendenziell haben wir Beschäftigung gewonnen und Leere verloren. Ob sich das unterm Strich wie Gewinn oder Verlust anfühlt, muss wohl jeder selbst entscheiden.
Verlust
Auf einer Postkarte, die ich mittlerweile verschickt habe, stand der Vers: „Die Furcht vor Verlust ein Pfad zur dunklen Seite ist.“ Dazu ein Bild von Yoda, DEM Jedi-Master aus Starwars.
Ich bin kein Fan von „Krieg der Sterne“, ich blicke überhaupt nicht durch. Nur ein paar Namen sind mir im Laufe der Jahre durch meine Söhne immer wieder begegnet – und ich kann sie normalerweise den Guten oder Bösen zuordnen. Yoda verkörpert die Weisheit der Guten und die Macht. Wenn man das überhaupt in einem Satz sagen kann und darf.
Yoda ist so weise, dass ich ihn kaum verstehe: Auch dieser Ausspruch über die Furcht vor Verlust ist mir ein Rätsel. Eine mögliche Lösung erschloss sich mir letztens im Garten. Angst ist eine starke Triebfeder. Ich schätze, die Angst um mir liebe Menschen würde mich zu allem möglichen befähigen. Was könnte schlimmer sein als der Tod des Ehemannes, eines Kindes? Ich rede wie die Blinde von der Farbe, denke aber, dass man den Tod anderer „überlebt“. Nicht unbedingt unbeschadet, vielleicht noch nicht einmal besonders intakt. Aber danach wäre noch immer Dagmar da.
Was aber, wenn es um den Verlust meiner eigenen Identität ginge? Stünde sie auf dem Spiel, wäre ich ebenfalls zu allem bereit – und noch dazu wäre mir alles egal. Wie kann ich sie verlieren? Indem ich mich abhängig mache von der Meinung anderer, mich definiere über die Meinung anderer. Menschenfurcht nennt Gott das wohl. Überlasse ich es Menschen und nicht Gott, mir meine Identität zuzugestehen – oder eben auch nicht -, dann werde ich zu deren Spielball. Die Furcht vor Verlust der Identität könnte Yoda also meinen. Der Weg dahin ist gepflastert mit Angst:
Angst
vor Ablehnung,
Angst vor Be- oder Verurteilung,
Angst, mich zu
blamieren,
Angst, ein schlechtes Bild abzugeben,
Angst, nicht
dazuzugehören,
und so weiter und so fort.
Diese Ängste verleiten mich zu Lüge und Prahlerei oder zum Versteckspielen.
Ist meine Identität in Gott verankert, verblassen die Ängste und erübrigen sich die Umgehungs-Strategien. Gott nimmt mich an, liebt mich, gibt mir einen Wert.
„Menschenfurcht bringt zu Fall; wer sich aber auf den Herrn
verlässt, wird beschützt.“
Sprüche 29, 25
Vielleicht hat Yoda das nicht gemeint, aber so kann ich ihn verstehen.
Ein gefühlter Verlust
Der amerikanische Theologe Eugene Peterson ist gestorben. Eine Meldung im Netz, in einer deutschen Zeitung werde ich sie nicht finden. Für mich ist es mehr als eine Meldung, die das Ende eines Lebens markiert. In mir löst die Nachricht seines Todes ein Gefühl des Verlustes aus, obwohl ich Eugene Peterson nicht persönlich gekannt habe. Ich bin traurig über seinen Tod. Seine Bücher begleiten mich seit Jahrzehnten und haben mich herausgefordert und geprägt. Von ihm habe ich mich verstanden gefühlt wie von einem guten Freund. Er hatte die Gabe, theologisch Abstraktes zu durchdringen und verständlich zu formulieren. Dadurch habe ich die Bibel besser verstanden und Hilfen bekommen, meinen eigenen Glauben praktisch werden zu lassen.
Auch zu seinen Lebzeiten bin ich ihm nur in seinen Büchern begegnet, daran wird sich nichts ändern. Dennoch trauere ich, als wäre sein Tod ein tatsächlicher Verlust für mein eigenes Leben. Ist das komisch? Es gab keine Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen. Ich bin nicht sicher, ob er meinen Brief an ihn diesen Sommer bekommen und gelesen hat. Wahrscheinlicher ist, dass er gar nichts von mir wusste. Unsere Bekanntschaft war absolut einseitig. Dennoch fühlt es sich an, als wäre ein „Freund“ von mir gestorben.